Ihr betreibt ein auf unterschiedliche Zielgruppen ausgerichtetes Monitoring von Sozialen Netzwerken. Wie ist Eure Einschätzung: Gibt es einen starken israelbezogenen Antisemitismus auch dort und wenn ja, wie ist dieser wahrnehmbar?
Johannes Baldauf: Ja, den gibt es, und er lässt sich in Sozialen Netzwerken immer dann besonders deutlich, fast eruptionsartig beobachten, wenn es zu militärischen Auseinandersetzungen kommt, in die Israel involviert ist. Aber auch sonst ist er latent vorhanden und zwar bei Personen und Gruppen mit teilweise ganz unterschiedlichen politischen Ausrichtungen. Rechtsextreme nutzen Eskalationen im Nahost-Konflikt beispielsweise sehr gezielt, um ihr antisemitisches Weltbild zu verbreiten, was dann mehr oder weniger gut als »Kritik« an Israel getarnt ist.
Judith Rahner: Das sehe ich ähnlich. Vor dem Gaza-Krieg waren in den Postings der von mir beobachteten Profile jugendlicher Facebook-User_innen die Themen »Israel« und »Nahost« so gut wie nicht vorhanden. Mit dem Beginn des Gaza-Krieges und dessen medialer Präsenz änderte sich das explosionsartig. In den heftigen Diskussionen über den Konflikt wurde auch auf judenfeindliche Stereotype und antisemitische Hetze zurückgegriffen. Seitdem das Thema aus den Medien so gut wie verschwunden ist, ebbte dieses Phänomen interessanterweise wieder sehr schnell ab und ist aktuell kaum auszumachen.
Wie äußert sich israelbezogener Antisemitismus in den Sozialen Netzwerken der von euch untersuchten Personen aus rechtsextremen sowie aus muslimisch sozialisierten Milieus?
Johannes Baldauf: Rechtsextreme verfolgen unterschiedliche Strategien. Viele versuchen gar nicht, ihren Antisemitismus zu verheimlichen, andere sind aus taktischen Gründen zurückhaltender. Die Wahl der Stilmittel, mit denen die eigene Meinung oder Propaganda kundgetan wird, ähnelt allerdings der von nicht rechtsextremen User_innen: Der Antisemitismus spiegelt sich häufig in Kommentaren, vielfach auch in geposteten Bildern wider. Gerade im Netz geht es darum, ein politisches Statement abzugeben, und dies tun User_innen etwa, indem sie ihr Profilbild mit einem aussagekräftigen Bild zu dem Thema, das ihnen gerade am Herzen liegt, ändern. Häufig sind es Bilder, die schnell sehr »viral« werden, sich also blitzschnell im Netz verbreiten. Insbesondere Rechtsextremist_innen verbreiten im Netz auch gerne aussagekräftige Bilder von ihren antisemitischen oder antiisraelischen Aktionen. Anlässlich des Finales der Fußballweltmeisterschaft 2014 postete beispielsweise der rechtsextreme Ring Nationaler Frauen auf ihrer Facebookseite ein Foto von einer Aktion in Stralsund, bei der ein Transparent mit der Aufschrift »In Brasilien schießen sie Tore, in Palästina auf Frauen & Kinder!!« von rechtsextremen Aktivist_innen hochgehalten wurde.
Judith Rahner: In den Profilen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus dem Facebook-Monitoring wurde häufig Bezug auf antisemitische Verschwörungsideologien oder die »Ritualmordlegende« genommen. Jugendliche haben hier also christliche, antijudaistische Ideologiefragmente verwendet und in die gegenwärtigen weltpolitischen Ereignisse eingepasst. Das unterstützt die These, dass bei diesen Jugendlichen kein neuer, spezifisch »muslimischer« Antisemitismus vorliegt, sondern ein alter europäischer Antisemitismus in neuem Gewand. Dieser Befund ist für die Präventionsarbeit ungeheuer wichtig
Johannes Baldauf: Seit Jahren taucht ein Bild in Bezug auf Israel immer wieder auf – und zwar in den unterschiedlichsten politischen Spektren: Das Bild zeigt, wie ein kleines palästinensisches Kind einen Stein auf einen israelischen Panzer wirft. Meiner Meinung nach symbolisiert dies sehr gut die vorherrschende Meinung nicht nur zum israelisch-palästinensischen Konflikt, sondern auch darüber hinaus: David gegen Goliath, Gut gegen Böse, Right versus Might. Es versinnbildlicht, wer die Armen, Schwachen, Unterdrückten sind und provoziert einen emotionalen Reflex, der unheimlich gut funktioniert. Wer stärker ist, wird automatisch als »böse« wahrgenommen. Dieser Robin-Hood-Reflex paart sich mit antisemitischer Propaganda und alten antisemitischen Stereotypen, die erwiesenermaßen leider sehr gut funktionieren.
