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Jahresrückblick 2023 Nordrhein-Westfalen: Spektrenübergreifende Mobilisierungen

Nicht ganz so standfest: Die "Revolte Rheinland" postet zwar Wanderungen auf Instagram, verhüllt aber ihre Gesichter (nicht aber ihren Frauenmangel). (Quelle: Screenshot)

Nichts ging mehr für die rund 1.500 Abtreibungsgegner*innen und selbst ernannten „Lebensschützer“, die sich am Nachmittag des 16. September 2023 auf dem Kölner Heumarkt versammelt hatten. Ihr eigentlich geplanter „Marsch für das Leben“ endete nach wenigen hundert Metern, da annähernd 3.000 Gegendemonstrant*innen die Straßen rund um den Versammlungsort in der Altstadt blockierten. Dem Bundesverband Lebensrecht (BVL), einem Zusammenschluss von 15 Anti-Choice-Vereinen, der die Veranstaltung in Köln sowie einen zeitgleich stattfindenden „Marsch für das Leben“ in Berlin organisiert hatte, blieb daher kaum mehr, als im Nachgang über die aus seiner Sicht „nicht genügend vorbereitete“ und „überforderte“ Polizei zu lamentieren, die die „pöbelnden“ und „teils antidemokratischen und intoleranten Gruppierungen“ nicht auf Abstand gehalten hätten – gemeint waren das breite Spektrum zivilgesellschaftlicher, feministischer und antifaschistischen Gegendemonstrant*innen. Besonders empört zeigte sich der BVL über die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die sich öffentlich gegen den „Marsch für das Leben“ positioniert hatte und explizit begrüßte, dass „sich viele Kölnerinnen und Kölner“ der Intention der Veranstaltung entgegenstellten, „Frauen die Verfügungsgewalt über ihren Körper und ihre Gesundheit“ nicht zu überlassen. Der BVL stilisierte sich indessen zu einer angeblich sach- und menschenrechtsorganisierten Organisation, die sich von „jeglicher Gewalt und jeglichem Extremismus“ distanziere.

Antifeminismus als „Scharnier“

Ein Blick auf die Personenkreise, die sich auf dem Heumarkt versammelt hatten, lässt dieser Behauptung jedoch fragwürdig erscheinen. Nach Angaben des Projekts „Spotlight – Antifeminismus erkennen und begegnen“ und der Mobilen Beratung im Regierungsbezirk Köln tummelten sich auf der zeitweise auch von der Kölner CDU beworbenen Veranstaltung neben Anhänger*innen einschlägiger Gruppierungen der „Lebensschutzbewegung“ auch Angehörige extrem rechter Burschenschaften, Aktivist*innen aus dem Umfeld der vormaligen „Identitären Bewegung„, die nun etwa unter dem Label „Revolte Rheinland“ firmieren, sowie Mitglieder und Funktionsträger*innen der AfD und ihrer Nachwuchsorganisation Junge Alternative (JA).

Dies ist freilich nicht ungewöhnlich. Auch bei anderen Veranstaltungen des vorwiegend christlich-fundamentalistischen Anti-Choice und „Lebensschutz“-Spektrums sind Akteur*innen des extrem rechten Spektrums regelmäßig präsent – so etwa auch anlässlich des regelmäßig in Münster stattfindenden, von der fundamentalistischen Organisation EuroProLife so genannten „1000-Kreuze“-Märsche, an dem Anfang Oktober 2023 etwa 90 Personen teilnahmen. Spotlight und die Mobile Beratung im Regierungsbezirk Köln verweisen daher nicht nur anlässlich dieser Veranstaltungen auf die „gesellschaftliche Scharnierfunktion“, die Antifeminismus „zwischen Konservatismus und extremer Rechter“ einnimmt.

Spektrenübergreifende Mobilisierungen, in denen unterschiedliche rechtsoffene, extrem rechte, (christlich)fundamentalistische und verschwörungsideologische Akteur*innen, Gruppierungen und Netzwerke auf Basis gemeinsam geteilter Ressentiments, Feindbilder und Kampfbegriffe zusammenfanden, kennzeichneten jedoch grundsätzlich das Rechtsaußen-Geschehen in NRW im Jahr 2023.

