Im Grundgesetz Artikel 3 ist die Gleichheit aller Bürger:innen festgelegt. Seit 1949 heißt es dort, niemand dürfe „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“. Gegen die Formulierung „Rasse“ gibt es seit etlichen Jahren Einwände.
Ist es ein rassistisches Wort, das es zu ersetzen gilt, oder eine für die Bekämpfung von Diskriminierung notwendige Kategorie? Dieser Frage geht die Juristin Doris Liebscher in ihrem jüngst erschienenen Buch „Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus“ nach. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wo der Begriff „Rasse“ eigentlich herkommt, wie er ins Grundgesetz kam und darüber, warum es keine gute Alternative ist, den Begriff ersatzlos zu streichen.
Belltower.News: Können Sie bitte erst mal erklären, was mit dem Begriff „Rasse“ gemeint ist, wo der Begriff herkommt?
Doris Liebscher: Der Begriff „Rasse“ ist ursprünglich ein rassistischer Begriff. Er ist ein Begriff, der soziale Ungleichheiten biologisiert und damit ungleiche Verhältnisse der Gesellschaft rechtfertigt. Für Menschen wurde der Begriff zuerst im 17. und 18. Jahrhundert von Naturforschern und Philosophen verwendet – Immanuel Kant spielte hier beispielsweise eine unrühmliche Rolle. Später haben dann Biologen und Genetiker diesen Begriff genutzt, aber immer in dem Kontext des Rassismus. Und so ist er dann auch ins Recht gekommen. Rassekonzepte fanden sich seit der Sklaverei im Recht der europäischen Kolonien und auch nach Abschaffung der Sklaverei, zum Beispiel im rassistisch segregierenden Recht in den US-amerikanischen Südstaaten, den sogenannten Black Codes oder Jim Crow Laws, Gesetze, die die Menschenrechte von schwarzen Amerikaner:innen, vor allem ehemaligen Sklav:innen, einschränkten. Aber auch in den Verboten gemischter Ehen zwischen Schwarzen und Weißen, die bis in die 1960er Jahre galten.
Wie kam der Begriff „Rasse“ nach Deutschland?
In Deutschland findet sich das Pendant dazu beispielsweise im Kolonialismus, in den sogenannten Eingeborenen-Verordnungen. Damit galten grundsätzlich zwei unterschiedliche Rechtsregime für die kolonisierten und die kolonisierenden Bewohner:innen in den deutschen Kolonien, den sogenannten Schutzgebieten. Das wird auch als rassistische Rechtsspaltung bezeichnet. Dabei ging es nie um Schutz, sondern um Ausbeutung und Entrechtung. Hier wurde die rassistische Vorstellung im Recht festgeschrieben, dass Kolonialisierte minderwertiger gegenüber den Kolonisator:innen seien. Es ging auch darum, dass Kinder aus Beziehungen zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren, die deutsche Staatsbürgerschaft nicht bekommen können. Die heute noch immer mitunter verbreitete Vorstellung, dass Schwarze Menschen keine Deutschen sind, stammt aus dieser Zeit.
Fand diese Vorstellung auch Einzug in die Nürnberger Rassegesetze der Nazis?
Schließlich kamen die Rassegesetze der Nationalsozialisten, die sogenannten Nürnberger Gesetze und die zahllosen Verordnungen und Erlasse zu deren Umsetzung. Die nationalsozialistische Rechts- und Rassewissenschaft orientierte sich ausdrücklich sowohl an den im deutschen Kolonialismus erarbeiteten Rassentheorien als auch an US-amerikanischen Konzepten zur rechtlichen Regelung der rassistischen Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen. Es gibt aber auch wichtige Unterschiede.
Welche zum Beispiel?
