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Jahresrückblick 2023 Thüringen – Die AfD saugt alles auf

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Demonstration in Erfurt gegen einen Aufmarsch der AfD mit rund 4.000 Teilnehmenden (Quelle: mobit)

Die extrem rechte Szene in Thüringen ist vielfältig und äußerst aktiv.  Nach den Veränderungen aus den Jahren der Pandemie stellte sich die Szene in den beiden vergangenen Jahren neu auf – sowohl thematisch als auch strategisch. Insbesondere Rechtsrock bildet dabei – wie bereits vor der Pandemie – ein zentrales Aktionsfeld der Szene.

Protestgeschehen

Noch zu Beginn des Jahres spielte die Mobilisierung der Pandemie-Leugner*innen-Szene in Thüringen eine Rolle für die extreme Rechte. Mit dem Wegfall jeglicher Corona-Beschränkungen sind die Proteste in ihrer bis dahin durchgeführte Größe und Form weitgehend zerfallen. Die regelmäßig in Thüringen durchgeführten Demonstrationen bestehen zumeist nur noch aus wenigen Dutzend Teilnehmer*innen, die dem Kernmilieu zuzurechnen sind. Das Bild der Proteste prägt heute vielerorts ein deutlich erkennbarer Anteil an Personen aus der „Reichsbürger“-Szene. Viele Demonstrant*innen haben sich über die Jahre der Proteste und die dort verbreiteten Verschwörungserzählungen von der Pandemie-Leugner*innen-Szene zur „Reichsbürger“-Szene radikalisiert.

2022 spielte vor allem der Krieg in der Ukraine eine zentrale Rolle für das themenflexible rechte Protestspektrum. Neben dem Versuch der Inszenierung als „Friedensdemonstranten“ zeigte sich an vielen Stellen vor allem eine große Hinwendung und Sympathie für Russland und Vladimir Putin. An diese Inszenierung versuchte im beginnenden Jahr 2023 auch die AfD anzuknüpfen. Insgesamt konnte in der Dynamik der Proteste vor allem ein weiteres Zusammenrücken zwischen „Reichsbürger“-Szene, AfD, Pandemie-Leugner*innen-Spektrum bis hin zur Neonazi-Szene beobachtet werden. In einzelnen regionalen Schwerpunktregionen wie beispielsweise Gera gibt es faktisch keine nachvollziehbare Abgrenzung mehr zwischen den verschiedenen Gruppierungen, deren ideologische Überschneidungen von Beginn an sichtbar waren (vgl. mobit: Motor der Radikalisierung).

AfD: Netzwerker im Machttaumel

Nordhausens OB-Kandidat Jörg Prophet, Tino Chrupalla und Maximilian Krah auf einem AfD-Bürgerfest, 2023

Die AfD in Thüringen verzeichnet bei den Umfragen zur Landtagswahl seit Monaten Höchstwerte. Folgt man den Befragungen, könnte die AfD 2024 bei den Landtagswahlen die stärkste Kraft werden. Mitte November fand in Pfiffelbach im Weimarer Land erneut der Landesparteitag der AfD statt. Hier machte Björn Höcke deutlich, welche Machtambitionen die Partei verfolgt und kündigte „einen langen Weg des Aufräumens und des Neuaufbauens“ an (vgl. mdr).

In Thüringen scheint die enge Kooperation zwischen der AfD mit verschiedenen anderen extrem rechten Spektren wie der „Reichsbürger-“Szene Wähler*innen nicht mehr abzuschrecken. Die Partei selbst befindet sich auch außerhalb der Wahlkampfzeiten in einem Dauerwahlkampf. Wöchentlich führt sie in Thüringen Infostände und sogenannte Bürgerdialoge durch. Zumeist in den ländlichen Regionen, wo sie erfahrungsgemäß mit mehr Teilnehmer*innen und weniger Gegenprotesten rechnen muss.

Besondere Aufmerksamkeit bekamen im Sommer 2023 zwei Wahlen: Zum einen die Landratswahl im Landkreis Sonneberg, zum anderen die Wahl des Oberbürgermeisters der Stadt Nordhausen. In Sonneberg konnte die AfD mit Robert Sesselmann die erste Landratswahl ihrer Geschichte für sich entscheiden. Wenige Wochen später scheiterte sie allerdings – schon siegessicher – in der Stichwahl um den Posten des Oberbürgermeisters in Nordhausen. Neben zahlreichen sozialen und strukturellen Unterschieden der beiden Wahlen zeigte sich in Nordhausen vor allem, dass ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis sehr wohl erheblichen Einfluss auf derartige Wahlen haben kann. Der durch geschichtsrevisionistische Thesen und seine Teilnahme an einem extrem rechten Treffen mit Neonazis und „Reichsbürgern“ aufgefallene Jörg Prophet musste sich in Nordhausen bei der Stichwahl geschlagen geben.

