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Jahresrückblick 2022 Rheinland-Pfalz – Zwischen Enttäuschung und Terror

Ein Neonazi auf der Demonstration der "Neue Stärke Partei" am 16.07.2022 in Mainz. (Quelle: JFDA e.V. )

2021 kamen Neonazis und Querdenker*innen scharenweise ins flutgeschädigte Ahrtal und boten sich in der Krise als angebliche Kümmer*innen an. In breiten Teilen der Gesellschaft haben ihre Aktivitäten offenbar nicht verfangen, jedenfalls schweigen die ansonsten so kommunikativen „Querdenker:innen ebenso konsequent über etwaige Erfolge im Ahrtal wie die Neonazis. Letztere haben sogar sichtbare Rückschläge hinzunehmen: Ihren seit 2009 jährlich stattfindenden Aufmarsch im unweit der Ahr gelegenen Remagen haben sie im Jahr 2022 erstmals abgesagt – wegen zu geringer Beteiligung, wie die Organisator*innen offen zugeben. Beides sind Indikatoren für einen Wandel des Rechtsextremismus in Rheinland-Pfalz.

Energie-Proteste, aber kein „Wutwinter“

Die Diskussion über eine allgemeine Impfpflicht bot der Corona-Protestbewegung im Winter 2021/22 einen Anlass, wöchentlich zu über 200 Versammlungen im Bundesland zu mobilisieren Damit erreichte diese ihren Höhepunkt. Dabei kam es auch zu Gewalt von den Teilnehmenden gegen Gegendemonstrant*innen, Journalist*innen und die Polizei. Parallel dazu wurden jene Bürger*innen Opfer von Bedrohungen und Angriffen, die die Regeln des Infektionsschutzes im Alltag einforderten. Die Bewegung ebbte ab, als sich die pandemische Lage entspannte und die staatlichen Schutzmaßnahmen größtenteils abgeschafft wurden. Hinzu kam die mediale Überlagerung der Pandemie durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Infolgedessen nahm die Mobilisierungsfähigkeit auf den Straßen sowie die Gewalt im Alltag ab. Zurück blieb ein stabiler Kern Aktiver, der punktuell trotzdem noch größere Dynamik erzeugen konnte, wie am 28. Mai 2022, als eine Großdemonstration von 3000 Menschen auf das Demokratiefest beim Hambacher Schloss hindrängte und die dortige Zivilgesellschaft auf Weisung der Polizei zur Deeskalation ihre Stände abbaute.

Die Corona-Protestbewegung reagierte auf die veränderte politische Lage, indem sie ab Herbst die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Energiekrise thematisierte. Hierüber stießen auch neue Teilnehmer*innen zum stabilen Kern der Protestszene. Nahezu die gesamte Bewegung lehnt die Sanktionsmaßnahmen gegen Russland ab und sympathisiert offen mit dem autoritären russischen Regime, unterstützen es politisch und nutzt vom Kreml kontrollierte Quellen und Medien. In Putin findet dieses Milieu einen strategischen Partner, der selbst versucht, die westlichen demokratischen Gesellschaften durch das Verbreiten von Fake News und das Schüren von Angst und Unsicherheit zu destabilisieren. Das Anstacheln dieser Proteste ist damit auch zu begreifen als Teil einer hybriden Kriegsführung Russlands. Ein radikaler Teil der Bewegung versteht nach der Corona- nun die Energie-Krise als Chance auf die Überwindung des demokratischen Verfassungsstaates.

Insgesamt sind bei den Energie-Protesten jedoch noch keine Dynamiken festzustellen, wie sie im vorherigen Winter in Rheinland-Pfalz zu beobachten waren.

Rechte Wut und Gewalt

Wie schnell rechtsextreme Wut in Gewalt münden kann, zeigte auch der 2022 verhandelte Prozess gegen Mario N., der im Vorjahr einen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein erschossen hatte, nachdem dieser ihn auf die Maskenpflicht hingewiesen hatte. Der Täter bewegte sich online auf rechtsextremen Kanälen; er wollte mit seiner Tat Angst und Verunsicherung schüren und eine politische Botschaft senden. Unmittelbar ging es ihm um die Abschaffung der Maskenpflicht und mittelbar um die Abschaffung des politischen Systems.

Für Schlagzeilen sorgte auch die Tötung von zwei Polizist*:innen am 31. Januar 2022 im Landkreis Kusel, die von einem Wilderer erschossen wurden. Teile der Corona-Protestszene billigten den Mord an den Beamt*innen, nicht wenige feierten ihn sogar, da sie in den Opfern Repräsentant*innen des ihnen verhassten Staates sahen. Wegen entsprechender Hasspostings im Internet durchsuchte die Polizei bundesweit über 80 Wohnungen; ein selbsternannter „Cophunter“ wurde angeklagt, weil er, inspiriert von dem Doppelmord in Kusel, Polizist*innen in Hinterhalte locken wollte.