Rassismus, Verschwörungsideologien und Putin-Verklärung – Das Fortwirken der „Querdenken“-Bewegung

Diese Feststellung gilt nicht zuletzt für die Aktivitäten von Pandemieleugner*innen, Impfgegner*innen und Verschwörungsideolog*innen, die zwar im Vergleich zu den vergangenen drei Jahren mit dem Abebben der Corona-Pandemie deutlich an Resonanz und Teilnehmer*innen eingebüßt haben, gleichwohl aber in unterschiedlichen Formen weiter stattfanden und von Aufkleber- und Graffittiaktionen bis hin zu Kundgebungen, „Spaziergängen“ und Demonstrationen reichten. Diese wurden maßgeblich von lokalen und regionalen Strukturen wie etwa „Bielefeld steht auf!“, „525. Bürgerinitiative Paderborn“, „Kreis PB steht auf!“ oder „Grundrechte Paderborn“ getragen, die jedoch ihren Mobilisierungsradius zu erweitern versuchten.

Als landesweit agierender seit Juli 2022 bestehender Zusammenschluss, dem Gruppierungen wie die Corona Rebellen Bergisches Land, die Corona Rebellen Düsseldorf, die Freien Düsseldorfer oder der Demokratische Widerstand Dortmund firmiert das Bündnis NRW erwacht!, das im Jahr 2023 etliche Demonstrationen durchführte. So zogen unter diesem Motto Mitte März etwa 500 Menschen durch die Dortmunder Innenstadt. Im Mai folgten in Bochum rund 300 Personen dem Aufruf von „NRW erwacht!“. Im August waren es 200 in Wuppertal und zu der vollmundig als „Großdemonstration“ beworbenen Versammlung in Bielefeld Anfang Oktober kamen knapp 300 Menschen. Die Teilnehmendenzahlen erreichten somit nicht annähernd das Niveau der vergangenen Jahre, in denen die Szene der Pandemieleugner*innen und Verschwörungsideolog*innen teilweise mehrere tausend Anhänger*innen mobilisieren konnte.

Der grundlegende weltanschauliche Referenzrahmen der Veranstaltungen hat sich indessen kaum verändert. Nach wie vor ist hier von der „Fake-Pandemie“ und dem vermeintlich drohenden „Great Reset“ die Rede. Ergänzt werden diese verschwörungsideologischen und vielfach antisemitisch aufgeladenen Narrative durch die Leugnung des Klimawandels, Polemiken gegen das politische System der Bundesrepublik, die sich, so war etwa auf der „NRW erwacht!“-Demonstration in Bochum zu vernehmen, schon bald in ein „Konzentrationslager“ verwandeln werde, apologetischen, in vermeintlich friedensbewegter Diktion vorgetragenen Bezugnahmen auf das autoritäre Putin-Regime in Russland sowie rassistische und geflüchtetenfeindliche Parolen.

Eine ideologische Gemengelage, in der sich auch Markus Beisicht, ehemals Vorsitzender der 2019 als Partei aufgelösten „Bürgerbewegung pro NRW“ tummelte. Mit der von ihm geführten, lokal agierenden Nachfolgeorganisation „Aufbruch Leverkusen“ versuchte er sich gleichermaßen als Sprachrohr von Impfgegner*innen und Pandemieleugner*innen wie auch als Apologet des Putin-Regimes zu inszenieren, indem er etwa gemeinsam mit den rechtsoffenen prorussischen Aktivist*innen Elena Kolbasnikova und Max Schlund im Mai und August 2023 zu Autokorsos „für den Frieden“ mobilisierte, die aber kaum etwas anderes als die propagandistische Legitimierung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine bezweckten. Die personellen, weltanschaulichen und rhetorischen Übergänge zwischen Pandemieleugner*innen und Verschwörungsideolog*innen sind aber auch und besonders in die reichsideologischen Spektren fließend.

