Belltower.News: Das antisemitische Verschwörungsnarrativ „QAnon“ fasst Fuß in Deutschland, sogenannte „Querdenker“ mobilisieren zu Zehntausenden und relativieren die Shoah und ein Rechtsterrorist versucht, eine Synagoge in Halle zu stürmen. Erleben wir derzeit einen Antisemitismus-Boom in Deutschland?
Nikolas Lelle: Das kann man mit Sicherheit sagen. Antisemitismus ist 2020 noch sichtbarer geworden und wird dadurch normalisiert. Die Demos rund um die Corona-Maßnahmen sind ein Paradebeispiel dafür: Dort sieht man neben QAnon-Symbolen auch Judensterne mit dem Schriftzug „ungeimpft“ oder Vergleiche mit Sophie Scholl und Anne Frank. Das zeigt, dass es eine Normalisierung von Antisemitismus gibt.
Kann man von einer Zunahme antisemitischer Ressentiments in Deutschland sprechen oder werden sie lediglich durch solche Demos sichtbarer?
Einerseits ist das natürlich nichts Neues: Diesen Antisemitismus gibt es schon lange. Gerade bei QAnon kann man sehr gut zeigen, dass es eine Art Reaktualisierung von uralten antisemitischen Ressentiments ist – zum Beispiel von der Ritualmordlegende. Trotzdem hat sich 2020 dieser Antisemitismus öfter, offener und ungehemmter gezeigt. Menschen sind ohne Skrupel mit „Ungeimpft“-Judensternen auf die Straße gegangen. Das ist schon eine Veränderung, das hätte man wahrscheinlich vor fünf oder zehn Jahren nicht angetroffen. Vor dieser Normalisierung warnt auch RIAS – die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus.
Einer Studie zufolge sagen 80 Prozent der Jüdinnen und Juden in Deutschland, dass Antisemitismus gefährlich ist. Dennoch werden sie von den Behörden und in öffentlichen Diskussionen häufig nicht ernst genommen. Oft heißt es: Sie würden Gespenster sehen, wo keine sind. Der antisemitische Alltag vieler Jüdinnen und Juden zeigt jedoch, dass diese Gefahr real ist. Was tun?
Ein erster wichtiger Schritt war, öffentlich finanzierte, nicht staatliche Meldestellen für antisemitische Vorfälle aufzubauen. Das hat ein unabhängiger Expertenkreis zum Thema Antisemitismus 2017 empfohlen. Daraus ist RIAS entstanden. Aber der zweite Schritt muss sein, dass man Antisemitismus ernst nimmt und zivilgesellschaftliche Verantwortung dafür übernimmt. Deshalb veröffentlichen wir Lagebilder, mit denen wir deutlich machen wollen: Auch wenn kaum jemand über Antisemitismus redet, ist er da. Und es ist wichtig, ihn zu thematisieren und überhaupt sichtbar zu machen.
Nur die wenigsten Menschen bezeichnen sich selbst als Antisemit*innen. Stattdessen hört man nicht selten, wenn man auf antisemitische Aussagen hinweist, dass solche Vorwürfe den Begriff Antisemitismus missbrauchen und gar vom „echten Antisemitismus“ ablenken würden. Wie lösen wir dieses Problem der Definitionsmacht?
Adorno und Horkheimer haben schon 1947 geschrieben: Es gibt keine Antisemiten mehr. Diese Denkweise ist auf jeden Fall ein reales Problem, wenn es um die Thematisierung des Antisemitismus geht. Es gibt tatsächlich wenige politische Akteur*innen in Deutschland, vielleicht mal abgesehen von neonazistischen Parteien wie „Die Rechte“ oder „Der III. Weg“, die von sich bewusst, ehrlich, gar stolz sagen würden, ja wir sind Antisemiten. Aber es gibt einen viel größeren, diffusen Bereich von Menschen, die Antisemitismus reproduzieren, auch wenn sie den Begriff Antisemitismus ablehnen. Daher glaube ich: Es geht weniger darum, Antisemiten auszumachen, sondern Antisemitismus zu thematisieren und kenntlich zu machen.
Und wie macht man das?
