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Interview „Verschwörungsmentalität ist ein Krisensymptom“

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Eine auf beiden Seiten von Wändern begrenzte Unterführung, die mit Graffiti besprühte ist, in schummerigem Licht.
(Quelle: Unsplash)

Im Rahmen des Projektes Debunk – verschwörungstheoretischem Antisemitismus entgegentreten veröffentlicht die Amadeu Antonio Stiftung zusammen mit dem Else-Frenkel-Brunswik-Institut die Broschüre Radikalisierung oder Pubertät?, die sich mit Verschwörungsmentalität bei Jugendlichen auseinandersetzt. Einen Auszug aus der Broschüre über Jugendliche Verschwörungsinfluencer*innen gibt es hier. Wir haben mit zwei der Autor*innen gesprochen.

Clara Schliessler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Else-Frenkel-Brunswik-Institut und forscht zu Verschwörungsmentalität, Antisemitismus und politischer Partizipation.

Benjamin Winkler leitet die Zweigstelle der Amadeu Antonio Stiftung in Sachsen. Er ist politischer Bildner mit dem Themenschwerpunkt Verschwörungsmentalität.

Belltower.News: Warum wenden sich Jugendliche Verschwörungserzählungen zu?
Clara Schliessler: Denkt man an die eigene Jugend zurück, dann erinnert man sich vielleicht an die Faszination für geheimnisvolle und unwahrscheinliche Geschichten oder, wie man sich in manchen Themen richtig verlieren konnte. Die Jugend ist lebensgeschichtlich eine sehr besondere Phase – eine Übergangsphase im Leben, in der sich unheimlich viel ändert. Auf körperlicher, sozialer und auch auf gesellschaftlicher Ebene. Man könnte sagen, die Jugend ist eine Krisensituation. Und Verschwörungsmentalität kann als Krisenphänomen, als Symptom einer Krise verstanden werden. Die Krise ist nicht alleine entscheidend, aber sie bietet einen fruchtbaren Nährboden für Verschwörungsglauben.

Wichtig ist: Jugendliche sind nicht einfach unreif oder dumm und wenden sich deshalb Verschwörungserzählungen zu, denn die haben erstmal wenig mit Intelligenz zu tun.

Aktuell bewegen wir uns von einer Krise in die nächste. Hat diese Ballung einen Einfluss auf Verschwörungsglauben?
Clara Schliessler: Verschwörungsmentalität kann als individuelles Krisensymptom verstanden werden, aber auch als Symptom der Gesellschaft, wie sie jetzt funktioniert – und zwar krisenhaft. Es sind auch strukturelle und materielle Bedingungen, also reale gesellschaftliche Probleme, die die Grundlage für Verschwörungsmentalitäten bilden. Bei Personen, die zum Beispiel das Gefühl haben, keine politische Teilhabe in der Gesellschaft zu haben, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie sich Verschwörungsglauben zuwenden. Auch die Erfahrung von materiellem Mangel führt vermehrt zu Verschwörungsmentalität. Das ist also eng verbunden mit strukturellen Problemen wie sozialer Ungleichheit, zu wenig Handlungsfähigkeit und daraus resultierenden Ohnmachtsgefühlen.

Benjamin Winkler: Auch historisch kann man sehen, dass in Umbruchsituationen, in revolutionären Zuständen, in Kriegen oder Katastrophen, Verschwörungserzählungen Konjunktur haben. Menschen versuchen, sich das Geschehen, über das sie keinen Überblick haben, zu erklären. Insofern ist das heutige Aufkommen von Verschwörungsmentalitäten nichts Neues, auch wenn man anders mit diesen Unsicherheiten in Umbruchssituationen umgehen könnte.

Welche Umstände machen es wahrscheinlicher, dass Jugendliche sich Verschwörungsglauben zuwenden?
Clara Schliessler: Es gibt Korrelationen mit dem Bildungsgrad, allerdings vor allem indirekt, weil höhere Bildung zu einem größeren Gefühl von Kontrolle über das eigene Leben führt. In Deutschland hat der Bildungsgrad der Eltern immer noch große Aussagekraft über den der Kinder und damit auch darüber, wie gut die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind und auch wie groß das Kontrollgefühl über das eigene Leben insgesamt ist. Jugendliche, die in materiell prekären Verhältnissen aufwachsen und ihrer Familie wenig Handlungsfähigkeit erleben, sind in dieser Hinsicht vulnerabler.

