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Interview „Vorher waren es Rechte, die antisemitisch waren, jetzt Teile des linken Milieus“

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Ein Plakat war sichtbar, dass sich gegen Antisemitismus aussprach. (Quelle: KA)

Natan Sznaider ist 1954 als Kind einer Shoah-Überlebenden in Deutschland geboren und mit 20 Jahren nach Israel ausgewandert. Mit den Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung sprach der Soziologe über die Unmöglichkeit einer konstruktiven Antisemitismusdebatte, die Europäisierung der Erinnerungskultur und die Bedeutung von Ambiguitätstoleranz für jüdisches Leben in Deutschland.

Natan Sznaider ist 1954 als Kind einer Shoah-Überlebenden in Deutschland geboren und mit 20 Jahren nach Israel ausgewandert.

Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus: In den letzten Jahren wird offener und häufiger über Antisemitismus in der deutschen  Öffentlichkeit gesprochen und gestritten: Die Mbembe-Debatte, der BDS-Beschluss des Bundestags, die Initiative GG 5.3. Weltoffenheit, der sogenannte Historikerstreit 2.0 sowie zuletzt die zahlreichen antisemitischen Darstellungen auf der Documenta 15. Der Ton wird schärfer und gleichzeitig gibt es eine Art Müdigkeit, sich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen. Woher nehmen Sie die Kraft, weiter zu machen?

Natan Sznaider: Wer sagt denn, dass ich die Kraft habe, weiter zu machen?  Ich bin ein Beobachter von außen. Ein Beobachter aus Israel, wo Jüdischsein eine ganz andere Bedeutung hat als in Deutschland. Man kann diesen Debatten viel gelassener, vielleicht sogar gleichgültiger entgegensehen. Ich bin in Deutschland aufgewachsen und ich bin dabei mit einem viel offeneren Antisemitismus konfrontiert gewesen, als heute. Ich bin 1954 geboren und habe bis 1974 in Deutschland gelebt. Ich erinnere ein paar Schlüsselerlebnisse: Das Münchner Olympia-Attentat 1972 war für mich ein sehr konstitutives Ereignis. Zusammen mit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 war es vielleicht einer der Gründe, warum ich aus Deutschland weggegangen bin.

Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

1972 bei der Olympiade war ich knapp 18 und bewegte mich in linken K-Gruppen. Dann war das Attentat und ich beobachtete gerade in meinem nicht-jüdischen Umfeld eine gewisse Freude, wenn nicht sogar Schadenfreude oder sogar Zufriedenheit über das, was passiert ist. Gleichzeitig hat der Rabbiner von Mannheim darum gebeten, in der Synagoge für die Sicherheit der Sportler und Sportlerinnen zu beten, was ich auch gemacht habe. Das ist in meinem Umfeld auf großes Unverständnis gestoßen. Das war ein sehr einschneidendes Erlebnis. Dann kam 1973 der Jom-Kippur-Krieg und da war für mich klar, dass ich nicht in Deutschland bleiben möchte und nach Israel auswandere.

Wie beurteilen sie die Situation heute, 50 Jahre nach dem Olympia-Attentat?

Der Antisemitismus war nie weg. Das Gerede davon, dass Antisemitismus in Deutschland keinen Platz habe, was man jetzt gerade auch im Umfeld der Documenta hört, ist eigentlich nichts Anderes als rituelles Gehabe. Man sagt das, weil man es sagen soll.

Sie sagten, Antisemitismus wurde früher offener gezeigt. Wir beobachten allerdings eine qualitative Veränderung, gerade im Kontext des Historikerstreits 2.0 und nehmen die Angriffe auf die Erinnerungskultur in einer anderen Intensität wahr. Wie würden Sie das einordnen?

Das sehe ich auch so. Gewisse antisemitische Topoi sind wirklich legitim geworden und in der Öffentlichkeit sehr präsent. Das Problem ist, dass die Sprecher sich natürlich nicht als Antisemiten bezeichnen. Es gibt ja keine aufrechten, authentischen Antisemiten, die sich dazu bekennen. Das ist ja nicht legitim. Das heißt also, dass wir damit beschäftigt sind, mit einer Rhetorik des Verdachts zu arbeiten.

Was meinen Sie damit?

