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Jahresrückblick 2022 Baden-Württemberg – Corona-Protest-Hochburgen und Reichsbürger-Parallelwelten

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Der AfD-Landtagsabgeordnete Hans-Jürgen Goßner hält eine Rede auf einer Demonstration der Jungen Alternative am 15. Januar 2022 in Göppingen. (Quelle: Lucius Teidelbaum)

In Baden-Württemberg fanden 2022 mehrere tausend Demonstrationen von Pandemie-Leugner*innen statt, die im Frühjahr 2022 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten. Dabei kristallisierten sich regionale Protest-Hochburgen wie Freiburg, Göppingen, Pforzheim oder Reutlingen heraus.  Die Mobilisierungswelle dieser Corona-Proteste war noch aus dem vergangenen Jahr ins neue herüber geschwappt. Der Großteil der Protestierenden konnte nicht der organisierten extremen Rechten zugeordnet werden. Doch konnten organisierte extreme Rechte relativ problemlos mitlaufen und unterstrichen so die Rechtsoffenheit des Protests. In Pforzheim war es zum Beispiel die lokale Gruppe der „Identitären Bewegung“ „Pforzheim Revolte“, die sich teilweise mit eigenen Transparenten, auf denen „Uns kriegt ihr nie“ und „An uns bricht eure Nadel“ stand, an die Spitze des Aufzugs setzten. In Reutlingen marschierten zeitweise Mitglieder der neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“ mit.  

Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine griffen die Pandemie-Leugner*innen auch dieses Thema auf, meist mit starker Tendenz zur Putin-Verharmlosung. Im Herbst verlagerte sich die thematische Schwerpunktsetzung von Corona hin zu Energie und Inflation. Doch das Protest-Klientel blieb dasselbe.

Auffällig waren die gesteigerten Angriffe und Anfeindungen aus diesem Milieu gegen Vertreter*innen der Medien. Eine ganze Reihe von kleineren Demonstrationen fanden vor den Redaktionssitzen von lokalen Tageszeitungen in Baden-Württemberg statt. 

Behördliche Maßnahmen gegen prominente Pandemie-Leugner*innen führten bei einigen Protagonist*innen der Bewegung teilweise zu einem regelrechten Märtyrer-Kult . So wurde am 29. Juni 2022 der Querdenken-Gründer Michael Ballweg wegen des Verdachts auf Betrug und Geldwäsche festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Vor der JVA in Stuttgart-Stammheim fanden mehrere Solidaritäts-Demonstrationen für Ballweg statt, die größte davon ereignete sich am 9. Juli 2022 mit 1.000 Personen.

Geringe Resonanz für die AfD auf der Straße 

Zwar blieb die AfD auch 2022 mit Abstand der größte und einflussreichste extrem rechte Akteur in Baden-Württemberg. Dennoch konnte die Partei kaum Einfluss auf den Straßenprotest der Pandemie-Leugner*innen nehmen. Die Versuche der baden-württembergischen AfD, Anschluss an die rechtsoffenen Corona-Demonstrationen zu finden, misslangen weitestgehend. In den Protest-Hochburgen Göppingen und Reutlingen veranstaltete die AfD Demonstrationen, die versuchten das Querdenken-Milieu  gezielt anzusprechen. Besucht wurden die Veranstaltungen aber nur vom AfD-Kernklientel und überschritten kaum die Größe von 200 Personen. Selbst zu einer „Großdemonstration“ zum Thema „Wehrt euch gegen Armut, Not und Kälte“ am 12. November 2022 in Stuttgart kamen höchstens 400 Personen, obwohl dafür wochenlang mobilisiert wurde.  

Wahlen fanden 2022 in Baden-Württemberg nur auf der Ebene der Betriebsräte statt. Die AfD-nahe und rechte Pseudo-Gewerkschaft „Zentrum Automobil“ mit Hauptsitz in Stuttgart-Untertürkheim trat im Frühjahr erneut an einzelnen Standorten zur Betriebsratswahl an, ohne ihre Ergebnisse großartig verbessern zu können. 

Die gefährlichen Parallelwelten der Reichsbürger*innen

Im Jahr 2022 zeigten drei Vorfälle Baden-Württemberg erneut die Gefahr, die von Reichsbürger*innen ausgeht. Obwohl die Sicherheitsbehörden nur 5Prozent der Reichsbürger*innen als rechtsextrem einschätzen, muss die gesamte Bewegung der extremen Rechten zugeordnet werden, schon allein weil sie fast immer antidemokratisch ausgerichtet sind und von Deutschland in größeren Grenzen träumen.