Ermittlungen gegen Rechtsextreme verhinderten in einer ganzen Reihe von Fällen wohl Schlimmeres: Im April 2022 nahm die Polizei vier mutmaßliche Mitglieder der „Atomwaffen Division Deutschland“ fest und durchsuchte bundesweit 61 Objekte, auch in Rheinland-Pfalz. Ebenfalls im April folgte ein Ermittlungsverfahren gegen die „Vereinten Patrioten“, die unter anderem die Entführung des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach geplant haben sollen, ein Hauptbeschuldigter stammt aus Neustadt an der Weinstraße. Bei einer weiteren Razzia gegen terrorverdächtige Reichsbürger*innen gab es im Dezember 2022 Durchsuchungen in Rheinland-Pfalz.

Die Bewaffnung der Szene war 2022 mehrfach öffentlich Thema: Bekannt wurde zum Beispiel, dass ein Neonazi aus dem Ahrtal über mehrere Monate in einem Sportverein mit legalen Schusswaffen trainierte. Ein Querdenker aus Wittlich wurde verurteilt, weil er mit seinem 3D-Drucker Bauteile zur Herstellung von Waffen gedruckt und bereits eine halbautomatische Pistole daraus konstruiert hatte . Waffen und Munition fand die Polizei auch bei einem Reichsbürger in Siebeldingen. Die Landesregierung hat Kenntnis von 114 Rechtsextremen, die über Waffenscheine verfügen und somit Waffen legal führen dürfen.

Rechtsextreme Lebenswelten

Als Teil der Gesellschaft ist die Polizei selbst wiederum nicht vor Rechtsextremismus gefeit, was sich etwa an einem 2022 eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen Polizist*innen in Rheinland-Pfalz zeigt, die von Juli 2018 bis 2021 rechtsextreme Nachrichten in einem Chat gepostet haben sollen. Solche Chats sind ein Beispiel für rechtsextrem beeinflusste Online-Räume. Wer sich in solchen Lebenswelten bewegt, läuft Gefahr, die zentralen Überzeugungen der Rechtsextremen und ihre Menschenverachtung zu verinnerlichen – Bedingungen, die dann häufig in der Billigung oder gar Anwendung von Gewalt resultieren.

Rechtsextreme Kader widmen sich gezielt der Verbreitung rechtsextremer Ideologie und der Einbindung vor allem jüngerer Aktivist:innen in die Szene. Beispielsweise schaffen sie mit Rechtsrockkonzerten gemeinsame Erlebnisse: Diese Events binden Menschen an die Szene, stabilisieren soziale Beziehungen und verbreiten nebenher zentrale politische Überzeugungen. Über Eintrittsgelder und Streams sowie durch den Verkauf von Tonträgern und Merchandise wird die Szene zudem finanziert.

Auffällig waren 2022 in Rheinland-Pfalz diverse Saalveranstaltungen, die von einem Neonazi aus der Südwestpfalz ausgerichtet wurden. Auf den als „politische Gesprächskreise“ beworbenen Veranstaltungen sollen unter anderem Jürgen Elsässer (Compact) und Peter Richter (NPD) gesprochen haben. Solche Formate richten sich weniger an eine breite Öffentlichkeit als nach innen. Sympathisant*innen sollen sich dort vernetzen, politisch geschult und weltanschaulich gefestigt werden. Offenbar misst der Veranstalter solchen Schulungen eine große Bedeutung bei und sucht deswegen aktuell aktiv nach einer käuflichen Immobilie in der Pfalz.

Rechtsextreme Aufmärsche

Besonders sichtbar ist die rechtsextreme Szene bei öffentlichen Versammlungen. In Rheinhessen verfolgen sie eine Ermüdungsstrategie: Weil sie sich hier häufig zu Klein- und Kleinstdemonstrationen versammelt, sehen zivilgesellschaftliche Initiativen sich genötigt, stets aufs Neue Gegenproteste zu organisieren. Als Veranstalter*innen der rechten Kundgebungen tritt die „Kameradschaft Rheinhessen“ respektive „Die Rechte“ oder ein regionaler Ableger der „Neue Stärke Partei“ auf. Im Wesentlichen handelt es sich aber immer um denselben Personenkreis, der bei Versammlungen mitunter vom „Nationalen Widerstand Zweibrücken“ und der NPD personell unterstützt wird.

Mit der diesjährigen Absage des über viele Jahre hinweg wiederholten Aufmarsches in Remagen hat die Szene zwar einen wichtigen Termin aus dem Kalender gestrichen, verschwunden ist das damit verbundene Thema aber nicht. Bezugspunkt des Aufmarsches waren die entlang des Rheins gelegenen Kriegsgefangenenlager der Alliierten, die sogenannten Rheinwiesenlager. Den Neonazis boten sie Gelegenheit, Deutsche als Opfer des Krieges zu inszenieren und den Nationalsozialismus zu verherrlichen. Ihre plakative Botschaft: „1 Million Tote rufen zur Tat.“ Der Aufmarsch ermöglichte es den Demonstrierenden, sich öffentlich direkt in eine Reihe mit den Kämpfer*innen des Nationalsozialismus zu stellen.