Wenn Sie etwa annehmen, dass etwas antisemitisch ist, aber von den Sprechern wird das anders gesehen. Dann müssen die Aussagen als antisemitisch rekonstruiert und dekonstruiert werden, was dann von der anderen Seite wiederum entrüstet abgelehnt wird. Und was macht man dann? Dann kann man schreiben, dass jemand ein Antisemit ist und die andere Seite schreibt, dass das eine Hetzkampagne und damit delegitimierend sei.

Haben Sie ein Beispiel für diese Rhetorik des Verdachts?

Man hat es jetzt gerade auf der Documenta wieder gesehen. Da sieht man also ein Bild von einem Soldaten mit Hakennase und einem Helm, auf dem ein Davidstern drauf ist, dem von einer Frau zwischen die Beine getreten wird. Das Künstlerkollektiv Ruangrupa sagt, das sei eindeutig nicht antisemitisch. Eindeutig nicht antisemitisch, weil es nicht den Juden als eine abstrakte Figur darstellt. Denn es geht hier um die israelische Besatzung.

Man könnte ihnen entgegnen, dass sie in der Tradition des sowjetischen Agitprop solche Bilder im antiimperialistischen Kampf nutzen, die sich ganz klar antisemitischer Topoi bedienen. Und Ruangrupa sagt dann wiederum, das habe mit Antisemitismus nichts zu tun. Das sei Antiimperialismus, der sich gegen Israel und nicht gegen die Jüdinnen und Juden per se richtet. Und der israelische Staat sei ja bekanntlich ein europäischer, weißer Kolonialstaat und deswegen nicht legitim. So steht man sich gegenüber.

Und dann?

Wenn ich mir als Jude die antisemitischen Darstellungen auf der Documenta anschaue, frage ich mich: Bricht man das Gespräch ab? Man kann die Leute ja nicht zu ambiguitätstoleranten Menschen erziehen. Aber was macht man mit denjenigen, die aus den Ländern des sogenannten globalen Südens auf die Documenta kommen und keine Probleme mit einer Boykottbewegung gegen Israel haben oder die annehmen, dass in Israel Apartheid herrscht? Das sagen mitunter ja auch israelische Menschenrechtsorganisationen oder Tageszeitungen wie Haaretz. Das heißt, der Vorwurf, dass Israel ein Apartheidstaat sei, hat sich eine gewisse Legitimität in einem größer werdenden Milieu verschafft. Und das zeigt sich eben auf der Documenta.

Wie gehen Sie persönlich mit diesen Angriffen aus dem Kultur-Milieu um?

Es ist ein ähnliches Gefühl wie 1972, als mein Umfeld damals dachte, es wäre unheimlich cool, was die palästinensischen Terroristen mit den Israelis im Olympischen Dorf gemacht haben. Ich war entsetzt, das waren meine Freunde, mit denen ich sonst Bier getrunken habe. Ich war so entsetzt wie ich jetzt auf einer ganz anderen Ebene entsetzt bin: Einige meiner besten Freunde kommen aus dem Kultur-Milieu und unterstützen die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit.

Wie steht es um die Erinnerungskultur in Deutschland?

Erinnerungskultur ist nichts Statisches. Erinnerungskultur hört sich nach Denkmal an, nach Beten in der Woche der Brüderlichkeit und danach, dass Israels Sicherheit Deutschlands Staatsräson ist. Das ist klar. Aber das, was in der alten Bundesrepublik noch unter Tabu stand, das ist im neuen Deutschland nicht mehr tabuisiert. Es gibt immer mehr Menschen, die sich an der Erinnerungskultur beteiligen möchten. Es ist nicht mehr nur ein elitärer Prozess, der von der Politik ausgeht. Früher wurde Erinnerungskultur zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland und Politikern verhandelt. Da hat man sich bei Erinnerungsritualen gegenseitig versichert, wie verbunden man miteinander ist und dann ist man wieder nach Hause gegangen. Und jetzt erleben wir einen Prozess der Hyperdemokratisierung. Das heißt jeder darf mitreden. Das sieht man auch beim sogenannten Historikerstreit 2.0.

Woran machen Sie das fest?

Daran, dass wir im Grunde keinen Historikerstreit 2.0. haben. Der damalige Historikerstreit wurde in den Feuilletons zwischen Professor Jürgen Habermas, Professor Ernst Nolte und weiteren ausgetragen. Aber jetzt kann jeder mitreden. Erinnerung und die Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit hat ja auch etwas mit ethnischen Gruppen zu tun. Und in dem Moment, wo Deutschland sich entethnifiziert hat, entethnifiziert sich auch die Erinnerung.

