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Interview mit Tobias Ginsburg „Der Hass ist normal“

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Im Gespräch: Der Autor Tobias Ginsburg
Im Gespräch: Der Autor Tobias Ginsburg (Quelle: Jean-Marc Turmes)

Belltower.News: Herr Ginsburg, für Ihr neues Buch haben Sie sich mit dem organisierten Antifeminismus in Deutschland, den USA und Polen beschäftigt, sind mit Nazi-Rappern herumgereist und haben Incels kennengelernt. Was war der denkwürdigste Moment Ihrer Recherche?
Tobias Ginsburg:
Wenn man so einer seltsamen Beschäftigung nachgeht wie ich es tue – also sich bei Menschenfeinden und Rechtsextremen einschleust – gibt es jede Menge unheimliche Anekdoten, die in Interviews klasse klingen: zum Beispiel, wenn die Nazis an meiner Identität zweifeln und ich fast auffliege. Aber die Geschichten, die mich dann wirklich länger beschäftigen, die ich immer noch in meinen Knochen spüre, sind eher die kläglichen und traurigen Momente.

Zum Beispiel?
Der Moment, wenn du begreifst, was für normale, verzweifelte, kaputte Menschen in dieses extremistische Fahrwasser abdriften, ohne es zu begreifen. Der Moment, wenn ein sozial isolierte Junge, von seinen tristen Geschichten weg zu kryptofaschistischen Brandreden anhebt, oder wenn ein kleiner Nazi-Rekrut noch nicht mal versteht, was Rassismus ist, und dass er gerade zum eingefleischten Neonazi wird. Wir beschäftigen uns ja viel mit Extremismus, und dem gesellschaftlichen Schaden, den er anrichtet. Das Brutale von diesem Blick hinter die Kulissen ist aber zu erfahren, dass die ersten Opfer dieser Menschenverachtung ganz oft jene Menschen selbst sind, die in dieses Sumpfgebiet hineinstolpern.

Polen hat eines der striktesten Abtreibungsgesetze Europas: Jegliche Abtreibung soll zukünftig als Mord gelten, selbst wenn der Fötus Resultat einer Vergewaltigung ist oder das Austragen das Leben der Betroffenen gefährden würde. Wie konnte es dazu kommen, wer sind die Kräfte hinter dieser Kampagne?
Es gibt ja Berichterstattung über die Geschehnisse in unserem Nachbarland, natürlich: Ein Drittel des Landes bezeichnet sich mittlerweile als „LGBTQ-freie Zonen“, nun versuchen reaktionäre und faschistische Kräfte, Abtreibungsversuche als Mord zu handhaben. Aber in der deutschen Presse klingt das immer so, als sei der seltsame Katholizismus der Polen und Osteuropäer der Grund für solche Entwicklungen. Als sei der Kampf gegen die Rechte von Frauen und queeren Menschen eine Merkwürdigkeit: „Uns kann das ja nicht passieren, die da drüben ticken irgendwie simpler als wir“. Und das ist so falsch wie gefährlich.

Warum?
Meine Frage war ja: wieso richten sich die Kämpfe der extremen Rechten, auch historisch, so oft zuerst gegen Frauen und Queere? Und dann gegen weitere Minderheiten, bis man die große Attacke fährt? In Polen, genau wie in Russland, Brasilien oder Ungarn, sieht man, was passiert, wenn das zur Staatsraison wird. Es handelt sich um eine Taktik, und die ließ sich in den letzten zehn Jahren während des großen Erstarkens der radikalen Rechten auch in Deutschland, den USA, Quatsch, auf der halben Welt beobachten: Mit einer Rhetorik gegen Abtreibungen, Feminismus oder „Genderideologie“ erreicht man eine riesige Menge an Menschen, die bereit ist, da mitzugehen. Es handelt sich um Punkte der Agitation, mit denen man gekränkte Männer zu Kriegern machen kann, diffuse Werte von Tradition, Familie bespielt und dieser ungreifbaren Vorstellung eines irgendwie besseren „Früher“.