Das koloniale deutsche Recht schrieb die „color line“ und damit die binäre Kodierung der Menschen in Weiß und Schwarz – also modern und unmodern – unter Bezug auf naturwissenschaftliche Theorien fest. Das völkisch-rassistische Recht des Nationalsozialismus funktionierte anders. Seine historische Besonderheit ergibt sich aus einer Kombination eines mystisch-kulturalistischen Volks- und Rasseverständnisses, der völligen Ablehnung des universalistischen Gleichheitsversprechens der Aufklärung sowie einer antisemitischen Projektion auf die Juden als „Gegenrasse“ und als Personifikationen ‚des Lohns ohne Arbeit [und] der Heimat ohne Grenzstein‘. Das nationalsozialistische Rasserecht war aber nicht nur durch seinen ausdrücklich antisemitischen Charakter besonders. Auch die rassistisch-sozialdarwinistisch begründete Vernichtung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus folgte weniger einer kolonialen Ausbeutungs- und Zivilisierungsmission als einer Mission der „Vernichtung durch Arbeit“ jener Menschen, die „asozial“ und Erziehung „nicht zugänglich“ seien. Dies zeigt sich in auch in den rechtlichen Vorschriften und Gerichtsurteilen dieser Zeit.
Und wie kam es dann, dass ein Diskriminierungsverbot aufgrund von „Rasse“ ins Grundgesetz kam?
Auf den zweiten Weltkrieg und die Kapitulation Deutschlands folgte 1945 das Potsdamer Abkommen, hier wurde die von Deutschland zu entrichtenden Reparationen, die politische und geografische Neuordnung Deutschlands, seine Entmilitarisierung und der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern verhandelt. Darin und in den Gesetzen der Alliierten taucht der Begriff Rasse dann erstmal als Gegenbegriff zu Diskriminierung auf. „Niemandem, was immer seine Rasse, Staatsangehörigkeit oder Religion sei, dürfen die ihm gesetzlich zustehenden Rechte entzogen werden“, heißt es zum Beispiel in einer Proklamation des Alliierten Kontrollrats aus dem Oktober 1945. Es ging also nun darum, „Menschen aufgrund ihrer Rasse“ vor Benachteiligung zu schützen. Hier kommt auch die Prägung des Alliierten Rechts durch das US-amerikanische Recht ins Spiel.
Inwiefern?
In USA gab es ja schon seit der Abschaffung der Sklaverei 1865 Diskriminierungsverbote aufgrund von race in der Verfassung. In den westlichen Besatzungszonen gab es damals Bestrebungen, in den einzelnen Landesverfassungen Diskriminierungsverbote wegen der „Rasse“ zu etablieren, beziehungsweise in der sowjetischen Besatzungszone Verbote von „Rassenhetze“. Diese waren dann die Vorlage für die Formulierung, die wir heute in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes haben: „Niemand darf wegen seiner Rasse benachteiligt oder bevorzugt werden“.
Also haben gar nicht die Deutschen ein Diskriminierungsverbot aufgrund von „Rasse“ in das Grundgesetz mit aufgenommen?
In Deutschland denken noch immer viele Menschen, die damaligen Parlamentarier:innen hätten das Diskriminierungsverbot auf Grund von „Rasse“ ins Grundgesetz geschrieben. Praktisch stimmt das zwar, allerdings war das, wie gesagt, eine Vorgabe der Alliierten. Unter den damaligen deutschen Parlamentarier:innen gab es eine ganz große Zurückhaltung über den Nationalsozialismus zu sprechen. Das zeigen die Protokolle der Diskussion zum Grundrechtekatalog im Grundgesetz, die ich in meinem Buch analysiert habe. Ausdrückliche Bezüge auf die Nürnberger Rassegesetze fehlen in den Debatten, zugleich finden sich dort viele rassistische Vorstellungen vor allem über Sinti und Roma, über die nicht als Verfolgte des Nationalsozialismus, sondern als Problem und als „Asoziale“ gesprochen wird. Das zeigt, wie tief verankert das rassistische Wissen auch nach 1945 in Deutschland war.
Es gab damals also keinen inhärenten Antrieb, antirassitisches Recht zu erlassen?
Nein. Das es trotzdem geschehen ist, ist natürlich zu begrüßen. Man merkt aber auch, dass der Begriff „Rasse“ in Artikel 3 Grundgesetz sehr lange in der Praxis der deutschen Gerichte überhaupt keine Rolle spiele. Das ist eher eine Entwicklung des letzten Jahrzehnts und vor allem Antidiskriminierungsbüros, rassismuskritischen Jurist:innen und Selbstorganisationen, wie der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland zu verdanken, die erfolgreiche Klagen gegen Racial Profiling geführt haben.
Was wird juristisch in Deutschland unter „Rasse“ verstanden?