Können Sie das näher ausführen?

Plötzlich partizipieren Menschen, deren Eltern und Großeltern nichts mit der Judenvernichtung zu tun haben. Daneben gibt es eine Kulturelite, die europäischer werden und sich aus dem deutschen provinziellen Denken befreien will. Aus der Europäisierung von Deutschland folgt, dass man sich an europäische Verbrechen erinnert, die nicht ausschließlich deutsch sind. Und dazu gehören natürlich die Kolonialverbrechen. Das ist eine Europäisierung der Erinnerung, bei der Schuld und Verantwortung anders gestrickt sind. Aber die Stolpersteine sind immer noch da. Das, was in Deutschland passiert ist, ist hier passiert. Es ging um Nachbarn und Freunde, mit denen man im täglichen Umgang zu tun hatte. Das rückt aber zunehmend aus dem Fokus.

Wie könnte denn ein kritischer Umgang damit aussehen?

Ich glaube nicht, dass Antisemitismus in irgendeiner Art wegzuerziehen ist. Antisemitismus ist da. Jüdische Menschen hier in Deutschland sollten sich eher auf sich selbst verlassen und nicht mehr an die nicht-jüdische Umwelt appellieren. Eine Expertenkommission auf die Documenta zu schicken ist Unsinn. Die Documenta zu schließen ist Unsinn. Die Rücktritte von irgendwelchen Leuten zu fordern ist Unsinn. Das Bild „People’s Justice“ wird zugehängt und abgebaut, weil man glaubt, dass man so den Antisemitismus zuhängt und abbaut. Auch das ist Unsinn. Das Bild hätte hängen bleiben sollen, das soll man sich ruhig anschauen.

Gibt es denn keine Grenze der Kunstfreiheit, auch nicht mit Blick auf Antisemitismus?

Ich kann Ihnen natürlich ein paar Klischees bedienen, wie es sich gehört, die Kunstfreiheit hört bei Antisemitismus und Rassismus und Angriffen auf die Menschenwürde auf. Das ist ja in diesem Zusammenhang total irrelevant. Kunstfreiheit geht ja von einer Konzeption der autonomen Kunst aus, wo der individuelle Künstler geschützt werden soll, Kunst zu machen. Das ist ja genau das, was die aktivistische Kunst auf der Documenta unterlaufen will. Sie sollen ruhig machen. Wir Juden wissen wenigstens, mit wem wir es in diesem Kulturbetrieb zu tun haben.

Wie können unter diesen Umständen Bündnisse zwischen Juden und Nichtjuden überhaupt funktionieren?

Ich glaube, gerade für uns Jüdinnen und Juden ist es wichtig, ein sehr intensives internes Gespräch zu führen, bevor man sich in Allianzen und Koalitionen mit nicht-jüdischen Menschen begibt. Man muss darüber sprechen, wie man mit Antisemitismus umgeht, ohne sich der Illusion hinzugeben, dass er sich aus dem öffentlichen Raum entfernen wird. Und ohne die üblichen Beteuerungen, dass es keinen Platz für Antisemitismus in Deutschland gibt oder dass es Antisemitismus nicht geben dürfe. Es gibt ihn und es hat ihn immer gegeben. Und er hat Platz in der deutschen Öffentlichkeit. Vorher waren es die Rechten, die offen antisemitisch waren, jetzt sind es meiner Meinung nach eher Teile des linken Milieus, das offen antisemitisch ist und dabei den argumentativen Umweg über Israel geht.

Wie erklären Sie sich, dass der Antisemitismus in jenen Teilen des linken Milieus gerade jetzt, 80 Jahre nach der Shoah, aufbricht und sich an Israel entlädt?

Es ist ein Problem des antirassistischen Antisemitismus, dass er den Antisemitismus-Vorwurf vollkommen von sich weist und glaubt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Er ist nicht mehr bereit für ein Gespräch, sondern nur noch bereit, Recht zu haben. Dieses sogenannte weltoffene Milieu ist eigentlich ein weltverschlossenes Milieu, weil es nur weltoffen gegenüber anderen Weltoffenen ist. Und sicher nicht weltoffen gegenüber den Bedürfnissen von jüdischen Menschen in Israel, die da auch um ihr Überleben kämpfen. Hätte man die Jüdinnen und Juden zu einer gewissen Zeit in Europa zufriedengelassen, wäre es wahrscheinlich gar nicht zu so einer Situation im Nahen Osten gekommen. Das ist eine Situation, die wegen der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern dieser Weltoffenen geschaffen worden ist.