„Aufbaukampagnen“ und Terror – Reichsideologische Aktivitäten

Tatsächlich entwickelten unterschiedliche Akteur*innen, der Reichsbürger-Szene im Jahr 2023 umfangreiche Aktivitäten im bevölkerungsreichsten Bundesland. Diese Beobachtung gilt besonders für die von Peter Fitzek (Wittenberg/Sachsen-Anhalt) geführte Gruppierung „Königreich Deutschland (KRD)“, die sich als Fantasiestaat inszeniert und offenkundig versucht, auch in NRW Organisationsstrukturen aufzubauen. Maßgebliche Aktivitäten gingen dabei von einer in Düsseldorf ansässigen KRD-Gruppe „Leuchtturm“ um Kevin Mender und Britta Vogelberg aus, die 2021 zur Vorsitzenden des Bremer Ablegers der Pandemieleugner*innenpartei „die Basis gewählt wurde.

Mender betreibt in Düsseldorf eine Kampfsportschule, die im Impressum ihrer Website als „Betrieb des KRD“ ausgewiesen wird. Auch an anderen Orten in NRW, war das KRD bemüht, eigene Wirtschafts- und Geschäftsstrukturen zu etablieren, so etwa in Köln, wo  bereits jedoch im Sommer 2020 die geplante Eröffnung eines Restaurants aufgrund er von der Stadt Köln verweigerten Konzession scheiterte. Im Februar 2023 verfügte die Bundesfinanzaufsicht die Schließung einer vom „Königreich Deutschland“ betriebenen „Gemeinwohlkasse“ im sauerländischen Menden.

Im Rahmen einer „Aufbaukampagne“ kündigte das KRD im Laufe des vergangenen Jahres zahlreiche Seminare und Infoveranstaltungen an. Gemeinsam mit Britta Vogelberg und Holger Wiese firmierte Kevin Mender in diesem Rahmen als „lizensierter Vortragsredner“ im Rahmen von Veranstaltungen, in denen Anhänger*innen und Sympathisant*innen des KRD nach Entrichtung eines stattlichen Teilnahmebetrags mehr über die „Vision des Gemeinwohlstaates“ erfahren können. Nach Angaben der Antifaschistischen Recherche Oberberg fand im April 2023 eine entsprechende Veranstaltung mit 50 Teilnehmenden in Much (Rhein-Sieg-Kreis) statt. Weitere Seminare waren in Bergisch-Gladbach und in einem Bottroper Hotel angekündigt. Dessen Inhaberin kündigte jedoch den Nutzungsvertrag. Gleichwohl hat „Leuchtturm“ für das kommende Jahr weitere Veranstaltungen etwa in Köln und im Raum Bielefeld/Gütersloh angekündigt.

Aber auch andere Reichsbürger-Gruppen waren im Jahr 2023 in NRW aktiv: Zu nennen ist hier beispielsweise der „Vaterländische Hilfsdienst“, der nach eigenen Angaben mehrere Treffen im Raum Bielefeld durchführte. Auch die schon seit Jahren bestehende „Justiz-Opfer-Hilfe“ ist schwerpunktmäßig in Ostwestfalen aktiv. Die früher in Löhne ansässige Gruppierung ist mittlerweile ins niedersächsische Rinteln umgezogen, kündigte aber im Juli 2023 die Eröffnung einer „Kanzlei“ in Bad Salzuflen an.

Anfang Oktober 2023 wurde im Rahmen einer bundesweiten Razzia gegen Reichsbürger-Strukturen im Kreis Mettmann ein 49jähriger Mann festgenommen, der nach Angaben der Ermittlungsbehörden eine zentrale Rolle in der Gruppe „Vereinte Patrioten“ gespielt haben soll. Fünf ihrer Mitglieder müssen sich zur Zeit vor dem OLG Koblenz wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ verantworten. Die Vereinten Patrioten sollen demnach die Entführung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und Anschläge auf die Energieversorgung des Landes geplant haben.