Gleichzeitig mit dem Umfragehoch und dem Gewinn der Landratswahl in Sonneberg zeigte sich bei der AfD aber eine erhebliche Mobilisierungsschwäche bei Demonstrationen. Mehrere Veranstaltungen im Jahr 2023 blieben mit den Teilnehmer*innen-Zahlen deutlich hinter den Erwartungen zurück. Zuletzt Ende Oktober in Erfurt, wo die extrem rechte Partei kaum 1.000 Anhänger*innen mit bundesweiter Mobilisierung erreichen konnte, darunter Teilnehmende der Jungen Alternative (die extrem rechte Jugendorganisation der AfD). Dem traten rund 4.000 Menschen bei den Gegenprotesten entgegen (vgl. mdr). Für 2024 ist von massivem Auftreten der Partei für die anstehenden Wahlen zu rechnen. So finden im kommenden Jahr neben  Europa- und Landtagswahlen auch verschiedene Kommunalwahlen  statt.

„Reichsbürger“

Entlang der Entwicklungen der Pandemie-Leugner*innen-Szene entwickelte sich auch die „Reichsbürger“-Szene. Über die Pandemie hatte diese erheblichen Zulauf, da die Anti-Corona-Proteste mit ihren verschwörungsideologischen Prägungen wie ein Radikalisierungsmotor für viele Menschen wirkte (vgl. mobit).

Mit dem Rückgang der Straßenproteste veränderte sich auch die Ausrichtung der „Reichsbürger“-Szene. Hier waren in den vergangenen Monaten verschiedene Tendenzen zu verzeichnen. Zum einen hat die Szene vor allem öffentliche Veranstaltungen ausgebaut, die zur Vermittlung ihrer Ideologie und zur Bindung von Menschen an die Szene dienen sollen. Dazu zählen Vorträge und Kongresse ebenso wie Tanz- und Liederabende. Dabei kann bei der Mobilisierung auch auf das Spektrum der Pandemie-Leugner*innen-Szene zurückgegriffen werden.

In Thüringen fanden 2023 sowohl verschiedene Vortragsabende und Seminare beispielsweise der selbsternannten Wahlkommissionen und des „Königreichs Deutschland“ statt, welches in Gera auch eine Immobilie erworben haben soll. Mit rund 200 Teilnehmer*innen kam es auf einer Pferderanch im Eichsfeld im Juni 2023 wohl zur größten Veranstaltung der Szene. (vgl. WDR). Die Szene agiert deutlich weniger klandestin als noch vor wenigen Jahren und erreicht vor allem durch die Anknüpfung an die Corona-Proteste einen deutlich größeren Personenkreis.

Zentrale Figuren der Szene verfügen außerdem über enge Verbindungen zur AfD und können ihre Inhalte auch auf den Bühnen der Partei verbreiten. Neben diesen Tendenzen ist ein Aufbau alternativer Strukturen wahrzunehmen, die vor allem darauf abzielen, Kinder aus den staatlichen Strukturen herauszuhalten. Verwaltungen berichten seit Monaten über diese Tendenzen. Mittlerweile gibt es mehrere bekannte Fälle von Kindern, die ohne Kenntnis staatlicher Stellen im Freistaat zur Welt gekommen sind. Eine Einschätzung zu einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls ist hier beispielsweise kaum möglich ebenso wenig wie ein Zugang der Kinder zu schulischer Bildung (vgl. In Südthüringen).

Neonazi-Szene

In den letzten Jahren hat die Neonazi-Szene in Thüringen deutlich an politischer Bedeutung verloren. Vor allem bei Wahlen und Protesten spielt sie kaum noch eine Rolle, da ihr Potential von der AfD aufgesogen wurde.  Aktuell agieren in Thüringen vor allem zwei Neonazi-Parteien: Der Dritte Weg und die Anfang des Jahres in Die Heimat umbenannte NPD. Die beiden Organisationen verfügen in Eisenach (Die Heimat) und Ohrdruf (Der Dritte Weg) auch jeweils über eine Parteiimmobilie. Daneben gibt es lokal bedeutsame Führungskräfte wie Patrick Weber in Sondershausen oder Thorsten Heise im Eichsfeld, die eine gewisse Präsenz der Heimat regional abbilden. Vor allem Patrick Weber trat im zurückliegenden Jahr als Organisator von Montags-Protesten und bei Protesten gegen Geflüchteten-Unterkünfte in Erscheinung.

