
Die Veröffentlichungen der Correctiv-Recherche über die Geheimbesprechungen in Potsdam brachten auch in Bayern bisher ungekannte Menschenmengen auf die Straße. In München musste die zentrale Demonstration wegen Überfüllung abgebrochen werden, in vielen anderen Städten kamen Zehntausende zusammen und selbst in kleineren Orten mehrfach noch eine vierstellige Personenzahl. Den Einfluss auf die politische Debatte oder die Stimmung im Land wird man angesichts des guten Abschneidens der im Fokus der Proteste stehenden AfD bei der Europawahl und des Zuspruchs in den Umfragen eher gering bewerten müssen.
Ein Parteitagsbeschluss der AfD vom November muss dann geradezu als direkte Provokation gegen die damals Protestierenden gewertet werden. Mit gerade mal einer Gegenstimme wurde eine Resolution zur „Remigration“ angenommen. Die AfD bekannte sich zwar formal zur einmal verliehenen Staatsbürgerschaft, griff aber auch Töne des Kopfes der „Identitären Bewegung”, Martin Sellner, auf, der Personengruppen mit einer als schwach zugeschriebenen Integrationsfähigkeit und -willigkeit das Bleiberecht abgesprach. Andererseits machten Gerichte durch die Bank bereits klar, dass sie so rein formale Bekenntnisse, die noch auf dem Boden des Grundgesetzes stehen könnten, keine sonderlich hohe Glaubwürdigkeit zubilligen, wenn die zu beobachtenden sonstigen Handlungen, der Alltag, diese Bekenntnisse geradezu wieder konterkarieren.
Angesichts der ganzen Skandale der AfD und mit Blick auf die Ausrichtung von Landesverband und Fraktion wirkt es geradezu seltsam, dass in der Frage der Einstufung durch das Landesamt für Verfassungsschutz erst die Prüffallstufe erreicht ist und hierzu erst auf unterster Ebene des Verwaltungsgerichts in der Hauptsache darüber entschieden wurde.
Im Juni kamen Freistaat und AfD mehrere Tage vor Gericht in München zusammen, mit dem Ergebnis, dass die Wertung durch den Verfassungsschutz bestätigt wurde. Im Fokus der Entscheidung stehen erstmals die Landtagsabgeordneten Franz Schmid, zugleich Landesvorsitzender der Jungen Alternative, der rechtspolitische Sprecher der Landtagsfraktion und Mitarbeiter im Bereich Justiz des Landesverbandes, Rene Dierkes, und der Burschenschafter Benjamin Nolte.
Als Muster ist erkennbar, dass der Landesverband nicht nur keine Konsequenzen zieht gegen die Personen, denen er die Einstufung verdankt – die Funktionäre steigen sogar noch auf. Dierkes, Nolte und der Kronacher Harald Meußgeier, dessen Aussage als Beleg für die menschenwürdefeindliche Zielrichtung innerhalb des Landesverbandes gewertet wurde, wurden im Landtag bereits als Vizepräsidenten vorgeschlagen. Andere genannte gehören weiter dem Landesvorstand an. Mit Erhard Brucker und dem Schwandorfer Reinhard Mixl, der mit demokratiefeindlichen Aussagen aktenkundig ist, kandidieren zwei prominent aufgeführte Funktionäre für den nächsten deutschen Bundestag. Parteiausschlussverfahren gab es nur vereinzelt.
Bei den vorgebrachten Belegen wird zudem deutlich, dass hier nur ein Teilaspekt des Landesverbandes beleuchtet wurde und sich ähnliche und deutlichere Aussagen bei weiteren wichtigen Funktionären finden, die im Urteil noch gar nicht auftauchen.
Die Landtagsfraktion der AfD legte zum zweiten Mal einen Gesetzentwurf vor, der ein Minarettverbot in der Bauordnung verankern wollte. Das Bundesverfassungsgericht hatte schon der NPD Berlin die Forderung nach dem „Abriss aller Minarette“ vorgehalten. Das Oberverwaltungsgericht NRW stellte im Verfahren gegen die Bundes-AfD klar, dass mit einem solchen Verbot nicht nur die Religionsfreiheit, sondern zudem die Menschenwürde von Muslimen verletzt wird. Auch bei der Kriminalstatistik bewegt sich die AfD-Fraktion auf NPD-Kurs.
Als einziger Abgeordneter wird Schmid formal beobachtet. Er hatte im Wahlkampf eine „Ehrenerklärung“ abgegeben, in Falle seiner Wahl einen Teil seiner Diäten an das „Vorfeld“, eine weitestgehend rechtsextreme Unterstützungsgruppen der AfD, zu spenden. Weiter will er über eine Immobilie ein Hausprojekt schaffen. Vorbild ist eine der „Identitären Bewegung“ in Österreich zurechenbare vergleichbare Einrichtung. Aus der AfD-Fraktion wurde mit Spott auf die Unterrichtung des Innenausschusses über die Verbindung der AfD in die extremistische Szene durch Verfassungsschutzpräsident Burkhard Körner reagiert. Schmid will mit Unterstützung der Kanzlei Höcker gegen seine Einzelbeobachtung klagen.