„Artgemeinschaft“ und „Anastasia“ – Völkisch-esoterische Szenen

Mit staatlicher Repression sah sich aber auch die völkische Szene in NRW konfrontiert. Im Zuge des vom Bundesinnenministerium Ende September 2023 erlassenen Verbots der seit 1951 bestehenden völkisch-antisemitischen „Artgemeinschaft“  wurde u.a. im ostwestfälischen Porta Westfalica das Anwesen der ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des eingetragenen Vereins durchsucht. Von den Razzien ausgenommen waren offenbar jedoch die Räumlichkeiten von anderen Anhänger*innen der „Artgemeinschaft, in denen in der Vergangenheit regelmäßige Treffen stattgefunden hatten. Trotz des Verbots der „Artgemeinschaft sind völkische Akteur*innen in NRW weiterhin aktiv mit fließenden Übergängen zu reichsideologischen, verschwörungsideologischen und rechts-esoterischen Strömungen sowie zur „Anastasia-Bewegung“, die sich auch in einigen westdeutschen Regionen, etwa im Oberbergischen Kreis oder im Kreis Lippe im Rahmen von Haus- und Wohnprojekten zu etablieren versuchen.

Inszenierte Bürgernähe und Militanz – Der III. Weg

Auch das militant neonazistische Spektrum war wie in vergangenen Jahren um lokale und regionale Verankerung bemüht. Dabei konzentriert sich die Kleinstpartei „Der III. Weg weiterhin auf das Sauer- und Siegerland im östlichen NRW. Seit März 2022 betreibt der von Julian Bender geführte „Stützpunkt Sauerland Süd ein so genanntes „Bürgerbüro“ im Ortskern der Kleinstadt Hilchenbach. Anfang April 2023 führte „Der III. Weg dort eine Kundgebung mit rund 25 Teilnehmenden durch, die sich gegen die Bemühungen der Stadt richtete, den Neonazis die Räumlichkeiten zu entziehen. Anfang September 2023 mobilisierte die Partei erneut zu einem „Tag der Heimattreue“ nach Hilchenbach, verzichtete aber in diesem Jahr auf einen öffentlichen Aufmarsch. An der somit weitgehend internen Veranstaltung, die musikalisch vom extrem rechten Rapper MaKss Damage und der Rechtsrockband Flak begleitet wurde, nahmen rund 110 Personen teil. Aktivist*innen des Antifa Info Café Siegen beobachten indessen, dass „Der III. Weg seine Strategie verändert hat und versucht, weniger durch Infostände und Kundgebungen, sondern eher allmählich durch ziviles Auftreten beispielsweise bei Dorffesten in der lokalen Gesellschaft Fuß zu fassen.

Gegen die Präsenz der Partei in der Stadt und in der Region regte sich aber auch Widerstand. In Hilchenbach formierte sich schon kurz nachdem „Der III. Weg“sein „Bürgerbüro“ eröffnet hatte, das „Bündnis für Toleranz und Zivilcourage. An den Gegenprotesten anlässlich des „Tags der Heimattreue“ beteiligten sich mehr als 300 Personen.

Neonazistische Umbrüche – Von „Die Rechte“ zu „Die Heimat“

Wesentlich einschneidendere Umbrüche vollzogen sich indessen bei der Partei „Die Rechte“, die seit 2012 als faktische Nachfolgestruktur der verbotenen Kameradschaften „Nationaler Widerstand Dortmund“, „Kameradschaft Hamm“ und „Kameradschaft Aachener Land“ firmierte und die einflussreichste neonazistische Gruppierung in NRW darstellte. Nach Jahren der krisenhaften Stagnation, verkündete Anfang des Jahres „Die Rechte“ die Auflösung des nordrhein-westfälischen Landesverbandes.