Judith Rahner: Ich konnte Ähnliches beobachten. Bilder und Videos aus der Konfliktregion, die verletzte, vermisste oder getötete palästinensische Kinder und Frauen zeigten, wurden nicht nur am meisten gepostet und diskutiert, sondern auch entsprechend geteilt und mit einer großen Anzahl Likes versehen. Für mich persönlich war es manchmal nicht nachvollziehbar, woher diese Bilder und Videos kamen. Wer hatte sie gedreht und aufgenommen? In wessen Auftrag waren sie entstanden? Entsprachen Untertitelung und Übersetzung in den Videos dem tatsächlich Gesagtem? Auch wenn selten danach gefragt wurde, ist beispielsweise seit einer kleinen BBC-Studie vom Sommer 2014 bekannt, dass ursprünglich in Syrien aufgenommene Kriegsfotos zur Bebilderung des Gaza-Krieg verwendet wurden – und in dem Sinne gefälscht waren. Am zweithäufigsten gepostet wurden Verschwörungstheorien. Das ist wenig überraschend, weil sie seit vielen Jahren in sämtlichen politischen Spektren auftauchen: Coca-Cola gehöre zum Weltjudentum, die Medien seien von »den« Juden beherrscht, weshalb bestimmte Meldungen nicht 31 gesendet, bestimmte Bilder nicht gezeigt würden. Dies geht mit der Meinung einher, die »Deutschen« verstünden aufgrund der Beeinflussung der Medien nicht, was da passiere. Zuweilen sind die Bilder, die auf Facebook gepostet wurden, insofern unproblematisch, als sie schlicht fordern: »Wir wollen Frieden«. Sie werden erst durch entsprechende Kommentare antisemitisch gerahmt. Werden diese Bilder geteilt, geschieht dies in der Regel jedoch ohne eine Problematisierung der nebenstehenden Sprüche – und zwar weder von Seiten der Jugendlichen noch von Erwachsenen oder gar Fachkräften aus der Bildungsarbeit. Das heißt, die Kommentare stehen dort bis heute.
Laut einer aktuellen Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmen fast 40 Prozent der Deutschen der Aussage: »Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns« entweder überwiegend oder ganz zu. Diese antisemitische Grundhaltung ist also in breiten Bevölkerungsschichten anzutreffen. Wie sieht das – etwa in Bezug auf den Nahostkonflikt – bei den von euch untersuchten Gruppen aus?
Johannes Baldauf: Was den Nahostkonflikt angeht, müssen Rechtsextreme sich »entscheiden«. Neonazis etwa posten ähnliche oder gleiche Bilder wie muslimische Jugendliche und beteiligen sich teilweise auch an den gleichen Demonstrationen – interessanterweise meist an solchen, die aus der Friedensbewegung und von eher linken Gruppen organisiert werden. Rechtspopulisten hingegen versuchen das eher umgekehrte Spiel: Sie positionieren sich pro Israel, um gegen Muslim_innen hetzen zu können. Das heißt aber nicht, dass sie von ihren Antisemitismus abrücken. Es ist eine rein taktische Erwägung.4 Verschwörungstheorien spielen bei Neonazis insgesamt eine große Rolle. Das Konzept des »Z.O.G.« (Zionist Occupied Government) – antisemitisches Kürzel für eine von Juden kontrollierte Regierung – stellt eine zentrale Vorstellung in der extremen Rechten dar. Die Nähe zum Mythos der »jüdischen Weltverschwörung« ist klar erkennbar und wichtiger Bestandteil der rechtsextremen Ideologie. Diese Verschwörungstheorie findet sich z.B. im Roman »The Turner Diaries« von William L. Pierce (1978), der rassistische und antisemitische Ideen propagiert und Terroristen wie Timothy McVeigh, den Verantwortlichen für das Oklahoma City Bombing, zu dessen Anschlag inspirierte.