Am 7. Februar 2022 überfuhr der 61-jährige alkoholisierte Manfred J. aus Efringen-Kirchen (Landkreis Lörrach), ein Sympathisant der Reichsbürger-Organisation „Ewiger Bund“, bei einer Routine-Verkehrskontrolle in Wintersweiler bei Efringen-Kirchen einen 39-jährigen Polizisten und verletzte ihn dabei schwer. Er floh vom Tatort und wurde dabei von Polizisten beschossen, zweimal am Arm getroffen und schließlich festgenommen.

Der Täter war den Behörden bereits bekannt. Die Polizei schrieb in einer Pressemitteilung: „Von Anfang bis Mitte des Jahres 2021 fiel er durch entsprechende Beleidigungen politischen Inhalts auf, im Zusammenhang mit Polizeikontrollen zur Einhaltung von Corona-Maßnahmen. In diesem Zusammenhang war er angeklagt und in einem Fall zu einer Geldstrafe verurteilt worden – ein anderer Fall sei gerichtlich noch anhängig.

Am 20. April 2022 kam es in Boxberg (Main-Tauber-Kreis) bei einer SEK-Hausdurchsuchung bei dem 55-jährigen Reichsbürger Heiko Ingo K. zu einem Schusswechsel mit der Polizei. Dabei wurde ein Polizist ins Bein getroffen. Es kam auch zu mehreren Explosionen infolge einer Brandstiftung. Nach Verhandlungen gab der Reichsbürger auf und wurde festgenommen. Dem Festgenommenen wird 15-facher Mordversuch vorgeworfen. Im Haus entdeckte die Polizei auch Nazi-Devotionalien und Reichsflaggen. Fotos zeigen eine rote Tyr-Rune aus Holz an der Hauswand. Diese Runen werden auch Kampfrunen genannt und waren Abzeichen der Reichsführerschulen der NSDAP.

Am Morgen des 7. Dezember 2022 kam es bundesweit zu Hausdurchsuchungen gegen eine terroristische Reichsbürger-Gruppe, die einen Umsturz plante. In Baden-Württemberg wurden dabei 38 Objekte durchsucht. Zwei der Festgenommenen waren bei den Pandemie-Leugner*innen in Pforzheim aktiv. Eine Durchsuchung betraf die Zeppelin-Kaserne des „Kommandos Spezialkräfte“ in Calw. Hier wurde Andreas M., ein Logistiker im Stab des Bundeswehrverbandes, verhaftet.

Kleine, aber gefährliche Neonazi-Szene   

Doch die Gefahr ging in Baden-Württemberg nicht nur von Reichsbürger*innen aus. Am 24. Januar 2022 erschoss in Heidelberg der 18-jährige Nikolai G. aus Mannheim gezielt eine 23-jährige Studentin und verletzte weitere drei Studierende. Im Anschluss an die Tat tötete er sich selbst. Bei einer Hausdurchsuchung am 20. März 2020 bei dem damaligen Parteivorsitzenden der Neonazi-Partei „Der III Weg“, Klaus Armstroff, wurde ein unterschriebener Fördermitgliedsantrag von Nikolai G. beschlagnahmt. 

Wichtig für Neonazi-Aktivitäten sind auch eigene Immobilien. Davon gibt es im Vergleich zu anderen Bundesländern in Baden-Württemberg nur wenige. Eine  dieser Immobilien im Südwesten ist das so genannte „Jugendheim Hohenlohe“ ist Herboldshausen (Landkreis Schwäbisch Hall). Das ausgebaute große Bauernhaus betreibt der völkische „Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff)”. Immer wieder wird es aber auch anderen extrem rechten Gruppen zur Verfügung gestellt. So fand hier am 9. und 10. April 2022 das Aktivistenwochenende der „Identitären Bewegung Schwaben“ statt, an dem etwa 30 Personen teilnahmen. Vom 14. bis 16. Oktober 2022 trafen sich etwa 30 Mitglieder der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationalisten“ in Herboldshausen um einen sogenannten „Gemeinschaftstag Süd“ durchzuführen und einen „Stützpunkt“ zu gründen. 

Die klassische Neonazi-Szene hatte in Baden-Württemberg zwei Abgänge wichtiger Akteure. Am 31. März 2022 verstarb Günther Deckert, Holocaustleugner und NPD-Funktionär. Zu einem „Trauermarsch für Günter Deckert“ in Weinheim am 16. April 2022 kamen lediglich 40 Personen. Am 16. Oktober 2022 verstarb mit Christian Hehl in Mannheim ein Schwergewicht der Szene im Alter von 53 Jahren. Hehl saß von 2014 bis 2019 für die NPD im Stadtrat von Mannheim und war als rechter Hooligan sehr umtriebig. Auf seinem  rechten Arm befand sich eine Hakenkreuz-Tätowierung. Bei der Beerdigung von Hehl im Friedwald im rheinland-pfälzischen Dudenhofen am 10. Dezember 2022 kamen rund 300 Trauergäste aus der rechten Szene zusammen.

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