Benjamin Winkler: Kinder, die in autoritären Familien aufwachsen, gehen leider selten in Widerspruch zu den Einstellungen der Eltern, sondern übernehmen viele dieser Grundgedanken. Wenn Eltern beispielsweise bei der AfD aktiv sind, sind die Kinder häufig in der Identitären Bewegung oder bei Querdenken oder ähnlichen Initiativen engagiert. Sowohl rechtsautoritäres Gedankengut als auch Verschwörungsideologien werden leider oft über diese primäre Sozialisation weitergegeben.

Bisher fanden Umbrüche und Krisen meist noch ohne Soziale Medien statt. Wird durch sie der aktuelle Trend noch bestärkt?
Clara Schliessler: Wir machen eher die These stark, dass die sozialen Medien nicht der ausschlaggebende Faktor für einen Glauben an Verschwörungen sind. Es stimmt, dass sich Verschwörungserzählungen einfacher und schneller verbreiten, aber ob Menschen diese glauben, ist eine andere Frage. In dem Verständnis, dass die Medien schuld seien, wird ausgeblendet, dass da Subjekte sind, die etwas mit den Informationen machen, mit denen sie konfrontiert werden. Zu Verschwörungsmentalitäten wird man nicht verführt wie ein unschuldiges Lamm, sondern es gibt eine Motivation, an Verschwörungserzählungen zu glauben. Das ist zum Beispiel der Unterschied zu Falschnachrichten. Die lassen sich einfach entkräften. Aber wenn es eine psychische Funktion hat, an Verschwörungen zu glauben, dann kann man noch so oft mit Gegenbeweisen kommen, der Glaube bleibt davon relativ unberührt.

Welche Rolle hat die Pandemie gespielt?
Benjamin Winkler: Gerade in der Pandemie wurden die sozialen Medien genutzt, um eine Pseudo-Gemeinschaft herzustellen. Dass Jugendliche sich virtuelle Communitys suchen, gerade in Zeiten von Lockdowns und Schulschließungen, ist sehr nachvollziehbar und diese sozialen Räume sind nicht immer toxisch. Aber dass Jugendliche auf dieser Suche dann auch mit Verschwörungserzählungen konfrontiert werden, sieht man zum Beispiel an den „Youngsters. Das ist eine Telegram-Gruppe des Corona-Leugners Samuel Eckert, die sich explizit an Kinder und Jugendliche richtet. Eckert nutzt Minderjährige für seine propagandistischen Zwecke aus. Die Freilernen-Community ist ein weiteres Beispiel. Für die Akteur*innen, die verschwörungsideologische Inhalte verbreiten wollen, hat die Pandemie und die Isolation von Jugendlichen günstige Ausgangsbedingungen geschaffen.

Jugendliche sind besonders auf der Suche nach solchen gemeinschaftsstiftenden Effekten …
Clara Schliessler: Ja, Jugendliche versuchen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Sie verlassen die familiäre Sphäre, bekommen neue Rechte und Pflichten, auch juristisch werden sie eigenständige Mitglieder der Gesellschaft. Es findet eine Emanzipation von den Eltern statt, aber auch eine Anpassung an die gesellschaftliche Sphäre. Es gibt einerseits eine große Verletzlichkeit, weil das Alte wegbricht und das Neue noch nicht da ist. Andererseits gibt es auch eine unheimliche Energie, die plötzlich da ist und einen großen Wissensdurst. Jugendliche tendieren dazu sich zu überschätzen, sind zeitweise größenwahnsinnig, aber zugleich auch sehr zerbrechlich. Verschwörungserzählungen können das Gefühl vermitteln, auf etwas ganz Besonderes, Unglaubliches zu stoßen, vielleicht eine von wenigen Personen zu sein, die das erkennen. Das kann in der Pubertät besonders ansprechend sein. Die Frage ist dann, inwieweit das eine Phase des Ausprobierens, des sogenannten Probehandelns bleibt und unter welchen Bedingungen es sich als Verschwörungsmentalität verfestigt. Wenn Jugendliche dann auf solche verschwörungsideologischen Communitys treffen wie Samuel Eckerts „Youngsters“, dann kann das die Art von Gemeinschaft und Resonanz für diesen Glauben bieten, die zu einer Verfestigung führen – und da liegt die Gefahr.