Judith Rahner: Jugendliche und junge Erwachsene, die sich entweder selbst als muslimisch bezeichnen oder von Nicht-Muslimen ungefragt als solche bezeichnet, genauer gesagt: markiert werden, sind die, die ich mir in dem Facebook-Monitoring angeschaut habe. In meiner langjährigen Praxisarbeit konnte ich beobachten, dass Muslimisch-Sein zunehmend wichtiger wird. Dies gilt nicht nur für die Jugendlichen selbst, sondern auch für ihr gesamtes, insbesondere ihr mehrheitsdeutsches, nicht-muslimisches Umfeld. Im Zusammenhang mit Antisemitismus fallen – häufig auch von nicht-muslimischen Pädagog_innen und Lehrer_innen – immer wieder ressentimentgeladene Äußerungen, wie: »Ihr als Moslems, ihr habt ja was gegen Juden. Das steht doch bei euch im Koran.« Wir können aber im Monitoring sehen, dass sich jugendliche Muslim_innen in keinem einzigen Posting während des Gaza-Krieges auf den Koran beziehen. Es geht also eher um ein identitäres Moment und weniger darum, was in islamischen Quellen geschrieben steht. Jugendliche reagieren auf die ständigen Vorbehalte gegenüber ihrer Religion sehr unterschiedlich. Während die einen das aufnehmen und durchaus bewusst damit spielen, sind viele davon aber auch genervt und verärgert: »Warum soll ich eigentlich immer was gegen Juden haben – ihr habt doch selber was gegen Juden!« Die in der Bildungsarbeit und den Medien zu beobachtende Verlagerung des Antisemitismus auf »muslimische« Jugendliche hat übrigens auch eine sehr praktische Funktion für die Mehrheitsgesellschaft. Diese verschiebt das Problem des Antisemitismus auf eine markierte Gruppe und muss sich nicht länger mit den eigenen Ressentiments auseinandersetzen.
Welche Rolle spielen radikale Gruppen im Zusammenhang mit solchen Verschiebungsprozessen?
Judith Rahner: Von einigen orthodox- und radikal-islamistischen Personen und Gruppen wird der Nahostkonflikt als Vehikel genutzt, um von einer anvisierten jugendlichen Zielgruppe wahrgenommen zu werden, die dafür normalerweise nicht unbedingt in Frage käme. So teilte etwa ein Jugendlicher, der nicht religiös ist, Postings des salafistischen Predigers Pierre Vogel zum Nahostkonflikt. Ein anderes Beispiel: Islamistische Facebook-Gruppen wie »Der Schlüssel zum Paradies« teilten während des Gaza-Krieges ältere antisemitische Bilder und Fotos, die bereits vor einigen Jahren im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt von Rechtsradikalen gepostet worden waren. Sie versahen diese Bilder mit ihrem Label, Logo oder dem islamischen Glaubensbekenntnis und erreichten so Jugendliche, die sich vorher weder mit der Organisation noch mit deren Ideologien identifizierten. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Haben Jugendliche einmal die Seiten radikaler oder islamistischer Gruppen geliked, dann bekommen sie sämtliche andere Themen dieser Seiten ebenfalls angezeigt. Ich habe während des Monitoring plötzlich Pierre Vogel oder »Die Stimme der Ummah« von Facebook als »Freunde« vorgeschlagen bekommen. In der intensiven Phase meiner Recherchen war ich in einer virtuellen »ideologischen Blase«. Mir wurden nur noch »Das-könnteSie-auch-interessieren«-Vorschläge zu Gruppen und Seiten gemacht, die auf den Gaza-Krieg Bezug nehmen oder konservativ-religiös bis radikal sind. Das macht ein wichtiges Moment deutlich: Der Algorithmus, der das Verhalten der Facebook- User_innen analysiert und auf dieser Basis die passende Werbung für Mode oder Urlaubsziele bereithält, funktioniert genauso verlässlich auch bei ideologisch fragwürdigen Inhalten und Gruppen. Diese Blase kann gerade für Jugendliche problematisch werden, die in komplexen Zeiten nach Orientierung und einfachen Antworten suchen.
Wie unterscheiden sich die antisemitische Parolen im Netz von denen im Alltag?