Während die Kreisverbände Gelsenkirchen/Recklinghausen und Duisburg weiter in der Partei verblieben, schloss sich der mitgliederstärkste und aktivste Kreisverband Dortmund dem örtlichen Kreisverband der NPD an, der seither unter dem Namen „Heimat Dortmund“ firmiert. Zu dessen Vorsitzenden wurden mit Sascha Krolzig und Alexander Deptolla zwei langjährige Führungskader der Dortmunder Neonaziszene gewählt. Neue Impulse für das neonazistische Lager gingen von dieser Fusion bislang jedoch nicht aus. Weder ließen sich im Vergleich zu den vergangenen Jahren verstärkte Aktivitäten der nunmehr unter dem Label „Heimat Dortmund“ agierenden Aktivist*innen beobachten, noch konnte die in NRW seit Jahren vor sich hin siechende NPD (die seit Juni 2023 in „Die Heimat“ umbenannt ist) ihren Niedergang erkennbar aufhalten.

Bildeten in der Vergangenheit straßenpolitische Aktivitäten, wie Aufmärsche und Kundgebungen, ein zentrales Aktionsfeld von „Die Rechte“, entwickelte „Heimat Dortmund“ in dieser Hinsicht im Jahr 2023 kaum Aktivitäten. Im März beteiligte sich der Kreisverband an der bereits erwähnten Demonstration von „NRW erwacht!“ in Dortmund. Am 1. Mai 2023 mobilisierte er zu einer „Kundgebungstour im Ruhrgebiet“, an der sich in Recklinghausen, Lünen und Dortmund rund 80 Personen beteiligten, die wiederum von lautstarken Gegenprotesten begleitet wurden.

Gleichwohl wäre es fatal, aus diesen Entwicklungen auf das Ende der einstmaligen westdeutschen Neonazihochburg Dortmund zu schließen. Nach wie vor ist die Szene durch ein hohes Gewaltpotential gekennzeichnet. Im Frühjahr 2023 kam es in Dortmund zu mehreren Übergriffen und Bedrohungen. Im März 2023 überfielen offenkundig Neonazis innerhalb weniger Tage zweimal das alternative Wohn- und Nachbarschaftsprojekt „Haldi 47″ in Bochum, zerschlugen Fensterscheiben, versprühten Pfefferspray, hielten einer anwesenden Person eine Schusswaffe an den Kopf und stießen Morddrohungen aus. Antifaschist*innen vermuten, dass die Angriffe maßgeblich von Dortmunder Neonazis ausgingen.

Auch die mediale Reichweite, die die Dortmunder Rechte erreicht ist immer noch beachtlich. So konnte vor allem der gewaltaffine Neonazi Steven Feldmann mehrere hunderttausende Klicks auf Videoplattformen wie Youtube und TikTok generieren. Gelungen ist ihm dies vor allem durch Auftritte bei reichweitenstarken Accounts, beispielsweise aus der Rap-Szene. Feldmann, der aktuell per Haftbefehl gesucht wird, erlangte hier mit seiner nach außen getragenen Knasterfahrung eine Form von Authentizität. Seine menschenverachtenden Einstellungen, die er in jedem dieser Formate offen äußerte, werden damit teilweise normalisiert und einem überwiegend jugendlichen Publikum in die Timeline gespült.

Queerfeindlichkeit und Rassismus – „Lukreta“ und „Revolte Rheinland“

Auf mediale Präsenz und Rezeption in den Sozialen Netzwerken setzen auch – allein schon aufgrund einer geringen Zahl mobilisierbarer Aktivist*innen – die Nachfolgestrukturen der „Identitären Bewegung“. Hier traten vor allem die antifeministische Gruppe „Lukreta“ und die seit 2021 bestehende „Revolte Rheinland“ mit queerfeindlichen und rassistischen Aktionen in Erscheinung.