Daneben fokussierten sich die Aktivitäten der beiden Parteien vor allem auf ihre regionalen Immobilien. Hier wurden neben Konzerten und Vortragsveranstaltungen auch nach außen unpolitisch inszenierten Aktionen nach außen unpolitisch inszenierten Aktionen wie Disco-Partys oder die Verteilung von Kleidung an deutsche Familien durchgeführt. Vor allem die Immobilie in Eisenach ist für die Durchführung von Konzerten von besonderer Bedeutung. Eine breite öffentliche Wirkung konnten beide Parteien aber nicht für sich entfalten. Ebenso gilt dies für die Organisation landesweiter Demonstrationen. Hier konnte die Neonazi-Szene nur punktuell erfolgreich mobilisieren, wie bei Anti-Asyl-Protesten in Schleusingen. So folgten einer Demonstration, die von Tommy Frenck angemeldet worden war, 600 Menschen (vgl InSuedthueringen). Daneben gab es 2023 keine eigenen größere Szene-Demonstrationen. Lediglich rund um das geschichtsrevisionistische „Heldengedenken“ fanden mehrere regionale Zusammenkünfte und eine kleine Demonstration in Schleusingen statt, die ebenfalls vom Neonazi Tommy Frenck organisiert wurde.

Rechts-Rock

Nach den Jahren der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden Maßnahmen der Bekämpfung, ist die Rechts-Rock-Szene in Thüringen fast wieder auf ihrem Niveau der Jahre vor 2020 angekommen. Schon 2022 war mit 31 von MOBIT gezählten Konzerten ein deutlicher Aufwärtstrend zu verzeichnen.  Diese Entwicklung hat sich 2023 sehr deutlich fortgesetzt. Mit rund 50 Konzerten hat die Neonazi-Szene in diesem Jahr fast wöchentlich eine Veranstaltung durchgeführt. Trotz der hohen Zahlen zeigen sich aber Veränderungen. Zum einen sind aufgrund des staatlichen Vorgehens und der Inhaftierung zentraler Figuren der „Turonen“ als maßgebliche Organisatoren keine Open Airs mehr durchgeführt wurden.

Zum anderen haben sich die Konzerte nach dem Wegfall wichtiger Szene-Immobilien wie in Kirchheim auf wenige Veranstaltungsorte konzentriert: Allen voran die NPD/Heimat-Geschäftsstelle in Eisenach oder die Gedächtnisstätte in Guthmannshausen. Die meisten Veranstaltungen waren auch 2023 erneut Liederabende. Diese werden oft kombiniert mit Gedenkveranstaltungen oder Vorträgen. – RechtsRock-Konzerte mit einer oder mehreren RechtsRock-Bands finden dagegen kaum noch statt.

Die Reorganisation der RechtsRock-Szene zeigt auch, welche große Bedeutung das Aktionsfeld für die Szene besitzt. Nicht nur, dass damit Einnahmen generiert werden, sondern auch der Vernetzungsgedanke und die Ideologievermittlung sind von großer Bedeutung. Beispielsweise am 8. Juli 2023 wurde ein Konzert aus den weltweit agierenden Netzwerken der kurz danach in Deutschland verbotenen Hammerskins in der Wartburgstadt veranstaltet. Die vor Ort getragenen Insignien der Teilnehmenden ließen sich eindeutig den bundesweiten Netzwerken der Hammerskins zuordnen und bilden damit deutlich sichtbar die bundesweite und sogar internationale Vernetzung der Szene ab, welche sich in Thüringen trifft.

Fazit

Ähnlich wie bereits im Vorjahr zeigte sich, dass die Thüringer Neonazis-Szene außerhalb ihrer subkulturellen Aktionsfelder (allen voran Rechts-Rock) über keine nennenswerte Mobilisierungsfähigkeit mehr verfügt. In den vergangenen Jahren hat sich dagegen in Thüringen eine extrem rechte Bewegung formiert, die zu einer merklichen ideologischen Radikalisierung ihrer Anhänger*innenschaft beiträgt. Politisch profitiert davon vor allem die Thüringer AfD um ihren extrem rechten Landeschef Höcke, die sich seit Jahren im Dauerwahlkampf befindet und mit Blick auf das Superwahljahr 2024 große Hoffnungen auf weitere politische Raumgewinne im Freistaat hegt.

 

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