Johannes Baldauf: Wenn ich in Bezug auf den Antisemitismus vergleiche, was 2008/09 während der israelischen Militäroperation »Gegossenes Blei« im Netz los war und was sich während des Gaza-Krieges im Sommer 2014 im Internet abgespielt hat, kann ich qualitativ keine Unterschiede feststellen. Die Besonderheit ist, wie es auf der Straße lief. Was sich bei den Demonstrierenden dort beobachten ließ, nähert sich mehr dem, was auch online passiert. Der Antisemitismus im Netz ist leider gleich bleibend hoch. Antisemitische Verschwörungstheorien findest Du online immer. Offene Äußerungen wie »die Juden müssen sterben, vergast werden« werden im Regelfall nur dann massiv getätigt, wenn es zu militärischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten kommt. Ganz ähnlich verhält sich dies übrigens beim antimuslimischen Rassismus. Auch dieser ist, mit zunehmender Tendenz, seit Jahren verstärkt im Netz präsent. Zudem hat er ganz massiv den Weg auf die Straße gefunden, wie die Pegida-Demonstrationen zeigen.
Im physischen Leben – also außerhalb des Internets – ist seit Jahren festzustellen, dass die soziale Ächtung antisemitischer Positionen im öffentlichen Raum in Deutschland stark nachlässt. Schaut man sich die Antisemitismus-Debatten der letzten zehn Jahre an, fällt ebenfalls auf, dass diese maßgeblich durch Personen aus dem linken und liberalen Spektrum losgetreten wurden. Für eine größere Akzeptanz von antisemitischen und damit oft einhergehenden nationalistischen Positionen sind also Linke und Liberale durchaus mitverantwortlich. Ist dieser Trend im Netz ähnlich?
Johannes Baldauf: Quantitativ kann ich dazu keine Aussagen treffen – darüber gibt unser Monitoring leider keine verlässlichen Angaben her. Allerdings müssen alle, die sich das schon länger im Netz anschauen, feststellen, dass es hier eine Kontinuität gibt. Das Internet ist die Nische, in der antisemitische Verschwörungstheorien überleben können. Eine soziale Ächtung, wie teilweise auf der Straße, gibt es online nicht.
Welche Rolle spielen Soziale Netzwerke für die pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus?
Johannes Baldauf: Soziale Netzwerke sind eine wichtige Wissensquelle für Jugendliche. Bei vielen herrscht die Grundannahme vor, den Medien dürfe man nicht trauen. Basiert ein Grund für diese Annahme auf verschwörungsideologischen Argumenten, sind diese oft gepaart mit Antisemitismus. Ist man sich dessen bewusst, dann ist zentral, dass die pädagogische Arbeit im Internet ansetzt. Sie muss, meiner Ansicht nach, viel medienaffiner werden, um eben dort wirken zu können, wo Jugendliche ihre Informationen und »Wahrheiten« beziehen. Aber die Pädagogik ist kein Allheilmittel. Wir müssen auch mit Betreibern von Sozialen Netzwerken und Homepages reden, denn es geht um die Frage, ob und welche Informationen bzw. Inhalte verfügbar sind oder nicht.
Provokante Frage: Also eine Einschränkung der Meinungsfreiheit?
Johannes Baldauf: Ja genau, dann wird immer gleich getönt: »Zensur!« Doch es geht nicht um Zensur. Es geht darum, nicht zuzulassen, dass sich menschenverachtendes Gedankengut im Netz verbreitet.
Judith Rahner: Am Beispiel des Nahostkonflikts zeigt sich, dass viele Jugendliche ihre Informationen nur aus dem Netz bekommen, weil weder in Schulen noch in Jugendclubs offen darüber gesprochen wird: Was ist das für ein Konflikt? Wer sind die Parteien, die darin involviert sind? Stehen sich wirklich nur zwei homogene Gruppen gegenüber oder gibt es auch andere Beteiligte? Was sind Fakten, was Gerüchte? Wie lassen sich diese auseinanderhalten? Der Sommer 2014 hat deutlich gezeigt, dass das Bedürfnis von Jugendlichen, Informationen über den Konflikt zu bekommen und darüber zu reden, extrem hoch ist. Wenn dieses Bedürfnis nicht berücksichtigt wird, wenn bei Pädagog_innen zwar Verständnis, aber teilweise auch Ängste bestehen, wie darüber gesprochen werden kann, dann holen sich Jugendliche ihre Informationen woanders. Zweifellos müssen problematische Inhalte generell gemeldet und Profile, die Hetze verbreiten, auch gesperrt werden. Erfolgsversprechend ist für mich aber vor allem ein Korrektiv, das in der wirklichen Welt dagegen hält. Dafür müsste die Pädagogik das Web 2.0 allerdings viel mehr als bisher in der Praxis berücksichtigen. Im Netz verhalten sich Jugendliche anders als in pädagogischen Einrichtungen, ergo stellt sich die Frage: Was besprechen Jugendliche in ihrer Freizeit via Facebook? Mit wem treten sie warum in Kontakt? Es geht hier nicht um eine Überwachung und Sanktionierung, aber es ist sinnvoll, Argumente oder Bilder zu kennen und in die pädagogische Arbeit zu integrieren. Das heißt im Zweifelsfall, Jugendliche damit zu konfrontieren. Dazu gehört auch, sie für ein kritisches Medien- und Bildbewusstsein (media literacy / visual literacy) zu schulen. Jugendliche und pädagogische Fachkräfte müssen verstehen, welche Aussagen und Bilder Propagandamittel sind, woher die kommen, ob und in welcher Weise sie manipuliert wurden. Beide Maßnahmen – Sperren und kritische pädagogische Intervention – sind sinnvoll. Sie stellen keinen Widerspruch dar, sondern können und müssen sich konstruktiv ergänzen.
Warum werden schwierige Themen, wie beispielsweise der Nahostkonflikt, in Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen kaum aufgegriffen?
Judith Rahner: Sowohl in Bezug auf den Nahostkonflikt als auch in Bezug auf Antisemitismus besteht die Angst, zu wenig darüber zu wissen und sich »problematisch« zu äußern. Der GazaKonflikt fiel, zumindest in Berlin, fast zeitgleich mit den Sommerferien zusammen. Nach Ende der Ferien wurde das Thema nicht aufgegriffen, obwohl es noch immer aktuell war. Die offizielle Begründung lautete, dass dies wegen des offiziellen Lehrplans nicht ohne Weiteres möglich gewesen sei. Inoffiziell teilte man uns mit, dass das Thema aus Angst vor Diskussionen im Unterricht gezielt vermieden wurde. Meiner Ansicht ist das ein großer Fehler. Es geht an der Stelle nicht nur darum, den Nahostkonflikt in den offiziellen Lehrplan aufzunehmen, sondern generell darum, aktuelle weltpolitische Ereignisse, die eine Vielzahl von Schüler_innen direkt oder indirekt betreffen, aktiv in den Lehrplan zu integrieren. Das bedeutet, Lehrkräfte müssen fit gemacht werden, über diese Themen zu sprechen oder wissen, wen sie als Expert_in dazu holen können. Wir haben über die Sommerzeit 2014 bundesweit zahlreiche Unterstützungsanfragen von Schulen und Jugendeinrichtungen aufgrund antisemitischer Vorfälle bekommen. Der hohe Bedarf zeigt, dass geopolitische Eskalationen nicht einfach »ausgesessen« werden können. Je besser Lehrkräfte und Pädagog_innen vorbereitet sind, desto effektiver lässt sich intervenieren. Ein informierter, reflektierter und zugewandeter Umgang kann für Fachkräfte und Jugendliche entlastend sein.
Was sollte außerdem beachtet werden?