Für die Identitätsbildung spielen solche Gemeinschaftserfahrungen ja vermutlich auch eine große Rolle, oder?
Benjamin Winkler: Ein markantes Beispiel dafür wurde auf einer Bustour sichtbar, bei der unter anderem Bodo Schiffmann, Samuel Eckert und andere Corona-Leugner*innen durch Deutschland gefahren sind, ihre Inhalte verbreitet und das parallel über die sozialen Medien vermarktet haben. Bei den Kundgebungen auf dieser Tour traten auch immer wieder Jugendliche ans Mikrofon und berichteten, wie schwer die Pandemie-Zeit für sie war. Für die Jugendlichen ist das natürlich ein einschneidendes Erlebnis und ein tolles Gefühl, ihre Erfahrungen so zu verarbeiten und dabei so viel Zuspruch und Anerkennung von Erwachsenen zu bekommen. Das wird von Verschwörungsideolog*innen schamlos ausgenutzt, indem sie diese Minderjährigen als Stimmungsmacher auf Kundgebungen einsetzen.

Ist die Schule der Ort, an dem die Entwicklung zu einer geschlossenen Verschwörungsmentalität hin aufgebrochen werden kann?
Clara Schliessler: Im Idealfall kann Schule dieser Ort sein. Gerade wenn Jugendliche mit verschwörungsgläubigen Eltern aufwachsen, dann ist ein sozialer Kontext und ein Lernumfeld, in dem ihnen andere Weltdeutungen nahegebracht werden, wichtig. Aber im Schulkontext kann auch das Gefühl entstehen, sich im Widerstand zur großen Masse zu befinden und dadurch noch im Verschwörungsglauben bestärkt zu werden.

Welche Rolle spielt politische Bildung, um Verschwörungsmentalitäten bei Jugendlichen entgegenzuwirken?
Benjamin Winkler: Von Lehrkräften und Sozialarbeiter*innen aus gibt es oft diese Erwartungshaltung: Erzählt uns, wie wir Jugendliche davon überzeugen können, dass Verschwörungserzählungen Mist sind und sehr gefährlich. An der Stelle ist es wichtig, auch sich selbst zu reflektieren. In der Auseinandersetzung mit Verschwörungserzählungen gibt es eine Art Schwarz-Weiß-Denken: Auf der einen Seite gibt es Menschen, die an so etwas glauben und die sind automatisch böse, während diejenigen, die nicht an so etwas glauben automatisch gut sind. Ein solches Gut-Böse-Schema ist für Verschwörungserzählungen selbst prägend. Politische Bildung muss vermeiden, das Problem an bestimmte Gruppen oder Personen auszulagern, und es stattdessen als Phänomen begreifen, das in unserer Gesellschaft existiert und sowohl individuelle als auch kollektive Funktionen erfüllt.

Welche Funktionen sind das?
Benjamin Winkler: Zum Beispiel der identitätsprägende Charakter von Verschwörungsmentalität oder das emotionale Verarbeiten von Krisensituationen. In Workshops zeigt sich, dass die meisten Teilnehmer*innen in ihrer Jugend an die eine oder andere Verschwörungserzählung geglaubt haben und dass viele immer noch an mindestens eine solche Erzählung glauben. Der Klassiker sind Verschwörungsnarrative, die sich um die Ermordung John F. Kennedys drehen. Durch diese empathische Annäherung können Pädagog*innen die Jugendlichen besser verstehen und dadurch letztlich besser dabei unterstützen, kritisch mit solchen Erzählungen umzugehen. Wir haben auch ein Online-Tool entwickelt, mit dem jede*r Verschwörunsgerzählungen, auf die er*sie gestoßen ist, kritisch auf ihre Wahrscheinlichkeit hin befragen kann: den Verschwörungschecker.