Es gab nach 1945 immer schon eine Kontroverse um den Begriff „Rasse“ im Recht, weil nicht klar war, was der Begriff meint. Auch im internationalen Recht herrschte Uneinigkeit darüber, was „Rasse“ überhaupt ist, das zeigt sich schon in den Diskussionen zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Sehr lange Zeit ging es bei dem Begriff „Rasse“ juristisch um vererbbare Biologie. Eine weit verbreitete Definition im deutschen Recht lautet: Rasse bedeutet „tatsächliche oder vermeintliche vererbbare Merkmale“. Im deutschen Kontext sind nach der juristischen Literatur vor allem Schwarze Menschen, Jüdische Menschen und Sinti und Roma gemeint.
Was ist daran problematisch?
Diese biologische Definition ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen reproduziert sie die Vorstellung, dass es biologische Menschenrassen gibt. Zum zweiten führt sie dazu, dass Gerichte nicht über die rassistischen Stereotype und Strukturen sprechen, die zum Beispiel Racial Profiling zugrunde liegen, sondern über die Eigenschaften der davon Betroffenen, zum Beispiel deren Hautfarbe. Das Problem ist aber nicht das vererbbare Merkmal Hautfarbe, sondern der Rassismus, der Wertungen und Benachteiligungen an phänotypische Eigenschaften anknüpft. Drittens ist die biologische Rassedefinition im deutschen Recht ein Problem, weil sie neuere Formen des Rassismus nicht zu erfassen vermag. Die Definition hat viel mit der Vorstellung zu tun, Rassismus sei ein Problem des historischen Nationalsozialismus oder seiner neonazistischen Wiedergänger, aber Rassismus ist ein Problem der ganzen Gesellschaft und äußert sich auch jenseits von biologischen Rassevorstellungen. Es gibt aber auch eine immer weiter vordringende rassismuskritische Strömung, die sehr stark an der Critical Race Theory orientiert ist und den Begriff race statt Rasse verwendet. Hier wird race im Sinne einer sozialen Position verstanden, die auf eine Geschichte des Rassismus zurückgeht. Im Prinzip kann man sagen, die Vertreter:innen wollen den Begriff der „Rasse“ beibehalten, verstehen ihn jedoch sozial-konstruktivistisch.
Nun soll der Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Ist das Ihrer Meinung nach ein richtiger Ansatz?
Die Debatte um die Streichung des Begriffs aus dem Grundgesetz ist eher eine Scheindebatte. In Deutschland fordert eigentlich niemand die komplette Streichung. Das ist eine Debatte, die in Frankreich geführt wurde, wo der Begriff Rasse fast aus der Verfassung gestrichen worden wäre.
Wäre eine ersatzlose Streichung denn problematisch?
Wenn wir den Begriff streichen, streichen wir damit natürlich auch den Rechtsschutz für Betroffene, also den Schutz vor rassistischer Diskriminierung. Und wir löschen damit auch die Geschichte des Begriffs.
Der Begriff „Rasse“ im Recht ist aber problematisch. Wie könnte man ihn am besten ersetzen, damit der Rechtsschutz für Betroffene bestehen bleibt?
Es werden hier mehrere Alternativen diskutiert, zum Beispiel ethnischen Herkunft: Diese Bezeichnung steht bereits im allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Da steht drin „Auf Grund der Rasse und ethnischen Herkunft“. Den Begriff haben viele Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, zum Beispiel Österreich, Finnland und auch Schweden.
Aber Sie scheinen nicht so sehr überzeugt von der Bezeichnung ethnischen Herkunft?
Ja, ich finde den Begriff nicht so gut geeignet. Ethnischen Herkunft lädt dazu ein, die Geschichte des Rassismus auszublenden. Diese Bezeichnung löst die Hierarchisierung, die immerhin im Begriff „Rasse“ angedeutet ist, zugunsten der Illusion auf, wir hätten doch alle eine Ethnie, wären also alle irgendwie gleichermaßen diskriminierungsgefährdet. So kann man schnell beim angeblichen „Rassismus gegen Weiße“ und „Diskriminierung von Deutschen“ landen, also zur von der AfD so gerne geführten Debatte um angebliche Deutschenfeindlichkeit.
Können wir nicht auch einfach den englischen Begriff race nutzen?