Einer der treibenden Akteure hinter den antifeministischen und queerfeindlichen Kampagnen in Polen ist die christlich-fundamentalistische Gruppe „Ordo Iuris“. Was steckt hinter dieser Organisation?
Bei den ganzen rechtsextremen Offensiven der letzten vier, fünf Jahren in Polen – ob „LGBTQ-freie“ Zonen, die „Gerichtsreform“, das Abtreibungsverbot oder jetzt der Versuch, Abtreibung juristisch als Mord zu behandeln – agiert der rechtsextreme Verein „Ordo Iuris“, der als juristischer „ThinkTank“ firmiert, im Hintergrund, teils direkt als Architekt der Gerichtsentwürfe. Es handelt sich um eine große Organisation mit dutzenden angeschlossenen Anwaltskanzleien, Verbindungen in die Regierung, ans oberste Gericht, die Ministerien und Regionalverwaltungen: also ein bestürzend einflussreiches Institut. Einer ihrer Mitgründer ist die weltweit aktive, christlich-fundamentalistische Sekte TFP („Brasilianische Gesellschaft zur Verteidigung von Tradition, Familie und Privateigentum“), die auch in Deutschland tätig ist. Das Institut ist also tatsächlich ultrareligiös, aber nicht aus Überzeugung. Religiosität wird vor allem genutzt, weil es eben als Instrument funktioniert. Gerade arbeitet „Ordo Iuris“ mit Anti-Impf-Rhetorik – man bespielt alles, was irgendwie die Menschen agitiert.

Wie ist „Ordo Iuris“ international vernetzt?
„Ordo Iuris“ ist in ein internationales Netzwerk aus reaktionären Kräften eingebettet, das von US-amerikanischen Evangelisten bis Kreml-nahen Oligarchen reicht. In den letzten zehn Jahren fand eine zunehmende Öffnung der rechten, religiösen Sphäre hin zu rechtsextremen und ultrakonservativen Akteuren statt. Beispiel dafür ist der „World Congress of Families“, ein jährliches Schaulaufen der religiösen Rechten, zu dem zusehends einflussreichere Politiker:innen und Regierungsmitglieder:innen aus aller Welt auftauchen. Die extreme Rechte trifft hier auf Fundamentalisten, und es wird zusammengearbeitet.

Und Sie haben dieses Netzwerk infiltriert?
Ja, mir wurde die Arbeitsweise von „Ordo Iuris“ aus erster Hand erklärt: Ich konnte mich als vermeintlicher AfD-Männerrechtler mit Geld und Einfluss bei ihnen einschmuggeln und man erklärte mir gerne, wie man gegen den vermaledeiten Feminismus und die Degeneration des Westens vorgehen könne. Nur darum ging es. Religion, Tradition sind dafür nur attraktive Instrumente. Es geht um Strategie und Metapolitik: wie kann man das Netzwerk ausbauen und zu einer quasi-faschistischen Regierungsform zurückkehren? Mit anderen Worten: Es ist die gleiche Lingo, die wir auch aus Deutschland kennen. Die ideologischen Unterschiede zur deutschen „Neuen Rechten“ sind minimal, in Polen hat „Ordo Iuris“ aber einen direkten Einfluss auf die Regierung. Die Verschwörungsnarrative haben sich eben weltweit angeglichen, ob in Boston, Bautzen oder Warschau, die Diskurse ähneln sich immens. Und auch die fundamentalistischen Netzwerke im Hintergrund sind in Deutschland aktiv. Das brutale ist der Willen dieser Kräfte, sich zu vernetzen.

Ihre Beschreibungen der Angriffe polnischer Neonazis auf queere Aktivist:innen gehen ganz schön unter die Haut. Während Neonazis die Pride-Demonstration attackieren, konzipieren Vertreter des christlichen Fundamentalismus Hochglanz-Broschüren zur Bedrohung der Translobby. Wie ist die Lage im Land momentan für queere Menschen?
Es spricht nicht für mich, dass es für mich leichter war, mich in Neonazi-Netzwerke einzuschmuggeln, als mit den polnischen feministischen und queeren Aktivist:innen zu sprechen. Damit komme ich deutlich schlechter klar. Mein Kontakt zu den Leuten ist geprägt von Demut und Bewunderung: Ich begebe mich als ideologischer Katastrophentourist in Gefahr, aber kehre nach getaner Arbeit und abgeschlossenem Abenteuer zurück in meine Sicherheit. Diese Leute haben diese Sicherheit nicht! Ich weiß von Menschen, die nicht mehr sicher auf die Straße gehen können oder die das Land verlassen müssen, weil die Bedrohungssituation zu groß ist. Andere Leute bleiben trotzdem dort, ich bewundere das sehr.

