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Jahresrückblick 2022 Schleswig-Holstein – Wo die AfD aus dem Landtag fliegt

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Ein abgerissenes Wahlplakat der Alternative für Deutschland (AfD) an einer Werbetafel für Wahlwerbung. Die AfD verpasste den Wiedereinzug in den Landtag 2022. (Quelle: picture alliance / SULUPRESS.DE | Torsten Sukrow/SULUPRESS.DE)

Am Abend des 8. Mai vergangen Jahres offenbart die Hochrechnung: Die „Alternative für Deutschland“ (AfD) zieht nicht erneut den Landtag von Schleswig-Holstein ein. In dem Land zwischen Nord- und Ostsee scheiterte die AfD erstmal nach einer Reihe von Bundestag- und Landtagswahlerfolgen an der 5-Prozent-Hürde. Die Enttäuschung war Spitzenkandidat Jörg Nobis am Abend anzusehen. „Krisenzeiten“ seien „Regierungszeiten“ versuchte der AfD-Spitzenkandidat das Wahlergebnis von 4,4 Prozent zu erklären, räumte aber ein, dass der „interne Streit“ vom „Wähler nicht goutiert“ wurde.

In den vergangenen Monaten war dieses Scheitern dennoch nicht ganz zu erwarten. Die Prognosen schwankten zwischen 5 und 7 Prozent. Schon früh im Landtagswahlkampf bemühte sich der Landesverband, als Partei gegen die staatlichen Pandemie-Massnahmen aufzutreten. Keine politische Entscheidung zum Coronavirus, die die Landtagsgruppe um Nobis nicht kritisierte. Der Grund war offensichtlich: Eine Wahlumfrage von Forsa zur Bundestagswahl 2021 ergab, dass von den „Nicht-Geimpften“ 50 Prozent angaben, die AfD gewählt zu haben. Weitere Studien bestärkten den Zusammenhang von Protest gegen die Maßnahmen und AfD-Nähe.

Der Landesverband setzte auf diese Strategie, berücksichtigte jedoch nicht die doppelte Konkurrenz in dieser Thematik. Zum einen hatte die FDP mit ihrem Bundestagsabgeordneten aus Schleswig-Holstein, Wolfgang Kubicki, einen lautstarken Kritiker gegen die Impfpflicht. Zum anderen kandidierte auch „Die Basis“ für den Kieler Landtag, eine Partei, die nur aufgrund der Pandemie-Massnahmen überhaupt gegründet wurde. Am Wahltag erzielte die Basis mit ihrem Spitzenkandidaten David Claudio Siber 1,1 Prozent. Die antisemitischen Formulierungen von bekannte Basis-Aktiven könnte mögliches Klientel aus dem alternativen Milieu bewegt haben, die Basis nicht zu wählen. Die AfD verlor allerdings rund 6.000 Wähler*innen an die FDP. Zur CDU wanderte zudem 9.000 Wähler*innen ab.  Das mag an der großen Beliebtheit des Ministerpräsidenten Daniel Günther liegen, dem es – anders als in seiner Partei befürchtet – nicht geschadet hat, dass er sich in der vergangenen Legislaturperio­de klar von AfD-nahen Positionen distanzierte.

Die AfD mit ihren rund 1100 Mitglieder war allerdings auch lange ohne feste Landesführung. Ein anhaltender Streit um die ehemalige AfD-Landtagsabgeordnete und -Landesvorsitzenden Doris von Sayn-Wittgenstein führte zum Verlust des Fraktionsstation und belastete das Parteileben. Die Bundesführung setzte ihren Ausschluss wegen rechtsextremen Kontakten erst durch. Der nach der Landtagswahl gewählte Landesvorsitzende Kurt Kleinschmied bemüht sich seitdem den Verband besser aufzustellen.

NPD wird „Heimat Neumünster“

Die NPD hatte auf eine Kandidatur zur Landtagswahl verzichtet. Seit Jahren konzentriert sich der Landesverband um den Landesvorsitzenden Mark Porch auf Neumünster. Hier in der Stadt sitzt Porch mit Horst Micheel im Stadtrat. Im Dezember nannte sich die Fraktion in „Heimat Neumünster“ um. Der Grund, laut NPD: „Die Corona-Proteste und die Demonstrationen gegen Energiepreiserhöhungen und Inflation, an denen auch unser Fraktionsvorsitzender Mark Porch regelmäßig teilnahm, haben uns verdeutlicht, dass viele Bürger zu einer systemkritischen Politik bereits sind, aber trotzdem nicht die NPD unterstützen möchten. Diesen Bürgern reichen wir als „Heimat Neumünster“ die Hand.

Einige „parteilose Patrioten“ wollen sie ebenfalls neu eingebunden haben. Propaganda? Auffallend ist, die von Karin Mundt als Privatperson angemeldeten Aktionen etwa für den rechtsextremen Treffpunkt „Titanic“ in Neumünster hatten wegen steigenden Kosten kaum Zulauf. In der Szene ist die rechtsextreme Musikerin jedoch ein Star. Die NPD, mit ihren an die 100 Mitgliedern, hat sie zu ihrer stellvertretenden Landesvorsitzende bestimmt. Trotzdem sei es der NPD weder gelungen, einen „Wutwinter“ anzustoßen, noch die Sorgen und Ängste wegen den Folgen der Pandemie in Deutschland und des Krieges in der Ukraine strukturell zu nutzen, sagt Torsten Nagel. Der Leiter der Regionalen Beratungsteams der AWO in Schleswig-Holstein möchte allerdings keine Entwarnung geben.