Im Recht geht das nicht. Wir können keine englischen Begriffe in deutsches Recht aufnehmen. Faktisch wird der Begriff race in der Debatte jedoch sehr häufig genutzt, und dann sozialkonstruktivistisch verstanden.
Mal angenommen, wir könnten englische Begriffe im deutschen Recht verwenden, wäre race dann eine gute Idee?
Im US-Recht kommt race ursprünglich aus der Sklaverei und hat, wie ich am Anfang erklärt habe, eine lange Tradition des rassistischen Rechts. Zugleich gibt es den Begriff seit 1865 in der US-Verfassung, zum Schutz vor Diskriminierung. Dadurch gab es in den USA eine interessante Gleichzeitigkeit. Die Schwarze Bürgerrechtsbewegungen hat sich intensiv mit dem Begriff race auseinandergesetzt, auch auf juristischer Ebene. Letztendlich hat sich die Bürgerrechtsbewegung den Begriff race angeeignet. Das ist nicht mit Deutschland vergleichbar, wir haben sowas hier nie gehabt. Erst kamen die Nürnberger Rassegesetze, dann kam 1949 das Grundgesetz und die vermeintliche Stunde Null – von der wir alle wissen, dass sie keine war, weil rassistisches Wissen eben nicht thematisiert, sondern mitgetragen wurde. Das Wissen um die sozialkonstruktivistische Verfasstheit von rassischen Kategorisierungen und um das Machtverhältnis von Rassismus ist in den USA um einiges weiter als in Deutschland, nicht nur im Recht, aber besonders im Recht.
Und wie würden Sie gerne den Begriff „Rasse“ im Recht ersetzen?
Ich, juristische Kolleg:innen und auch viele Selbstorganisationen bevorzugen die Ersetzung durch den Begriff rassistisch. Hier gibt es wieder ganz unterschiedliche Formulierungen, entweder rassistisch oder rassistische Zuschreibung. In allen Varianten geht es dabei stärker darum, das gesellschaftliche Machtverhältnis zu benennen.
Was spricht für eine Ersetzung durch rassistisch?
Die Bezeichnung rassistisch erhöht den Rechtsschutz. Wenn wir nur den Begriff „Rasse“ verwenden, sehen wir ja auch in der deutschen Rechtsprechung, dass der Begriff biologisiert wird. Jedoch knüpfen antimuslimischer Rassismus oder andere Formen kulturalistischer Rassismen stärker an kulturellen oder religiös konnotierten Merkmalen an, als beispielsweise an Haut- und Haarfarbe an. Auch neuere Formen des Antisemitismus lassen sich nicht unter den Rassebegriff fassen. Das Recht muss aber auch vor diesen Ausprägungen Schutz bieten.
Ok, also soll es dann Ihrer Meinung am besten heißen: „Niemand darf rassistisch benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Zum Beispiel. Mir geht es aber auch darum, dass Jurist:innen nicht den Brockhaus nutzen, um eine Definition von „Rasse“ zu bekommen. Sie sollen sich stärker mit Rassismus- und Antisemitismusforschung auseinandersetzen. Zu dieser Beschäftigung würde eine Grundgesetzänderung in „rassistisch“ wesentlich beitragen.
Vertreter:innen der Critical Race Theory, die am Begriff „Rasse“ festhalten und ihn als soziale und identitäre Kategorie verstehen und jene rassismuskritischen Stimmen, die, wie ich, sagen, wir sollten den Begriff in rassistisch nutzen, haben ja etwas gemeinsam: Sie wollen über Rassismus und über Rassifizierung sprechen. Das ist ein fundamental wichtiges Anliegen, schließlich gibt es noch große Teile der Politik und auch viele meiner juristischen Kolleg:innen, die meinen, wir hätten in Deutschland gar kein Problem mit Rassismus mehr. Wir müssen uns in der Rechtswissenschaft, in der juristischen Ausbildung, in den Gerichten interdisziplinär mit Rassismus beschäftigen. Da stehen wir gerade am Anfang und deshalb finde ich die ganze Debatte so wichtig.
Doris Liebscher war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und ist jetzt Ombudsfrau des Landes Berlin zur Umsetzung des ersten deutschen Landesantidiskriminierungsgesetzes. Für ihr Buch „Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie“ wurde sie mit dem Konrad-Redeker-Preis ausgezeichnet.