Beinahe zu jeder Sitzung wurde auch jeweils ein Mitglied als Vizepräsident:in vorgeschlagen, obwohl seit einer Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs klar war, dass es nur ein Vorschlagsrecht und kein Bestimmungsrecht gibt und die Abgeordneten nicht gezwungen werden können, für einen Kandidaten zu stimmen. Die AfD nutzte die Aussprachen teilweise für Beschimpfungen und wüste Pöbeleien. Nach einer Änderung der Geschäftsordnung müssen zukünftig zwei Fraktionen eine Aussprache beantragen, weshalb es zukünftig nur noch zum reinen Wahlvorgang ohne Debatte kommt.
Verschärft wurden auch die Regeln für Verstöße gegen die Würde des Hauses. Rügen können zukünftig mit Geldstrafen versehen werden. Die AfD fühlte sich bei den Änderungen immer direkt angesprochen und erging sich in wüsten Anklagen, die Demokratie würde mit Füßen getreten oder abgeschafft. Als besonderer Affront wurde trotz laufender strafrechtlicher Ermittlungen auch Daniel Halemba als Vizepräsident vorgeschlagen, scheiterte allerdings – wie seine Kollegen vor ihm – deutlich. Erst zur nächsten Legislatur wird die Änderung wirksam, mit der der Landtag die nichtberufsrichterlichen Mitglieder am Bayerischen Verfassungsgerichtshof bestimmt. Hier erfolgt nun eine echte Wahl, die Beteiligung der Opposition ist gesichert. Bisher konnten einzelne Personen nicht abgelehnt werden, ohne gegen die ganze Vorschlagsliste stimmen zu müssen. Die Wahl von zwei Personen (plus zwei Stellvertretern) aus den Reihen der AfD hatte im Januar zu heftigen Diskussionen geführt.
Änderungen soll es nach einem Gutachten auch in der Frage der Bezahlung von Mitarbeitern mit extremistischen Bezügen geben. Laut einer Recherche des Bayerischen Rundfunk gibt es im Bundes- wie im Landtag etliche Mitarbeitende der Abgeordneten und Fraktion mit solchen Bezügen. Die Zahl ist zudem nur eine Mindestzahl, weil es nur um Gruppen geht, die auch vom Verfassungsschutz tatsächlich beobachtet werden. Nicht mitgezählt wurde so etwa die für eine AfD-Abgeordnete arbeitende Pressesprecherin der weitgehend inaktiven „Kandel ist überall“-Gruppe. Die zuständigen Landesämter für Verfassungsschutz hatten die Organisation nie zum Beobachtungsobjekt erklärt, trotz eindeutiger Forderungen im Lichte der nun erscheinenden Urteile zur Einstufung der AfD. Aus dem Umfeld der Partei wurde mit wüsten Angriffen auf einen an der Recherche beteiligten Journalisten reagiert, Konsequenzen für die Mitarbeitenden sind keine bekannt.
Die zog die AfD-Fraktion in Bayern soweit bekannt auch nicht bei strafrechtlichen Verurteilungen. Im Oktober wurde der Strafbefehl gegen einen Fraktionsreferenten rechtskräftig, der laut Bayerischen Rundfunk die rechte Hand von Fraktionschefin Kathrin Ebner-Steiner sein soll. Er hatte 2021 bei einer Corona-Kontrolle randaliert und die hinzugerufenen Polizeibeamten beleidigt, Widerstand geleistet und in einem Fall auch getreten. Strafrechtlich ist das ein tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte.
Einen Monat später saßen drei Burschenschafter vor Gericht, zwei sollen Burschenschafter und Landtagsmitglied Benjamin Nolte zuarbeiten. Sie waren bei einer als Versammlung gewerteten Aktion der rassistischen „Identitären Bewegung” vermummt aufgegriffen worden. Einen der beiden wiederum ereilte das Schicksal kurze Zeit erneut, als vor Gericht eine eskalierte Burschenschaftsfeier im Landtag aufgearbeitet wurde. Der mutmaßliche Mitarbeiter von Nolte und ein Fotograf hatten in der Nähe der Landtagsgaststätte recherchierende Journalisten bedrängt, strafbar als Nötigung. Aus der AfD-Fraktion heraus versuchte man sich in Täter-Opfer-Umkehr, wogegen der Richter deutliche Worte pro Pressefreiheit fand.
In Bayern startete dieses Jahr auch der dritte Part des Mammut-Prozesses um die mutmaßlichen Umsturzpläne der Reichsbürgergruppe Reuß. Die dortigen Angeklagten wurden im Vorfeld verharmlosend als die dritte Garde bezeichnet, mit Blick auf den Gesamtkomplex geht es hier aber dennoch um die Spitze der Gruppe. Der Prozess wird von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und blieb ohne große Aufreger und Ausreißer in der Berichterstattung, auch nicht in puncto Entlastung.