So überklebten Ende Juni 2023 mindestens zehn vermummte Mitglieder von „Revolte Rheinland“ einen in Regenbogenfarben gestalteten Zebrastreifen vor dem Bonner Hauptbahnhof mit schwarz-rot-goldenen Folien und bekannten sich auf Twitter unter dem Hashtag „Stolzmonat“  – einem Kampfbegriff der in extrem rechten Kampagnen gegen den queeren Pridemonth in Stellung gebracht wird, zu der Tat, postulierten einen „positiven Bezug zur eigenen Nation und Herkunft“ und polemisierten gegen die „Zelebrierung von Minderheiten.“

Bereits im März hatten Anhänger*innen der Gruppe ein in arabischer Schrift zusätzlich angebrachtes Straßenschild in der Düsseldorfer Ellerstraße überklebt und als „Karl-Martell-Straße“ ausgewiesen, jenen fränkischen Heerführer also, der in der extremen Rechten europaweit als vermeintlicher „Retter des Abendlandes“ verklärt wird. Ende August wiederum tauchten in Bonn in zahlreichen Briefkästen Flugblätter der „Revolte Rheinland“ auf, in denen von einem vermeintlich drohenden „Bevölkerungsaustausch“ die Rede war.

Rassismus und Antifeminismus in „aktualisierter Form“ – Die Junge Alternative

Unverkennbaren Bezüge zwischen „Lukreta„ und „Revolte Rheinland“ bestehen zum Landesverband der Jungen Alternative (JA), die auf ihren Social Media Kanälen unverhohlene Nähe zu den Nachfolgegruppierungen der „Identitären Bewegung“ erkennen lässt und sich selbst als elitärer Verband inszeniert, dessen Programmatik und Verlautbarungen den ideologischen Grundpositionen der „Neuen Rechten“ entsprechen. Der Fachjournalist Rainer Roeser und die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Arnsberg konstatieren in einer gemeinsamen Analyse: „Durch die Etablierung und das Vorantreiben reaktionärer Narrative sollen der öffentliche Diskurs beeinflusst und Sagbarkeiten ausgeweitet werden. Die sprachliche Abgrenzung zum historischen Nationalsozialismus und heutigen Neonazismus dient dabei als strategisches Mittel, über das Rassismus oder Antifeminismus in aktualisierter Form salonfähig gemacht werden.“

Auch in personeller Hinsicht sind die Verknüpfungen zwischen der JA, der (ehemaligen) „Identitären Bewegung“ und anderen Akteur*innen der „Neuen Rechten“ unverkennbar. So gehört etwa Nils Hartwig, Vorstandsmitglied der nordrhein-westfälischen JA und stellvertretender Bundesvorsitzender des Verbandes der extrem rechten Burschenschaft Normania-Nibelungen zu Bielefeld an und trat nach Angaben der antifaschistischen Zeitschrift Lotta im Jahr 2016 als Sprecher und Aktivist der „Identitären Bewegung“ in Ostwestfalen in Erscheinung. Ebenfalls in der JA organisiert ist Reinhild Boßdorf, die im Jahr 2019 die Gruppe „Lukreta“ gründete.

Diese und weitere Verbindungen blieben freilich auch dem NRW-Verfassungsschutz nicht verborgen, der die JA Mitte Dezember 2023 als „rechtsextremistischen Verdachtsfall“ einstufte. Den bereits bestehenden Einfluss der Jungen Alternative nicht zuletzt auf die AfD selbst dürfte diese Verortung indessen kaum mindern. Rainer Roeser und die Mobile Beratung im Regierungsbezirk Arnsberg weisen in ihrer Analyse darauf hin, dass vier der insgesamt elf Mitglieder der AfD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag der JA entstammen. Der gewachsene Einfluss der Jungen Alternative innerhalb der AfD und deren kontinuierliche Radikalisierung wurde und wird maßgeblich durch den Dortmunder Bundestagsabgeordneten Mathias Helferich forciert. Der Rechtsanwalt, der sich selbst als das „freundliche Gesicht des NS“ bezeichnete und daraufhin aus der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag ausgeschlossen wurde, ist selbst bekennendes Mitglied der JA, was er etwa im Juni 2023 zum Ausdruck brachte, als er bei einer Rede im Bundestag ein T-Shirt der Nachwuchsorganisation trug, mit deren Unterstützung ihm der Aufstieg in der Partei gelungen war. Sein Wahlkreisbüro in Dortmund-Dorstfeld stellte er dem Landesverband der Jungen Alternative als Geschäftsstelle zur Verfügung, die auch für Veranstaltungen der JA genutzt wird. Im Juni 2023 fand dort beispielsweise ein „Rußland-Ukraine-Symposium“ statt. Am Rande der Veranstaltung zeigte ein Teilnehmer den Hitlergruß.