Prävention, Intervention und Repression. Repression heißt die strafrechtliche Verfolgung antisemitischer Vorfälle von staatlichen Akteuren. Prävention und Intervention machen wir als Amadeu Antonio Stiftung – zum Beispiel mit Workshops, Jugendarbeit oder mit Kampagnen im öffentlichen Raum wie die „Du Jude“-Kampagne der Aktionswochen gegen Antisemitismus letztes Jahr. Mit Jugendarbeit müsste man allerdings eigentlich viel früher anfangen, um überhaupt ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen. Was ist Antisemitismus und wie reproduziere ich ihn und mit welchen Aussagen?
Auch das Lagebild Antisemitismus kann als eine Intervention im öffentlichen Raum verstanden werden. Im diesjährigen Bericht kommen viele Betroffene selbst zu Wort. Warum ist das wichtig?
Uns ist das wichtig aus einer zivilgesellschaftlichen Perspektive. Wir wollen jüdische Perspektiven sichtbar machen. Und das muss eben auch heißen: Jüdinnen und Juden zuzuhören. Es gibt gerade in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus eine ganz merkwürdige Verzerrung, dass Jüdinnen und Juden extrem selten zu Wort kommen. Dass so getan wird, als seien sie befangen, als seien sie nicht neutral und könnten keine neutralen Aussagen machen. Natürlich sind Jüdinnen und Juden befangen, wenn es um Antisemitismus geht: Sie sind direkt davon betroffen. Aber genau deshalb ist es wichtig, ihnen zuzuhören. Das versuchen wir mit unserem Lagebild ganz praktisch umzusetzen: Wir haben beispielsweise Josef Schuster, den Präsidenten des Zentralrats für Juden, und Max Privorovski, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Halle über ihre Erfahrungen dieses Jahr zu Wort kommen lassen.
Unterscheidet sich das Lagebild damit von den Lagebildern staatlicher Akteure wie des BKA oder des Verfassungsschutzes zum Thema Antisemitismus?
Dieses Jahr im August erschien das erste Lagebild des Bundesamtes für Verfassungsschutz überhaupt zum Thema Antisemitismus. Es ist allerdings sehr akteursorientiert. Wir verwenden einen phänomenorientierten Ansatz. Wir schauen uns Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen an. Zum Beispiel: Was ist rechtsextremer Antisemitismus? Welche Form von Antisemitismus dockt an „Corona-Demos“ an? Welche Rolle spielen dabei Verschwörungsmythen? Gibt es Antisemitismus in der Linken? Welche Funktion hat der Antisemitismus im Islamismus?
Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus zu beschreiben ist wichtig. Denn die Antisemiten sind immer die anderen: Die Rechtsextremen, die Islamisten, die Geflüchteten, gar die Linken. Im eigenen Lager gibt es keinen Antisemitismus, so der Tenor vieler Milieus…
Definitiv. Und da haben wir versucht, gegen diesen Trend zu steuern, indem wir versuchen, den Antisemitismus so breit wie möglich darzustellen und dabei viele Kooperationspartner*innen zu Wort kommen zu lassen. Hier ist es uns wichtig, dass die Autorschaft kenntlich gemacht wird. Das ist zum Beispiel im Lagebild des Verfassungsschutzes nicht der Fall. Wir wollen die verschiedenen Perspektiven, die in unserem Lagebild vorkommen, auch als solche kennzeichnen: als Perspektiven. Wir wollen nicht so tun, als wäre alles aus einem Guss, aus einem vermeintlich neutralen, objektiven Standpunkt.
Dabei gibt es vielfältige Perspektiven im Lagebild: von Überlebenden des antisemitischen Halle-Anschlags bis hin zu Menschen wie der ezidisch-deutschen Autorin Ronya Othmann.
Ich finde das eine Stärke dieses Lagebildes: Dass es eine Multiperspektivität gibt. Ich finde es wichtig, klar zu zeigen, dass es verschiedene zivilgesellschaftliche Perspektiven auf Antisemitismus gibt – nicht nur die eine. Denn es gibt auch nicht „die Zivilgesellschaft“.
Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus
Hier als PDF zum Download: