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Jahresrückblick 2021 Sachsen – Dystopische Aussichten

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Pandemieleugnung und Demokratiefeindlichkeit als Happening - über 1.000 Menschen "spazieren" am 06.12.2021 durch das sächsische Freiberg, während die Zahl der Coronafälle explodiert. (Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Sebastian Willnow)

Autor Michael Nattke arbeitet für das Kulturbüro Sachsen e.V.  und beantwortet uns die Frage: Was wird uns von 2021 in Bezug auf Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit in Erinnerung bleiben?

Anhaltende Protestdynamik gegen Corona-Maßnahmen

Wie bereits im Vorjahr war auch das Jahr 2021 in Sachsen voll und ganz von den Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie geprägt. Über das Jahr verteilt haben allein im Bundesland weit mehr als 2.000 Versammlungen in diesem Kontext stattgefunden. Um mögliche Auflagen der Versammlungsbehörden oder Anordnungen aus der Corona-Schutzverordnung zu umgehen, fanden die Demonstrationen oft als sogenannte „Spaziergänge“, ohne Anmelder, ohne Demonstrationsmittel (Transparente, Fahnen, Megaphon usw.) oder sichtbar verantwortliche Personen statt. Als fester Termin hat sich dabei der Montag herauskristallisiert. Mit der Wahl des Wochentages möchte sich die extreme Rechte in die Tradition der Montagsdemonstrationen von 1989 stellen.

Der überwiegende Teil der „Spaziergänge“ wird nur von wenigen Menschen besucht. Allerdings gab es auch Versammlungen mit drei- oder vierstelligen Teilnehmendenzahlen. Als Schwerpunktorte haben sich dabei insbesondere die Städte Bautzen, Chemnitz, Dresden, Freiberg, Plauen, Zwickau und Zwönitz etabliert. Die Schwerpunktregionen sind der gesamte ostsächsische Raum (Landkreise Bautzen und Görlitz), der Erzgebirgskreis, der Landkreis Mittelsachsen, der Landkreis Leipziger Land und der Vogtlandkreis.

Antidemokratische Haltungen auf der Straße

Inhaltlich geht es auf den zahlreichen Demonstrationen schon längst nicht mehr nur um die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gegen die protestiert wird. Die Maßnahmen dienen lediglich noch als Aufhänger. Oft herrscht eine aufgeheizte Stimmung, die sich in einer grundlegenden Ablehnung gegenüber den gewählten demokratischen Entscheidungsträger*innen und den demokratischen Institutionen manifestiert. Es wird dazu aufgerufen, „das System“ zu überwinden und die politischen Entscheider:innen vor ein Tribunal zu stellen. Wichtigste Feindbilder bei den Protesten in Sachsen sind Vertreter:innen der Bundespolitik (insbesondere Mitglieder der Partei Bündnis90/Grüne), bundesweit bekannte Virolog*innen und der sächsische Ministerpräsident. Menschen, die sich in Kleinstädten und ländlichen Regionen offen für demokratische Werte einsetzen und den Inhalten der Demokratiefeind:innen widersprechen, werden oft auch zur Zielscheibe. Einige Menschen in sächsischen Kleinstädten berichteten uns, dass die Stimmung im Ort sehr viel aggressiver ist als bei den asylfeindlichen Protesten in den Jahren 2015/16.

Im Zuge des dynamischen Protestgeschehens hat sich im Februar 2021 im Erzgebirge die Partei „Freie Sachsen“ gegründet. Organisierte sächsische Neonazis, wie z.B. Stefan Hartung, Martin Kohlmann oder Robert Andres haben sich mit der Gründung der „Freien Sachsen“ mit Querdenker:innen, Reichsbürger:innen und anderen Verschwörungsideolog:innen zusammengeschlossen. Über eine Telegram-Gruppe und einen Youtube-Kanal bieten sie das ideologisch-inhaltliche Fundament für die Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Sachsen. Mit Hass und Hetze gegen Vertreter*innen der Regierung und ihre Entscheidungen befeuern sie das Protestgeschehen.