Die beiden bekanntesten bayerischen Beteiligten stehen mit den beiden Ex-Elite-Soldaten Peter Wörner und Maximilian Eder in Frankfurt vor Gericht. Der als Survivaltrainer arbeitende Wörner war laut Anklage mit Eder und der ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten Birgit Malsack-Winkemann im Bundestag auf Erkundungstour. Der Ex-KSK-Oberst Eder machte in dem Jahr noch zusätzliche Schlagzeilen. Er hatte sich daran beteiligt, einer Mutter aus der Schweiz zu helfen, dem sorgeberechtigten Vater den Sohn zu entziehen, weil die Mutter rituellen Missbrauch unterstellte. Eder ist weniger klassischer Reichsbürger als vielmehr durch die QAnon-Erzählung geprägt. Beim Prozess in der Schweiz wurde nun ein weniger schmeichelhaftes Bild gezeichnet. Das Kind haben sich bei Eder Schädlinge eingefangen und die Situation wurde als Kindeswohlgefährdung eingestuft. Zudem stand Eder vor Gericht, weil er schon mittags alkoholisiert war und mit Fahrzeugen von anderen Anhängern Unfälle verursachte. Die Szene hält ihm dennoch die Treue, auch wenn es keine „Free Eder“-Demos mehr gibt.
Eine ungebrochene Fangemeinde hat auch der Reichsbürger Johannes Müller aus Olching. Er wurde wegen Rädelsführerschaft einer kriminellen Vereinigung verurteilt und sammelte wegen Missachtung des Gerichts wohl zusätzlich noch eine Rekordsumme an Ordnungsgeldern, die er zusätzlich zu den Mitte-Oktober verhängten zwei Jahren und zehn Monaten absitzen muss. Er und seine Mitstreiter hatten immer wieder Behörden, Polizisten und Jugendämter terrorisiert, ihnen schwerste Verbrechen vorgeworfen und den Beteiligten mit dem Tode gedroht. Der Zuschauerraum musste geräumt werden, weil Müllers treue Anhängerschaft „Großer Gott wir loben Dich“ anstimmen wollte. Die durchweg bürgerlich wirkenden Personen hatten sich, wie es eine Journalistin des SPIEGELs ausdrückte, auch durch die übelsten Todesdrohungen ihres Bruders Johannes nicht abschrecken lassen.
Mit einem Schuldspruch und Geldstrafe für den früheren stellvertretenden Landesvorsitzenden wurde nach aufgehobenem Freispruch nun die strafrechtliche Aufarbeitung der „Hängt die Grünen“-Plakate des neonazistischen „III.WEGs“ abgeschlossen. Rechtskräftig entlassen durfte die KZ-Gedenkstätte Dachau eine Mitarbeiterin, die während der Corona-Pandemie die Maßnahmen mit dem Faschismus verglichen hatte. Vier Jahre und sechs Monate muss ein über 70-jähriger Hassblogger aus dem Raum Amberg ins Gefängnis, der die Justiz seit 15 Jahren beschäftigt. In Pasing kam es zu einer rassistisch motivierten Messer-Attacke auf Muslime, lebensgefährlich verletzt wurde jedoch niemand.
Im Januar verlor die extrem rechte und verschwörungsideologische Szene ihren zentralen Veranstaltungsraum in München. Nach einer Artikelserie in der Süddeutschen Zeitung schied der Teil der Pächter aus, der die hochwertige Location immer wieder an die Szene vermietet hatte. Letztes Großevent dürfte somit der Jahresanfang des extrem rechten Medienprojekts AUF1 gewesen sein, bei dem die Szeneanwälte Dubravko Mandic, Martin Kohlmann und Andreas Wölfel den Weg nach München zurücklegten.
Vorher hatte hier radikale Impfgegner immer wieder zu Pressekonferenzen geladen, Kayvan Soufi-Siawash alias Ken Jebsen hatte teure Seminare gegeben. Bei einem „Congress der klaren Worte“ mit angekündigten Rednern wie Ulrich Vosgerau, Ulrike Guerot, Markus Krall und Vera Langsfeld hatte der Ingolstädter Baustatik-Professor Maximilian Ruppert die als Truther-Thesen bekannten Aussagen über die angebliche Sprengung der Türme des World Trade Centers vortragen.
Ein Teil der Reichsbürgerszene verlegte dieses Jahr mit dem „Treffen der 25+1 Bundesstaaten“ eine zentrale Veranstaltung nach München. Die Behörden beschränkten sich darauf, den Volksfestcharakter eines vorangegangenen Treffens mit tausend Teilnehmern zu unterbinden. Und auch der zivilgesellschaftliche Widerstand machte sich hier kaum bemerkbar. Mit etwa 500 Anhängern blieb der Zuspruch aber hinter früheren Treffen zurück, dennoch zogen die Reichsbürger durch Teile der Innenstadt und verbreiteten ungestört ihre Thesen.