Es geht also darum, die Funktionsweisen von Verschwörungserzählungen zu verstehen und die Jugendlichen darüber aufzuklären?
Benjamin Winkler: Ja, aber ich würde auch sagen, dass politische Bildung noch mehr leisten muss als diese Aufklärung und Selbstreflexion. Es muss auch klar werden, dass Verschwörungsglaube großen Schaden in der Gesellschaft anrichtet, dass er zu krassen Gewalttaten führen kann. Ein erschütterndes Beispiel ist ein Fall aus Königs Wusterhausen vor zwei Jahren: Ein Familienvater ermordete seine Frau, seine Kinder und sich selbst, weil er so tief in eine verschwörungsideologische Blase eingetaucht war, dass er wahnhafte Angst davor hatte, dass das Jugendamt ihm seine Kinder wegnimmt, und die Morde als einzigen Ausweg sah. Daran wird exemplarisch deutlich, dass die ersten Opfer obsessiver Verschwörungsgläubigkeit meist im nahen Umfeld sind. Aber wir müssen auch über den Antisemitismus in Verschwörungserzählungen sprechen und die Gefahr für Jüdinnen und Juden, die daraus entsteht. Oder über die Gefahren für Vertreter*innen der Presse und über die Verbindungen zum Antifeminismus, die dazu führen, dass vor allem Frauen, die sich gegen Verschwörungsideologien aussprechen, extrem viel Hass entgegenschlägt.

Clara Schliessler: Politische Bildung muss auch zu realitätsbezogener Gesellschaftskritik befähigen. Es ist wichtig zu erkennen, dass Verschwörungsmentalität als Scharnier zwischen verschiedenen antidemokratischen Ressentiments fungiert und deshalb auch spezifisch bei Jugendlichen aufmerksam dafür zu sein.

Zugleich kann Verschwörungsglaube in der Jugend aber auch eine Auseinandersetzung mit dem sein, was in der Welt um einen herum geschieht. Es ist Neugier, die Dinge verstehen und hinter die Kulissen schauen will. Und das kann man erstmal auch als positiven Ansatzpunkt nehmen. Jugendliche sind „politische Seismographen“, sie sind sensibel für Missstände, da sie gerade erst in die Gesellschaft hineinwachsen. Ein Problem wird es, wenn sie die Gesellschaft nur in verkürzter Art und Weise kritisieren können. Deshalb muss man ihnen Analysewerkzeuge an die Hand geben, mit ihnen gemeinsam den Fragen nachgehen: Wie kann man die Welt auch anders verstehen? Was sind die strukturellen, die politischen und ökonomischen Mechanismen, die hier wirksam sind?

Was muss sich ändern, damit diese Aufgaben gut erfüllt werden können?
Benjamin Winkler: Politische Bildung darf keine Feuerwehr-Politik sein, bei der nur auf akute Probleme reagiert wird, sondern sie muss institutionell eingebunden sein. Es braucht genügend Raum, Zeit und Ressourcen, um sowohl in der Schule als auch außerhalb gute politische Bildungsarbeit zu ermöglichen. In der Schule betrifft das die Qualität des Politikunterrichts, aber auch fächerübergreifende Ansätze, die zum Beispiel in Formaten des Projektlernens umgesetzt werden könnten. Außerhalb der Schule geht es um Angebote in Bildungsstätten, in Verbänden und Vereinen. Auch hier geht es nicht nur um finanzielle Ausstattung, sondern auch um die Qualifizierung des Personals. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist für Teilnehmer*innen, aber vor allem auch für Leiter*innen politischer Bildungsarbeit wünschenswert. Es ist wichtig, Verschwörungsglauben nicht als ein Problem einer bestimmten, bösen Gruppe abzutun, sondern über den Tellerrand zu blicken und das gesellschaftliche Problem zu verstehen.

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