Welche Bedrohung geht von dieser kontinuierlichen Präsenz von Antisemitismus für jüdisches Leben in Deutschland aus?

Es ist natürlich legitim, wenn Jüdinnen und Juden beschließen, weiter in Deutschland leben zu wollen. Aber meiner Meinung nach kann man sich auf die nicht-jüdische Gesellschaft nicht mehr verlassen. Wenn man als Jude in Deutschland und Europa lebt, muss man damit umgehen, dass man in einem antisemitischen Umfeld lebt. Das heißt nicht unbedingt, dass wieder die Züge rollen und dass man jetzt vernichtet wird. Überhaupt nicht. Aber es ist ein Umfeld, das Ressentiments gegen Juden als Juden hat.

Was folgt daraus?

Eine der Konsequenzen ist, dass man sich als Jude oder Jüdin in Deutschland vor allem mit anderen Juden und Jüdinnen umgibt. Ich sehe, dass Leute – in egal welchem Alter – keine Lust mehr haben, sich mit nicht-jüdischen Personen zu umgeben. Sie haben kein Vertrauen mehr. Da ist auch nichts Schlimmes dabei. Das ist keine Ghettoisierung, sondern hat vielmehr etwas mit kulturellem Selbstbewusstsein zu tun. Das heißt auch, dass man vielleicht freitagabends in die Synagoge geht, auch wenn man nicht religiös ist, sondern einfach, weil man mit einem jüdischen Umfeld zusammen ist. Das ist einer der Gründe, warum ich in die Synagoge gehe. Außerdem: Ich glaube nicht mehr an die Antisemitismusbekämpfung. Ich glaube nicht mehr, dass, wenn man das pädagogisch Richtige tut, Antisemitismus irgendwie zu bekämpfen ist. Ich glaube an Antisemitenbekämpfung, aber nicht mehr an Antisemitismusbekämpfung.

Wieso?

Jeder glaubt, dass er auf der richtigen Seite der Geschichte steht und für die Gerechtigkeit eintritt. Deswegen kommt man da nicht weiter. Ich glaube in der Tat, dass man Antisemiten bekämpfen kann, nicht aber den Antisemitismus. Das ist ein Grundgefühl, das kein Fehler im Betriebssystem der Moderne ist. Es gehört zur Moderne. Weil Juden im gewissen Sinne das verkörpern, was Moderne bedeutet. Etwa Ambiguität. Ambiguität in der Hinsicht: Man ist das, was nicht sichtbar ist. Und was sichtbar ist, ist nicht das, was man ist – der moderne Jude, der so aussieht wie der Nichtjude, aber gleichzeitig kein Nichtjude ist.

Also Jüdinnen und Juden stehen für die Widersprüchlichkeit der Gesellschaft?

Es ist kein Zufall, dass eine Jüdin den Begriff der Ambiguitätstoleranz und -intoleranz geprägt hat. Das war Else Frenkel-Brunswik, die von Lemberg aus mit ihrer Familie nach Wien vor den Pogromen geflohen ist. Von da aus ist sie vor den Nazis nach Amerika geflüchtet und hat dort gemeinsam mit Theodor W. Adorno an dem Projekt der Authoritarian Personality mitgearbeitet. Frenkel-Brunswik hat diesen schönen Begriff der Ambiguitätstoleranz und -intoleranz mitgeprägt. Ich glaube, dass Juden im gewissen Sinne diese Ambiguität, dieses Widersprüchliche, fast schon verkörpern. Der Zionismus hat versucht, das aufzuheben, indem aus diesen ambiguen Juden in der Diaspora eben eindeutige Israelis gemacht werden sollten, was auch bis zu einem gewissen Grad geglückt ist.

 

Das Interview erschien zuerst im Lagebild Antisemitismus 2022  der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung.

 

Aktionwochen gegen Antisemitismus

Das Programm der Bildungs- und Aktionswochen 2022 finden sie hier:

Das „Lagebild Antisemitismus“ können Sie hier als PDF herunterladen oder als Print bestellen:

Cover des zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus #10: Deutschland bereitet Antisemitismus eine Bühne – veröffentlicht von der Amadeu Antonio Stiftung

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