Das Interview mit Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen führte Simone Rafael.
Sachsen ist im Moment praktisch das Musterland des vielfältigen Rechtsextremismus. Was hat Euch als mobile Beratung 2023 am meisten umgetrieben?
Wir haben es vor allem mit einem unverändert hohen Demonstrationsgeschehen zu tun. Die meisten Demonstrationen in Sachsen wenden sich aber inzwischen wieder gegen Geflüchtete, haben also eine rassistische, flüchtlingsfeindliche Dimension. Aber ein paar der verschwörungsideologischen Demonstrationen, die während der Coronavirus-Pandemie entstanden, gibt es auch weiterhin. Jede Woche werden in Sachsen rund 100 Demonstrationen im demokratiefeindlichen Spektrum beworben! Diese sind natürlich unterschiedlich groß, wir haben leider nicht die Kapazitäten, sie alle zu dokumentieren. Manchmal treffen sich da immer die gleichen zehn bis 30 Menschen, andere Demonstrationen entwickeln große Mobilisierungskraft, wenn gerade ein Thema vor Ort akut diskutiert wird. Eine kleine Anfrage der Linken-Politikerin Martina Renner zu rechtsextremen Demonstrationen in Deutschland 2023 im August hat ergeben, dass zwei Drittel aller Demonstrationen in Sachsen stattfinden. Dabei ist Sachsen weder das größte noch das bevölkerungsreichste Bundesland!
Viele der Demonstrationen sind klein, aber einige stachen heraus. Im September demonstrierten in Bad Gottleuba-Berggießhübel in der Sächsischen Schweiz rund 3.000 Menschen gegen die Unterbringung von Geflüchteten in einem leerstehenden Schloss. In Sebnitz waren es auch eine vierstellige Zahl von Menschen. Auch bei der revisionistischen Neonazi-Demonstration zum 13. Februar, dem „Trauermarsch“ zum Jahrestag der Bombardierung von Dresden, kamen erstmals nach der Pandemie wieder 1.000 Rechtsextreme zusammen.
Geht von dem Demonstrationen Gewalt aus?
Von den Demonstrationen selbst kaum, aber sie ermöglichen ein Umfeld, in dem Menschen zu Gewalt greifen. In Dresden-Klotzsche etwa gab es erst die Demonstrationen gegen die Unterbringung von Geflüchteten im Stadtteil, dann folgten zwei Brandanschläge auf die noch leere Unterkunft. Auch in Sebnitz gab es erst Demonstrationen, dann einen Überfall von Neonazis auf die bewohnte Unterkunft. Die vermummten Neonazis drangen in die Unterkunft ein und griffen im Haus dann auch Bewohner an.
Wie wirkt sich das Demonstrationsgeschehen auf die verschiedenen Milieus in Sachsen aus?
Rassistische Milieus, verschwörungsideologische Milieus, rechtsextrem Milieus mischen sich auf den Demonstrationen stark, sehr oft „spazieren“ alle gemeinsam – oder stehen zusammen auf der Straße, wie weiterhin jeden Sonntag auf der B96 zwischen Bautzen und Görlitz. Da zeigt eine dreistellige Zahl von Menschen Reichsflaggen neben rechtsextremen Symbolen und die „Freien Sachsen“ fahren mit einem entsprechend gebrandeten Auto Spalier und ermutigen die Demonstrierenden.
Ach, die „Freien Sachsen“, nach denen möchte ich auch fragen. Denn in Sachsen hat die Demokratiefeindlichkeit eine eigene Ausdrucksform in den „Freien Sachsen“ gefunden. Wie geht es ihnen?