Diese Inszenierung hat die örtliche Zivilgesellschaft immer wieder kreativ durchkreuzt und damit ihren Beitrag zur diesjährigen Absage geleistet. Der Termin in Remagen scheint Geschichte zu sein, doch an anderer Stelle besteht die Tradition fort: In Bretzenheim fanden, wie schon in den Jahren zuvor, auch 2022 zwei neonazistische Kundgebungen am Denkmal für das dortige Rheinwiesenlager statt.

Das Thema und die Akteur*innen verschwinden also nicht. Was auf der Straße aber generell an Bedeutung gewinnt, sind breite Sammlungsbewegungen, wie wir sie bei „Pegida“, den Corona- und aktuell den Energie-Protesten beobachten konnten. Dort vermischen sich politische Spektren, die deutlich über die organisierte extreme Rechte hinausreichen. Die Proteste sind viel dynamischer und haben eine größere Außenwirkung über soziale Medien und Massenmedien.

Rechtsextreme Netzwerke

Wichtiger Bestandteil solcher Sammlungsbewegungen sind rechtsextreme Gruppen, die sich wiederum zu formalen Netzwerken oder informellen Kommunikationszusammenhängen zusammenfinden, woraus sich politische Synergien, neue Handlungsspielräume und politische Aktivitäten ergeben.

Ersichtlich wird diese Form der Kooperationsfähigkeit bei neonazistischen Versammlungen, in die auch in diesem Jahr wieder verschiedene Parteien und Kameradschaften eingebunden waren. Netzwerke können aber auch spontan entstehen, wie die Beisetzung des Neonazis Christian Hehl am 10. Dezember in Speyer gezeigt hat, wo sich aus diesem Anlass eine Mischszene aus dem Rocker-, Fußball- und Neonazimilieu zusammenfand.

Eine relativ junge Gruppe mit vielschichtigem Netzwerk ist „Revolte Rheinland“. Als Ableger der „Identitären Bewegung“ gegründet und darin verwurzelt, beteiligt sie sich punktuell an Corona- und Energie-Protesten in Koblenz und versucht, mittels Plakat- und Stickeraktionen in der Großregion dauerhaft öffentlichen Raum zu reklamieren und zu besetzen. Sie agiert über Rheinland-Pfalz hinaus entlang des Rheins von Koblenz bis Düsseldorf.

In Schnellroda nahmen Gruppenmitglieder an der Sommerakademie des „Instituts für Staatspolitik“ teil. Ein Kopf der Gruppe arbeitete früher für die AfD in Trier und war bereits 2010 vom Bundeskriminalamt als „relevante Person“ eingestuft worden. Diesem Personenkreis trauen die Sicherheitsbehörden zu, erhebliche politisch motivierte Straftaten zu begehen.

Rechtsextremismus im Wandel

Ein Teil des organisierten Rechtsextremismus in Rheinland-Pfalz agierte 2022 in altbekannten Formen und musste dabei auch Niederlagen hinnehmen wie im Ahrtal, in Remagen oder bei den schwach besuchten Versammlungen in Rheinhessen. Ein anderer Teil reagierte auf die gesellschaftlichen Krisen und gestaltet den Wandel des Rechtsextremismus aktiv mit. Diesen Wandel kennzeichnet eine Parallelität von Massenmobilisierungen auf den Straßen anlässlich der Corona- und der Energie-Krise einerseits und einer verstärkten Hinwendung zu Gewalt und Terrorismus andererseits.

Bestärkt von den Massenbewegungen im Winter 2021/22 sehen Rechtsextreme die Gelegenheit, auf den Straßen politischen Druck auszuüben, und feiern Erfolge, weil ihre Themen und Standpunkte in größeren Teilen der Bevölkerung Anklang finden und massenmedial verhandelt werden. Ihnen ist es gelungen, über die eigene Szene hinaus andere Akteur*innen- und Milieuzusammenhänge zu erreichen und mit diesen gemeinsam zu agieren. Autoritäre Grundeinstellungen und Verschwörungsideologien fungieren als verbindende Elemente. Andere Rechtsextreme sind enttäuscht, dass trotz der großen Aufmerksamkeit eine radikale Umwälzung der Republik ausblieb, und haben sich entschieden, zu den Waffen zu greifen, um dem Sturz des Systems nachzuhelfen. Die Razzien von 2022 vermitteln einen Eindruck davon.

 

Zur Person

Luis Caballero ist Soziologe und beschäftigt sich unter anderem mit Demokratietheorie und empirischer Demokratieforschung, der extremen Rechten und Rechtspopulismus. Er ist Mitglied der Forschungsgruppe „Extreme Rechte und Rechtspopulismus in Rheinland-Pfalz“ und publiziert regelmäßig zu diesen Themenfeldern, so unter anderem die Studie: „Entwicklung der extrem rechten und rechtspopulistischen Szene unter besonderer Berücksichtigung von Rheinland-Pfalz“.

Max Gerlach ist Teil der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Rheinland-Pfalz und arbeitet dort mit an der Schriftenreihe „inforex“.

 

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