Belltower.News: Der Titel Ihres Buches lautet „Endlich in Sicherheit?“, mit Fragezeichen. Wodurch ist die Sicherheit Geflüchteter in Deutschland eingeschränkt?
Philipp Wilhelm Kranemann: Vorab müssen wir festhalten, dass insbesondere für Geflüchtete ohne sicheren Aufenthaltsstatus die Abschiebebehörden nach wie vor das wohl größte körperliche Risiko darstellen. Außerdem gibt es den großen Bereich politisch rechts motivierter Straftaten, wie etwa Brandanschläge auf Flüchtlingsheime oder körperliche Angriffe. Zentrales Thema unseres Buches ist jedoch die Bedrohung durch die Regime der Herkunftsländer, durch Netzwerke und Institutionen, die sich hier aufgestellt haben.
Belltower.News: Im Titel Ihres Buches sprechen Sie von „transnationalen Netzwerken“ dieser Regime. Was können wir uns unter diesen Netzwerken vorstellen?
Randi Becker: Den eher breiten Begriff des Netzwerks haben wir deswegen gewählt, weil diese Netzwerke sehr unterschiedlich aussehen. Wir stellen im Buch verschiedene Länder vor, deren Netzwerke durchaus verschieden sind. Das kann hochorganisierte Institutionen umfassen, wie etwa Geheimdienste, aber auch Vereine, in denen sich Einzelpersonen engagieren und sich als loses Netzwerk oder als religiöses Netzwerk im Rahmen von einer Moscheegemeinde organisieren. Was die Netzwerke eint, ist, dass sie aus dem Herkunftsland heraus in Deutschland über Einzelpersonen hinaus wirken.
Kranemann: Ein bekanntes Beispiel ist der russische Auslandsgeheimdienst FSB, der ja auch vor dem Einsatz von Chemiewaffen nicht zurückgeschreckt hat, etwa Nowitschok bei dem Angriff auf Nawalny. Das erste Beispiel unseres Buches ist der Einsatz des vietnamesischen Geheimdienstes in Berlin Tiergarten, wo 2017 ein vietnamesischer Staatsbürger, der einen Antrag auf Asyl gestellt hatte, entführt wurde. Das sind die krassesten Fälle, es gibt weitere Fälle von Bedrohung und Einschüchterung. Wenn man sich in Deutschland weiterhin gegen die Regime engagieren möchte, vor denen man geflüchtet ist, ist man unter anderem mit juristischen Einschüchterungsversuchen oder Online-Bedrohungen und -Beleidigungen durch Einzelpersonen konfrontiert. Es gibt aber sogar Motorrad-Gangs, die gegen die Leute vorgehen.
Um welche Länder geht es da außer Russland und Vietnam?
Becker: Im Buch werden Eritrea, Iran, Syrien und die Türkei vorgestellt. Auch zur Bedrohung durch Rechtsextremismus sowie Atheismus als Fluchtgrund gibt es Beiträge. Solche Bedrohungen sind nicht national bestimmt und einen Menschen unterschiedlicher Herkunftsländer. Andere Länder wie Vietnam, Russland und China werden nur in der Einleitung genannt, obwohl sie eigentlich genauso relevant sind. Ein zentrales Problem war, dass es nicht zu jedem Land Leute gibt, die zu deren Organisationen und Netzwerken in Deutschland forschen. Zusätzlich ist es für Forscher*innen sowie Geflüchtete mitunter gefährlich, dazu zu publizieren.
Gab es deswegen Absagen auf Ihre Anfragen?
Kranemann: Als wir Leute gesucht haben, die Texte hätten schreiben können, hieß es bei manchen erst „Ja, vielleicht“, aber dann „Nein, geht nicht, weil meine Familie da noch lebt und ich es mir nicht leisten kann, dass dazu ein Text von mir erscheint“.
Belltower.News: Daran lässt sich erahnen, was die Verfolgung von Geflüchteten in Deutschland durch transnationale Netzwerke bedeuten kann…
Becker: Genau. In erster Linie bedeutet es, dass der Schutz eine Fiktion ist. Das ist für mich die zentrale Erkenntnis: Die meisten Deutschen gehen davon aus, dass man Asyl oder die Flüchtlingseigenschaft bekommt, dass man in Deutschland ankommt, und dann ist alles in Ordnung und man hat hier ein gutes Leben. Aber das ist für viele Geflüchtete schlichtweg nicht der Fall. Das hat diverse Gründe, unter denen die fortgesetzte Bedrohung oder Verfolgung durch die Regime, vor denen man geflüchtet ist, einer ist.
Zurzeit steht die Verfolgung iranischer Oppositionellen im Ausland im Fokus, die sich im Zuge der feministischen Proteste in Iran verschärft hat. Wie beschreiben Geflüchtete aus Iran ihre Erfahrung in Deutschland?