Judith Rahner: Diskriminierungserfahrungen von Jugendlichen müssen ernst genommen werden. Jugendliche werden – auch in Bildungseinrichtungen – rassistisch angegriffen, müssen sich gegen Vorbehalte und Stereotype aufgrund ihrer Religion oder ihrer familiären Herkunft wehren und sich ständig rechtfertigen. Wir müssen uns deshalb die Frage stellen, was eigentlich passiert, wenn Medien und Lehrkräfte geradezu mantra-mäßig wiederholen, dass jugendliche Muslim_innen vermeintlich antisemitischer seien als andere? Die Aufgabe von pädagogischen, der Mehrheitsgesellschaft zugehörigen Fachkräften sollte vor allem darin bestehen, beim Thema Antisemitismus nicht erneut ein »Ihr (Muslime) seid anders als wir (Deutsche)« zu konstruieren und damit noch einen Grund mehr liefern, warum »die« nicht »richtig« dazu gehören. Auf Antisemitismus muss, ganz gleich aus welcher Richtung, entschieden reagiert werden. Insbesondere vor diesem Hintergrund sollte man sich bewusst machen, dass in den Sozialen Netzwerken ein weiteres Problem sichtbar wird: Diskriminierungserfahrungen sind ein Einfallstor für extremistische Ideologen, die – nach dem Motto: »Die deutsche Gesellschaft will dich nicht, komm zu uns« – daran anknüpfen. Wenn Jugendliche den Nahostkonflikt als »Krieg« zwischen »den Muslimen« auf der einen und »der westlichen Welt« auf der anderen Seite interpretieren oder ideologisch »serviert« bekommen, setzt man am besten bei den Jugendlichen an, die konkrete Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Diese können Ausgangspunkt für Medienkritik und für das Sprechen über den Nahostkonflikt ohne antisemitische Stereotype sein.
Was mache ich als Pädagog_in, wenn ich mitbekomme, dass Jugendliche sich auf Facebook antisemitisch äußern?
Judith Rahner: Abgesehen von dem bereits beschriebenen Prozedere, menschenfeindliche Hetze Facebook zu melden, lässt sich das nicht pauschal beantworten und kann in der pädagogischen Praxis auch eine Einzelfallentscheidung sein. Die Möglichkeit eines klärenden persönliches Gesprächs hängt vom gegenseitigen Vertrauensverhältnis ab, aber ich habe sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Beispielsweise traf ich mich mit einem Jugendlichen, den ich bereits länger kenne, und konfrontierte ihn mit seinen Facebook-Postings. Ich habe ihn gefragt, ob er diese »Meinung« tatsächlich vertritt, ihn an gemeinsame Projekte zum Thema Nahost-Konflikt erinnert, in denen er sich sehr engagiert eingebracht hatte. Am nächsten Tag waren sämtliche dieser Postings auf seinem Profil verschwunden. Solche Gespräche haben Sinn, wenn man darin auf ein gemeinsam erarbeitetes Wissen Bezug nehmen kann. Schwieriger wird es, wenn kein Vertrauensverhältnis gegeben ist. Schreibt man dann z.B. unter ein antisemitisches Posting »Das ist antisemitisch«, kann dies das Gegenteil bewirken: Man wird aus der Freundesliste auf Facebook gestrichen und erreicht die Person gar nicht mehr. Als Regel gilt: Antisemitische Stereotypen nicht unwidersprochen lassen, allerdings ohne Jugendliche öffentlich vorzuführen. Im Zweifelsfall die Diskussion in den privaten Chat ziehen. Das Beste ist aber, sie entweder persönlich darauf anzusprechen oder anonymisiert in der Klasse über antisemitische Postings reden. Dann wissen die Betroffenen im Regelfall Bescheid, wer gemeint ist.
Was sind Forderungen an Soziale Netzwerke im Umgang mit Antisemitismus im Netz?
Johannes Baldauf: Die Betreiber von Plattformen müssen für sich eine klare Linie im Umgang mit menschenverachtenden Positionen formulieren, bis wohin »Israel-Kritik« legitim ist und ab wann sie nicht mehr in Ordnung ist. Theoretisch ist das auch von ihren Nutzungsbedingungen abgedeckt. Es muss nur konsequent umgesetzt werden. Und es muss vor allem allen Nutzerinnen und Nutzern immer wieder klar kommuniziert werden, wenn Inhalte gelöscht werden, warum diese gelöscht wurden und warum deren Inhalte zum Beispiel nach den Richtlinien als antisemitisch eingestuft wurden. Zudem benötigen die Leute, die darüber entscheiden, ob etwas antisemitisch ist oder nicht, Expertenwissen. Das muss ihnen vermittelt werden und da könnte noch mehr passieren.
Dieses Interview ist ein Auszug aus der Broschüre:
„Kritik oder Antisemitismus“ (PDF-Dokument, 2.6 MB, Download)Eine pädagogische Handreichung zum Umgang mit israelbezogenem Antisemitismus“ (2015), herausgegeben von der Amadeu Antonio Stiftung, 60 Seiten.
Mit freundlicher Genehmigung.
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