Und trotzdem ist die Situation in Polen gar nicht so weit weg von uns…
Vor zehn Jahren wäre diese Situation in Polen nicht denkbar gewesen! Es ist weniger ein Schritt zurück als ein Schritt in eine andere Art politischer Realität. Wir sehen das ja: es geht den reaktionären Kräften nicht um das Abtreibungsverbot. Den ausgezeichnet bezahlten, jungen Mitarbeiter*innen des Instituts geht es nicht darum „ungeborenes Leben“ schützen. Es geht ihnen um Taktiken, es ist ein langsames Zerschlagen von Menschenrechten und Freiheiten. Auch die Verschärfung des Abtreibungsverbot ist ein Instrumentarium auf dem Weg in eine Dystopie.

Wie erklärt sich dieser Hass?
Irgendwann war ich bei einem höheren Mitarbeiter von Ordo Iuris zum Abendessen geladen, und er sagte etwas sehr Bemerkenswertes: Der Hass auf Abtreibung, Queers, Migrant:innen, das sei nicht misogyn oder homofeindlich oder rassistisch, sondern „ganz normal“. Dieser Satz lag mir sehr schwer im Magen, denn auf perverse Art hatte er damit Recht. Für einen Großteil der Bevölkerung, ob in Polen, Deutschland oder den USA, gibt es diese alten Stereotypen, die man anzapfen kann. Intuitive Pseudo-Wahrheiten wie „Abtreibung ist schlecht, Tradition ist gut, Feminismus geht zu weit, Homosexualität ist degeneriert“, das sind tiefsitzende, verinnerlichte Ressentiments, die reaktionäre Akteure leicht bespielen können, ohne dass Leute verstehen, dass das auch immer der erste Schritt antidemokratischer Maßnahmen ist.

Auch Texas hält an seinem Abtreibungsgesetz fest, das besagt, dass ungewollt Schwangere Föten „ab dem ersten Herzschlag“ nicht abtreiben dürften. Dieser tritt mit sechs Wochen auf, viele wissen zu dem Zeitpunkt in der Regel nichts von einer Schwangerschaft. Auch Opfer von Vergewaltigungen sollen nicht mehr abtreiben dürfen. Abtreibungsgegner:innen fantasieren von einer Todesstrafe für Abtreibungsärzt:innen...
Das, was in den USA passiert, ist eine Lektion in Antidemokratie. Die letzten vier Jahre des kryptofaschistischen Trumpismus wurden als „Ausreißer“ abgetan, den man jetzt durch die Abwahl wieder unter Kontrolle gebracht hätte. Aber der Angriff auf das Gerichtsurteil Roe vs. Wade, das Frauen in den USA das Recht auf Abtreibung gibt, zeigt auf, was da eigentlich passiert ist. Auch das Pathologisieren Trumps Übergriffigkeit, seines Frauenhasses, seines Rassismus, also zu behaupten, er wolle bloß provozieren oder hätte „nur“ ein „persönliches“ Problem mit Feministinnen oder Schwarzen, ist falsch. Denn es geht um die Grundlage. Der Kampf gegen die Demokratie geht weiter, und auch hier wieder gegen die Rechte von Frauen. Mir gruselt auch davor, wie es zur nächsten Wahl aussieht, die Grundsteine sind gelegt. Wir merken, wie dünn und zerbrechlich unsere fortschrittlichen Errungenschaften sind. Sie geben uns ein Gefühl von Sicherheit, aber diese ist nicht gegeben. Nur weil wir viel erreicht haben, bedeutet das nicht, dass es wahnsinnig schnell wieder zerstört werden kann.