Die AfD als parlamentarischer Arm des Rechtsextremismus

Das Jahr 2021 war auch das Jahr der Bundestagswahlen. Bereits zum dritten Mal ist es der AfD gelungen, als stärkste Partei aus einer Wahl in Sachsen hervorzugehen. Die Partei verliert zwar 2,4% gegenüber ihrem Ergebnis von 2017 in Sachsen, holt allerdings 10 der 16 Direktmandate. Aufgrund der Vielzahl an gewonnen Direktmandaten konnte die Landesliste der AfD in Sachsen keine Kandidat*innen in den Bundestag entsenden. Für mehrere extrem rechte Kandidaten wie Jens Maier und Andreas Harlaß hat es damit nicht gereicht und sie können trotz hoher Zustimmungswerte nicht in den Bundestag einziehen.

Festzustellen bleibt, dass die AfD in Sachsen seit 2017 bei allen Wahlen und in allen Prognosen kontinuierlich bei mehr als 22% der Wähler*innenstimmen liegt. Wir müssen somit von einer stabilen und verfestigten Stammwähler*innenschaft der AfD in Sachsen von über 20 Prozent sprechen.

Die AfD ist dort stark, wo rechte Tendenzen lange ignoriert wurden und wo auch rechte Netzwerke stark ausgeprägt sind. Die Partei erreicht in einigen Regionen Ostsachsens und in einzelnen Wahlkreisen in der Sächsischen Schweiz zwischen 40 und 50% der Erst- bzw. Zweitstimmen. Die Strategie der Partei durch permanente Selbstverharmlosung und der Darstellung als konservativ, bürgerlich und als Volkspartei in der Mitte der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, ist – zumindest im ländlichen Raum in Sachsen – weitgehend aufgegangen. Zudem fühlt sich der überwiegende Teil der extremen Rechten durch die AfD als parlamentarischen Arm vertreten.

Anhaltender rechter Zuzug nach Sachsen

Über die Kampagne „Zusammenrücken in Mitteldeutschland“ rufen Neonazis seit 2020 öffentlich dazu auf, dass organisierte Kader ihren Lebensmittelpunkt nach Sachsen, Thüringen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt verlegen sollen. Tatsächlich ist seit einigen Jahren ein verstärkter Zuzug von extrem rechten Akteuren nach Sachsen, im speziellen in den Landkreis Mittelsachsen, die Städte Chemnitz und Dresden sowie den ostsächsischen Raum zu beobachten. Sie treffen hier auf etablierte Netzwerke und haben zahlreiche Anknüpfungspunkte. In den zurückliegenden Jahren hatten extrem rechte Akteure in Sachsen zudem Zugangsmöglichkeiten zu mindestens 97 verschiedenen Räumen, um ihre politische Arbeit umzusetzen.

Dystopischer Ausblick

Das dauerhafte, dynamische Demonstrationsgeschehen, die hohen Zustimmungswerte für die AfD, der Zuzug weiterer extrem rechter Kader und die Verfestigung von Strukturen in Form von Immobilien zeichnen ein eher düsteres Bild von Sachsen. Das Bundesland verfügt über eine mobilisierbare rechte Bürgergesellschaft, die es seit 2014/15 immer wieder geschafft hat, zu unterschiedlichen Anlässen Demonstrationen und Aktionen sichtbar auf die Straße zu bringen. Die Basis für diese rechte Bürgergesellschaft sind mehr als ein Fünftel der Menschen im Bundesland, die der AfD seit mittlerweile über fünf Jahren ihre Stimme geben und die Inhalte der Partei selbstbewusst teilen. Wir gehen davon aus, dass diese Entwicklungen auch in den kommenden beiden Jahren nicht maßgeblich rückgängig gemacht oder überwunden werden können. In der Auseinandersetzung mit der extremen Rechten in Sachsen darf aber nicht aus dem Blick verloren werden, dass es in jeder Stadt und in jedem Dorf auch Menschen gibt, die sich gegen Menschenfeindlichkeit und für demokratische Werte engagieren. Sie sind insbesondere in den ländlichen Regionen oft in einer Minderheitenrolle und zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt. Sie zu stärken und zu unterstützen wird eine zentrale Aufgabe für die kommenden Jahre sein.

 

Mehr über die aktuelle Situation und zu Gegenstrategien finden Sie beim Kulturbüro Sachsen:

 

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