Vorgetäuschte Sachorientierung – die AfD

Die AfD selbst versucht sich in NRW, zumal im Landtag zu einer „sachorientierten“ Partei zu stilisieren und ihre Außendarstellung zu professionalisieren. Doch nicht nur die hier ausgehend von der JA skizzierten Verbindungen zu den Netzwerken der „Neuen Rechten“ lassen diese Strategie fragwürdig erscheinen. So hatte auch der angeblich um ein gemäßigtes Auftreten bemühte Landes- und Fraktionsvorsitzende der AfD, Martin Vincentz kein Problem damit, im Rahmen eines im Januar 2023 vom AfD-Bezirksverband Münster organisierten Neujahrsempfangs im Münsteraner Rathaus an der Seite Björn Höckes aufzutreten – eine Veranstaltung gegen die rund 5.000 Menschen lautstark protestierten.

Zudem besteht der programmatische Markenkern der Partei auf Landes- wie auf kommunaler Ebene darin, gegen „Massenmigration“ zu polemisieren, sich darüber zu mokieren, dass „der Geburtenanteil bei Ausländern in NRW […] höher als ihr Anteil in der Bevölkerung“ sei, antimuslimische Ressentiments zu schüren oder sozial- und bildungspolitische Fragen notorisch zu ethnisieren. Aber auch aus Landes- und Bundesmitteln finanzierte Demokratieförderprogramme sowie die kritische Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und anderen Ungleichwertigkeitsvorstellungen in der schulischen und außerschulischen politischen Bildung riefen im vergangenen Jahr den Zorn der AfD hervor.

Tatsächlich liegen die Zustimmungswerte für die Partei gegenwärtig bei rund 14 Prozent – deutlich über ihrem Wahlergebnis bei der Landtagswahl im Mai 2022, bei der die AfD lediglich 5,4 Prozent der Stimmen erzielen konnte. Der Höhenflug mag sich zum einen aus der Unzufriedenheit über die Arbeit der Bundes- und Landesregierung speisen, gründet zum anderen aber auch auf einer Wähler*innenschaft, die aus inhaltlicher Überzeugung für die Partei votieren würde.

Verschärfte rassistische und antisemitische Diskurse

Hinzu kommt, dass sich im Verlauf des Jahres 2023 auch in NRW die asyl- und migrationspolitischen Diskurse massiv verschärft haben. An mehreren Orten formierten sich meist in der viel beschworenen „Mitte der Gesellschaft“ verankerte Initiativen gegen geplante Geflüchtetenunterkünfte, in Bocholt kam es im Oktober sogar zu einem von Gegner*innen der Einrichtung initiierten Bürger*innenentscheid über die Errichtung einer Geflüchtetenunterkunft, der jedoch scheiterte.

Aber nicht nur rassistische Stimmungen und Ressentiments sind im Verlauf des Jahres 2023 in NRW vehementer sicht- und hörbar geworden. Auch antisemitische Haltungen, Äußerungen und Bedrohungen gehörten im vergangenen Jahr wie auch schon in den Jahren zuvor zum Alltag, etwa im Rahmen von Veranstaltungen von Pandemieleugner*innen und Verschwörungsideolg*innen. Sie erfuhren jedoch nach den antisemitischen Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel eine erneute Steigerung. Die Meldestelle RIAS NRW registrierte allein zwischen dem 7. Oktober und dem 9. November 2023 218 antisemitische Vorfälle, im Schnitt sieben Vorfälle pro Tag, im Jahr davor habe es im Durchschnitt fünf gemeldete Fälle pro Woche gegeben. Auch die Meldestelle für antisemitische Vorfälle im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln berichtet, dass sich die Zahl der erfassten antisemitischen Vorfälle im Kölner Stadtgebiet im Vergleich zum Vorjahr vervierfacht haben.