Woran ist dieser antifeministische Backlash zu verorten?
Wir wissen, dass viele Menschen, vor allem Männer, panische Angst davor haben, ihrer Privilegien beraubt zu werden. Ob das nun stimmt, da wir eine Gesellschaft größerer Teilhabe werden, oder imaginiert ist: „Mit Gender-Sternchen will dir jemand deinen Pimmel klauen“. Es gibt immer dieses Versprechen: in einer idealen Welt müsstest du eigentlich mächtig sein. Und das Andere, also das weibliche, nichtweiße, queere, nimmt diese vermeintliche Vorherrschaft weg. Es ist auch diese seltsame Verbindung von Männlichkeit und Nation: Wenn du wieder ein starker, harter Mann wärst, dann wäre auch dieses Land wieder mächtig und stark. Es ist auch diese seltsame Verbindung von Männlichkeit und Nation: Wenn du wieder ein starker, harter Mann wärst, dann wäre auch dieses Land wieder mächtig und stark. Deswegen sind Männer wie Trump oder Orban auch Identifikationsfiguren: obwohl sie unglaublich reich und mächtig sind, suggerieren sie, „einer von uns“ zu sein. Trump-Anhänger können sich mit Trump identifizieren, da sie denken: „Wenn ich erstmal so erfolgreich bin wie der, darf ich Frauen auch an die Pussy grabben und auf 24-Karat-Toiletten hocken“.

Ein düsteres Bild. Doch was können wir gegen diese Entwicklung tun?
Es muss hier um zwei Sachen leben. Einmal geht es um eine Aufklärung gegen diese Strukturen. Ich bin dankbar, in einem Land zu leben, in dem der Großteil der Bevölkerung Aussagen wie „Wir sind gegen Nazis“ für selbstverständlich hält. Aber solange wir nicht wissen, worüber wir genau sprechen, wie Ideologie und Glaubensgrundsätze dieser Menschen aussehen – solange ist dieser Satz leider leer. „Wehret den Anfängen“ ist ein toller Satz, aber wenn wir nicht wissen, woran Oma und Opa geglaubt haben und wie eine offensive gegen die Demokratie aussieht, dann haben wir leider verloren. Auf der ganzen Welt werden gerade Kampagnen gefahren, die Feminismus zum Feind machen, „Homo- und Translobbys“ erfinden, die „uns“ degenerieren und zerstören würden. Und viele Menschen verstehen nicht, dass das genau sowas die Anfänge sind. Dann steht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wieso die Translobby unsere Kinder und Heterosexualität gefährdet. Wenn wir uns das vor Augen führen, dann klingen die netten Phrasen gegen rechts hohl.

Und die zweite Sache?
Die zweite Sache ist die: So Sätze wie „Frauenrechte oder Transrechte sind Menschenrechte“ müssen sehr ernst genommen werden. Auch das muss mehr als ein Mantra sein. Mit der Agitation gegen Frauen, Feminist:innen und Queere erreicht man eben auch die sogenannte bürgerliche Mitte, aber diese Agitation ist nur der Einstieg. Damit lässt sich eben das Gefühl vermitteln, jede progressive Bewegung sei eine potentielle Bedrohung und der Kampf gegen Menschenrechte ein adäquates Mittel. Es geht hier nicht weniger als um unsere Freiheit und den Erhalt von Demokratie, und ich weiß nicht, ob das den Leuten klar ist. Stattdessen diskutiert man darüber, ob die „woke Cancel Culture“ nicht zu weit geht und wir alle zu sensibel werden – während antidemokratische Kräfte daran arbeiten, das System zu sprengen. Und das ist lebensgefährlich.

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„Incel“ steht für „involuntary celibate“ – zu Deutsch „unfreiwillig zölibatär“. So heißt eine globale Online-Community, in der Zehntausende frustrierte junge Männer ihrem grassierenden Frauenhass freien Lauf lassen. Die Autorin Veronika Kracher hat die Szene in ihrem am 6. November 2020 erscheinenden Buch „Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ genauer untersucht. Im Gespräch mit Belltower.News erzählt sie, warum Antifeminismus die Einstiegsdroge in rechtsradikales Denken ist, Incels oft an Selbsthass leiden und die Incel-Szene lediglich die Spitze des patriarchalen Eisbergs ist.

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