Kameradschaften, Rechtsrock-, Kampfsport und Rockermilieu

Seit Jahren besteht in dem Bundesland eine sehr virulente Mischszene aus Kameradschaften, Rechtsrock-, Kampfsport- und Rockermilieu. Die Aktiven, teils mit NPD-Vita, bewegen sich in den Spektren. Die staatlichen Maßnahmen wegen der Corona-Pandemie schränkten die örtlichen Aktivitäten ein. In Neumünster schloss die Szene-Kneipe „Titanic“. Das hätte über Jahre zivilgesellschaftlicher Protest gefordert, der dem Betreiber Micheel auch das Kneipenführen schwer gemacht hatte. Im Internet waren Teil der rechtsextremen Szene jedoch umso mehr aktiv. Das parteiunabhängige und unstrukturierte Spektrum schätzt der Verfassungsschutz (VS) zusammen auf 965 Personen ein. Der VS geht von insgesamt 1200 Rechtsextremen in Schleswig-Holstein aus, 350 Aktive macht der VS als gewaltbereit aus.

Rechtsextreme Gewalt

Die Übergriffe und Anfeindungen von Rechtsextremen gegen markierte Feinde fanden 2022 weiter statt. In Schleswig-Holstein erfolgten wie in den Vorjahren rassistische, antisemitische oder rechtsmotivierte Angriffe, sagt Felix Fischer von ZEBRA (Zentrum für Betroffene rechter Angriffe). Eine Einschätzung, wie sich die Zahl der Angriffe und die Aufschlüsselung nach verschiedenen Tatmotivationen im Vergleich zu den Vorjahren entwickelt hat, lässt sich Anfang Januar 2023 noch nicht ableiten.  „Exemplarisch können aber die zahlreichen Angriffe auf politische Gegner*innen in Flensburg in der ersten Jahreshälfte oder der homofeindlich motivierte Angriff im November vor einer Kieler Bar genannt werden“, so Fischer. Und „auch Rassismus als Tatmotiv von rechten Angriffen“ spielte eine große Rolle.

Die rechtsextreme Gewalt hat in Schleswig-Holstein eine lange Kontinuität. Vor 30 Jahren warfen zwei Rechtsextreme in Mölln Brandsätze auf zwei Häusern, in denen migrantische Familien lebten. In der Nacht vom 23. November 1992 starben in dem Haus in der Mühlenstraße Yeliz Arslan, 10 Jahre alt, Ayşe Arslan, 13 Jahre alt, und Bahide Arslan, 51 Jahre alt. Die Anteilnahe für die Betroffen war groß. Privatleute, Personen des öffentlichen Lebens, Schulen und Vereine schickten Trauerkarten und Briefe. Diese Solidaritätszeugnisse indes blieben Jahrzehnte lang liegen – die Stadt leitete sie nicht weiter.  „Keinen einzigen Brief hat die Stadt damals an meine Familie weitergeleitet“, sagt ­Ibrahim Arslan, der als Siebenjähriger den Anschlag überlebt hat. Dreieinhalb Stunden nach dem Brand in der Mühlenstraße fand die Feuerwehr den Jungen völlig verrußt und gänzlich vom Löschwasser unterkühlt.

Wenige Monate vor den Gedenkveranstaltungen wegen des Brandanschlages brannte es wieder. Am 5. September lösten bis heute Unbekannte im Eingangsbereich der Möllner Moschee ein Feuer aus. Die Moschee liegt mitten im Stadtzentrum. Bina Braun, grüne Landtagsabgeordnete aus dem Kreis Herzogtum Lauenburg, sagte: „Ich bin schockiert und bestürzt. Es zeigt, wie wichtig es ist, die Erinnerung an die Brandanschläge wachzuhalten und sich mit den Ursachen auseinander zu setzen.“

Störung von virtuellem Holocaustgedenken

Die Erinnerungskultur zur rechten Gewalt griffen Rechtsextreme in virtuellen Raum an. Eine Zoom-Gedenkveranstaltung zum Holocaustgedenktag der Gedenkstätte Ahrensbök stören sie. Der Historiker und Zeitzeuge Jörg Wollenberg sprach über den Todesmarsch von ­Auschwitz nach Holstein und die Bombardierung der „Cap Arcona“ mit Tausenden KZ-Häftlingen an Bord. Nach etwa 30 Minuten begannen sechs Männer, Hakenkreuze und weitere Schmierereien in ihre Kameras zu halten und „Heil Hitler“ zu skandierten, berichtete Gedenkstättenleiter Sebastian Sakautzki.

IB versuchte, unauffällig an Coronaleugner*innen anzudocken

Im digitalen Raum bemühte sich die Identitäre Bewegung (IB) 2022 wenig um den vorpolitischen Diskurskampf. Ohne ihr Logo, das gelbe „Lambda“ auf schwarzem Grund, versuchte die IB sich bei den Querdenken- und Corona-Leugnungs-Bewegung einzureihen. Schon das Nichtnutzen ihres Logos deutet an, dass sie nicht einschätzen konnten, ob sie erwünscht seien. Diese Bedenken hatte Anhänger*innen der NPD-nahen Kampagne „Gegengift“ nicht. In Lübeck marschierten sie erkennbar bei Corona-Maßnahmen-Proteste mit. Diese Bewegung ist weiterhin aktiv, sagt Nagel. Und sie grenze sich nach rechts in ihrer Demokratiefeindlichkeit kaum ab. Die Relativierungen des Nationalsozialismus und das Verbreiten von Verschwörungsnarrativen forciere immer noch antisemitische Motive. Eine weitere Mischszene könnte sich fest etablieren.

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