Erinnern heißt Verändern: Die solidarische Gesellschaft der Vielen

Angesichts der sich verschärfenden, rassistischen, antisemitischen, aber auch queer- und transfeindlichen Diskurse sowie einer von vielen Engagierten und von Ausgrenzung Betroffenen wahrgenommenen „Normalisierung“ extrem rechter Positionen und Haltungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, trifft auch für Nordrhein-Westfalen die vom Bundesverband Mobile Beratung in seinem Jahresrückblick 2023 formulierte Feststellung zu, dass Rechtsextremismus in seinen verschiedenen Varianten „näher gerückt“ ist: „ins private Umfeld, in die Nachbarschaft, an den Arbeitsplatz“. Durch die permanenten Herausforderungen, sei die „Widerstandskraft der Zivilgesellschaft“ schwächer geworden. Gleichzeitig gab es auch im Jahr 2023 in Nordrhein-Westfalen zahlreiche Engagierte und Aktivist*innen, die sich dem vielfach beobachteten gesellschaftlichen und politischen Rechtsruck entgegenstellten – im wörtlichen Sinne, wie etwa rund um den „Marsch für das Leben“ in Köln, anlässlich des Auftritts von Björn Höcke beim Neujahrsempfang in Münster oder bei Veranstaltungen der Neonazis von Der III. Weg oder Heimat Dortmund. Aber auch im Rahmen kontinuierlich arbeitender zivilgesellschaftlicher und antifaschistischer Bündnisse und Initiativen.

Zu nennen sind aber vor allem die zähen und ausdauernden, in der Dominanzgesellschaft jedoch viel zu wenig wahrgenommenen Kämpfe, die Angehörige, Betroffene und Überlebende rassistischer, antisemitischer und extrem rechter Gewalt vielfach schon seit Jahren um Aufklärung, Anerkennung, Gerechtigkeit und Erinnerung führen. Doch trotz aller Widerstände gibt es auch Erfolge und Veränderungen.

Ende August 2023 wurde in der Wanheimer Straße 301 in Duisburg-Wahneimerort eine Gedenktafel enthüllt, die an den rassistischen Brandanschlag in der Nacht vom 26.auf den 27. August 1984 erinnert, bei dem Çiğdem Satır, Döndü Satır, Ümit Satır, Zeliha Turhan, Songül Satır, Rasim Turhan und Tarık Turhan ums Leben kamen und 23 weitere Menschen verletzt wurden. Jahrzehntelang wurde der rassistische Charakter der Tat, die zudem in der Öffentlichkeit weitgehend in Vergessenheit geriet, geleugnet. Es waren ausschließlich die beharrlichen Kämpfe der Angehörigen und Überlebenden sowie der „Initiative Duisburg 1984„, die dazu führten, dass 39 Jahre nach dem Anschlag ein öffentliches Gedenken möglich wurde. Mittlerweile hat auch das „Zentrum für Erinnerungskultur, Menschenrechte und Demokratie“ im Stadtarchiv Duisburg eine Webdokumentation online gestellt, die vorwiegend aus der Perspektive der Betroffenen die Geschichte des Rassismus in Duisburg und des Brandanschlags vom 26./27. August 1984 thematisiert.

„Erinnern heißt Verändern“ lautet eine der zentralen Forderungen, die von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und deren Angehörigen immer wieder erhoben wird. Dieses Postulat, das nicht bei der Auseinandersetzung mit extrem rechten Haltungen und Akteur*innen stehen bleibt, sondern vielmehr die Vision einer solidarischen Gesellschaft der Vielen enthält, sollte auch für die zivilgesellschaftlichen, antifaschistischen rassismus- und antisemitismuskritischen Aktivitäten im Jahr 2024 handlungsleitend sein.

 

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