Die „Freien Sachsen“ haben sich zur bedeutendsten Neonazi-Partei Sachsens gemausert. Die haben ja im Raum Chemnitz und im Erzgebirge angefangen, jetzt haben sie in Sachsen flächendeckend Kreisverbände, die haben sich organisiert. Tatsächlich sind sie auch auf den vielen Demonstrationen omnipräsent. Es findet praktisch keine Demo ohne „Freie Sachsen“-Fahnen statt, viele laufen sogar hinter „Freie Sachsen“-Frontbannern. Das liegt auch daran, dass jede*r den „Freie Sachsen“-Merch online bestellen kann, die Fahnen, die Banner zu vielen verschiedenen Themen. Damit sind sie überall sichtbar und wirken sehr präsent, obwohl sie eigentlich nicht sonderlich viele Mitglieder haben. Die „Freien Sachsen“ mobilisieren aber auch eine Gruppe von rund 50 Unermüdlichen, die zu jeder Demonstration kommen – quasi einen rechtsextremen Wanderzirkus, die Anti-Asyl-Proteste im Raum Dresden ebenso füllen wie Anti-Regierungs-Proteste anderswo.
Die NPD-Strukturen, heute „Die Heimat“-Strukturen, die es in Sachsen gab, sind völlig in den „Freien Sachsen“ aufgegangen. Das zeigt sich in der Mobilisierung und Demo-Organisation, die haben da nämlich langjährige Erfahrungen und organisieren professionell. Die „Freien Sachsen“ nehmen aber auch alles andere auf: Die Querdenken-Strukturen, den Dresdner Obdachlosenhilfe-Verein von „Ein Prozent“, selbst der neonazistische „III. Weg“ läuft bei den „Freien Sachsen“ mit. Die Partei ist jetzt praktisch der Neonazi-Dachverband für Sachsen.
Und wie sieht es mit der AfD aus? Kooperiert die auch mit den „Freien Sachsen“?
Die AfD ist ambivalent. Offiziell arbeitet sie nicht mit den „Freien Sachsen“ zusammen – aber auf regionaler Ebene schon. Ein Beispiel ist etwa Kriebethal, dort gab es wochenlang Demonstrationen wegen der Unterbringung von fünf geflüchteten jungen Männern – die haben „Freie Sachsen“ und AfD immer abwechselnd angemeldet. Die AfD ist in Sachsen natürlich auch sehr gefährlich für die Demokratie, denn sie kann etwas, was die „Freien Sachsen“ nicht können: Mehrheiten organisieren. Schon jetzt zeigen Umfragen, dass die AfD in vielen sächsischen Kommunen außerhalb von Städten stärkste Kraft werden wird – und da sprechen wir nicht nur von 30, sondern von 40 Prozent der Stimmen.
Aber aktuell hat die AfD in Sachsen noch keine Ämter inne, oder?
Nein, noch nicht. Allerdings hat sie bei der Oberbürgermeisterwahl in Pirna im zweiten Wahlgang Chancen, den Oberbürgermeister zu stellen. Im ersten Wahlgang hatte der AfD-Kandidat bereits die meisten Stimmen, am 17. Dezember wissen wir mehr [Update: Der AFD-Kandidat hat gewonnen]. Aber nächstes Jahr haben wir ja nicht nur die Landtagswahlen im September, sondern auch die Kommunalwahlen im Juni, parallel zur Europawahl. Da rechnen wir schon mit Stimmen und Ämtern für die AfD. Wenn es da viel Zustimmung gibt, setzt das natürlich auch eine Tendenz für die Landtagswahlen.
Wie geht es der sächsischen Zivilgesellschaft angesichts dieser Aussichten für 2024?
Das wird herausfordernd. Im Moment ist ein Schwerpunkt der zivilgesellschaftlichen Arbeit, das demokratische Lager zu motivieren und zu aktivieren, damit demokratisch gesinnte Menschen zur Wahl gehen, ihre Stimme abgeben, und sich auch zur Wahl stellen – denn je voller die Listen der demokratischen Parteien sind, desto weniger Ämter fallen aus Kapazitätsgründen in andere Hände. Im Moment entstehen auch eine Menge neue Bündnisse und Ideen, um die Demokratie in Sachsen mit Leben zu füllen und zu verteidigen.
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