Becker: Im Buch haben wir ein Interview mit Mina Ahadi veröffentlicht, das ich sehr eindrücklich finde. Sie schildert, dass sie oft umziehen musste, weil ihre Adresse weitergegeben wurde und sie Morddrohungen bekommt an ihre Privatadresse. Und zwar nicht nur von Privatpersonen, sondern vom iranischen Regime direkt, vom Konsulat. Dass sie mit Eiern beworfen wird, Morddrohungen erhält, telefonisch oder schriftlich, und gezielt versucht wird, sie einzuschüchtern und sie davon abzuhalten, sich irgendwie politisch zu äußern und sich überhaupt irgendwo sicher zu fühlen, auch privat. Und das kann man, glaube ich, über alle Interviewten in irgendeiner Form sagen, dass sie kein Gefühl von Sicherheit entwickeln können nach dem Ankommen, weil die Bedrohung hier fortbesteht.
Kranemann: Es gibt bei Geflüchteten aus vielen Ländern eine große Empörung darüber, dass sie dachten: „Okay, ich bin jetzt in Deutschland, ich bin hier sicher, und hier hat dieses Regime nichts zu sagen, keinen Einfluss.“ Dann stellen zum Beispiel Geflüchtete aus Eritrea fest, dass in Deutschland vom Regime in Eritrea Diaspora-Steuern erhoben werden. Das wissen die Behörden ganz klar, das Wissen ist öffentlich. Dann gibt es verschiedene Außenstellen von Regimen hier vor Ort, die sich breitmachen, es gibt Zusammenarbeit teilweise mit einzelnen Vereinen. Und wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass es eine große Lücke gibt zwischen Anspruch und Wirklichkeit der bundesrepublikanischen Demokratie infrage der Sicherheit von Geflüchteten.
Die deutschen Behörden dulden also bestimmte Praktiken dieser Regimes?
Becker: Es ist irreführend, hier von Duldung zu sprechen. Tatsächlich handelt es sich teilweise um explizite Forcierung. Asylverfahren sind komplex und sehr bürokratisch. Sie sind nicht vorbei, sobald man einen Status zugewiesen bekommt. Man hat, je nach Status, sogenannte „Mitwirkungspflichten“ und die beziehen sich häufig auf Identitätsnachweise. Das heißt: Deutsche Behörden zwingen einen de facto in manchen Fällen, aktiv Kontakt zur Botschaft oder zum Konsulat des Herkunftslandes aufzunehmen, um Papiere vorlegen zu können. So müssen Geflüchtete, die in Deutschland Schutz suchen, zu der Botschaft ihrer Verfolger gehen. Das ist absurd. Und dort muss man ihnen auch sensible Informationen offenlegen, zum Beispiel, wo man wohnt.
Kranemann: Ob man das wirklich tun muss oder nicht, kommt in der Praxis auch oft darauf an, was einem die Ausländerbehörde vor Ort erzählt. Und ob man sich dagegen wehrt oder nicht.
Welche Rolle spielen hier Sprachvermittler*innen?
Becker: Die meisten Interviewten weisen darauf hin, dass Dolmetscher*innen ein großes Problem sind: Geflüchtete, die in Deutschland ihr Asylverfahren haben, sind häufig mit Dolmetscher*innen konfrontiert, die selber regimenah sind. Das Asylverfahren basiert aber darauf, möglichst detailliert und genau die erlebte Verfolgung zu schildern. Wenn ich Angst habe, dass diese Schilderungen an das Regime zurückgetragen werden, oder wenn das, was ich sage, nicht richtig übersetzt wird, beeinflusst das den Ausgang des Asylverfahrens und meine Sicherheit nach dem abgeschlossenen Verfahren erheblich.
Wer sollte unbedingt Ihr Buch lesen?
Becker: Ich würde mir wünschen, dass alle, die mit Geflüchteten arbeiten, das Buch lesen. Und Politiker*innen: Etwa Hamburger Politiker*innen, die Kooperationen mit dem Islamischen Zentrum Hamburg, der zentralen Institution des iranischen Regimes in Deutschland, unterhalten. Oder Gießener Politiker*innen, die das Propaganda-Festival des eritreischen Regimes in Gießen nicht stoppen. Auch Linke, die sich mit Geflüchteten solidarisieren, aber häufig diese Art der Bedrohung ignorieren, sollten das Buch lesen. Die Betroffenen haben in den Interviews so eindringliche Appelle an die deutsche Politik und Zivilgesellschaft gerichtet. Ich wünsche mir, dass diese gehört und ernst genommen werden.
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Randi Becker war ehrenamtlich bei der Refugee Law Clinic Gießen aktiv und hat 2018 zwei Monate lang Asylverfahrensberatung auf der griechischen Insel Chios durchgeführt. In Gießen koordiniert sie ein Café für geflüchtete Frauen des Vereins An.ge.kommen e.V. Sie promoviert an der Universität Passau und ist in der Jugend- und Erwachsenenbildung sowie als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten tätig.
Philipp Wilhelm Kranemann arbeitete als Dozent in einem staatlichen Sonderprogramm mit Flüchtlingsbezug, in einer Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und als Projektleiter bei einer flüchtlingssolidarischen NGO. Gegenwärtig ist er in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig.
Endlich in Sicherheit? Bedrohung von Geflüchteten in Deutschland durch transnationale Netzwerke
NBKK Verlag, Gießen, 2022
286 Seiten
ISBN 978-3-00-072777-1