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Jahresrückblick bundesweit 2022 Rechtsterrorismus, Krieg, Queerfeindlichkeit

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Gedenken an die Opfer in Bratislava, Oktober 2022. (Quelle: MsNobody / CC BY-SA 4.0)

Wie schnell ein Jahr Dinge verändert – im Januar 2022 beschäftigte sich ein Großteil der Belltower.News-Artikel noch mit dem Milieu der Corona-Leugner*innen, antidemokratischen Coronamaßnahmen-Kritiker*innen und Impfgegner*innen. Zehntausende Menschen waren da noch Woche für Woche zu diesen Themen auf der Straße. Wir beschäftigten uns mit führenden Köpfen der Bewegung (Eric Graziani / Patriotic Opposition Europe, Markus Haintz, Alexander Ehrlich, Stefan Raven) und ihren Medien (Telegram, MZW News), mit ihren Holocaust-Relativierungen und ihrer Gewalt (vgl. 04.01., 19.01., 24.01.)

Speziell das Thema einer drohenden Impfpflicht trieb dabei viele auf die Straße: Demonstrierendes „Volk“, aber auch CDU-Politiker Udo Wischtas, Vize-Landrat in Bautzen, oder Bundeswehrsoldaten um Andreas Oberauer, die zum gewaltsamen Widerstand gegen das Impfen aufrufen. Zugleich wurden Gegenproteste kriminalisiert – wie bei den Medizin-Student*innen in Dresden. Anti-Impf-Propaganda war derweil en vogue, auch auf TikTok. Die Amadeu Antonio Stiftung veröffentlichte im Januar die Broschüre „Immun gegen Fakten“ zum Umgang mit Impfgegner*innen.

Und wir fragten uns: Wohin entwickelt sich das bundesweite Protest-Milieu? Wir prognostizierten eine weiter Verschmelzung zwischen verschwörungsgläubigen und rechtsextremen Milieus. Das neue gemeinsame Thema lernten wir dann im Februar.

Im Internet beschäftigten uns die Leaks von „Patriot Front“, „Shlomo Finkelstein“ und „Ordenbandit“, Hagen Grell und die Identitäre Bewegung mit ihrer Neuausrichtung, und Gettr.

Februar

Im Februar begann die russische Armee auf Befehl Wladimir Putins einen Angriffskrieg gegen die Ukraine – nicht, ohne den Angriff mit einer Propaganda-Offensive zu begleiten, die die Ukraine als Nazis und Täter im Konflikt darstellen sollte. Verbreitet wurden die Desinformationen unter anderem durch „Alternativmedien“ wie Redfish. Während demkratische Menschen sich um die Sicherheit der Menschen in der Ukraine oder in Europa sorgten, tat die Rechtsaußen-Szene sich zunächst schwer mit der Positionierung zwischen Putin-Bejubelung und Kontakten zu ukrainischen Neonazis – sowohl in der Neonazi-Szene als auch bei der AfD.

Rechtsterrorismus:

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz wird überarbeitet und soll im Februar in Kraft treten – aufgrund zahlreicher Prozesse gegen die Meldepflicht ans BKA kommt es nicht wirklich dazu. Dafür sperrt Telegram den Kanal von Coronaleugner und Volksverhetzer Attila Hildmann.

März

Der Angriffskrieg Russlands beherrscht die Schlagzeilen. Deutschland rechtaußen findet derweil seine Position. Die Coronaleugner*innen von „Querdenken“ halten zu Putin, weil sie hoffen, dass er auch die Moderne in Deutschland beendet – auch in der AfD vertreten immer mehr Menschen diese Position. Deutsche Rechtsextreme propagieren, sie würden in den Krieg ziehen – und manche tun es auch. Steigende Spritpreise beunruhigen währenddessen Menschen in Deutschland – und die rechtsalternative Szene versucht, das Momentum wieder antidemokratisch zu nutzen. Derweil werfen wir einen Blick auf antidemokratische Gruppen im Kriegsgeschehen – etwa auf die „Gruppe Wagner“ in Russland und das „Bataillon Sparta“ in Donezk in der Ukraine.

Derweil flüchten Menschen aus der Ukraine nach Deutschland. Sie erleben Rassismus an der Grenze. Sie erleben in Deutschland antislawischen Rassismus – ebenso wie Menschen der postsowjetischen Community, die in Deutschland leben und seit Kriegsbeginn vermehrt angefeindet werden – auch körperlich. Diese Spannungen werden von russischer Desinformation befeuert, die antisemitische Verschwörungsideologien, erlogene Fälle von tödlicher „Russophobie“ oder ungeimpfte Ukrainer*innen verbreiten. Und weil ukrainische Geflüchtete schneller in die Gesellschaft intergriert werden, etwa arbeiten dürfen, als Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan, entbrennen Debatten über Rassismus in der Behandlung der Schutzsuchenden.

AfD: In Deutschland entschied das Kölner Verwaltungsgericht, dass der Verfassungsschutz die AfD als rechtsextremen Verdachtsfall beobachten darf. Im Saarland gelingt es ihr trotzdem, wieder in den Landtag einzuziehen.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser verkündet den Aktionsplan gegen Rechtsextremismus der Bundesregierung.

April

Die Verschwörungsszene weltweit bekommt ein paar Probleme.

  • Alex Jones etwa, Amerikas langjährigster Verschwörungsmedienunternehmer, ist bankrott (was ihn leider im restlichen Jahr nicht am Senden hindern wird).
  • Deutschlands prominentester Verschwörungssänger, Xavier Naidoo, veröffentlicht ein Video, mit dem er sich von QAnon und der Verschwörungsszene lossagen möchte.
  • Wegen Volksverhetzung und Ausstellung falscher Atteste erhebt die Staatsanwaltschaft Heidelberg Anklage gegen Querdenken-Arzt Bodo Schiffmann.

Rechtsterrorismus:

  • Mitglieder mehrerer rechtsextremer Telegram-Gruppen aus dem Reichsbürger-Milieu, die sich „Vereinte Patrioten“ nannten, planten den Umsturz der demokratischen Ordnung: Durch Anschläge wollten sie offenbar das Stromnetz lahmlegen und den Gesundheitsminister Karl Lauterbach entführen. Dafür horteten sie Mengen an Waffen. Radikalisiert hatten sich die Mitglieder zwischen Pandemiebeginn 2020 und Verhaftung 2022.
  • Zudem gab es Anfang April Hausdurchsuchungen und Verhaftungen in der Neonaziszene rund um die rechtsterroristischen Netzwerke „Atomwaffen Division“ und„Combat 18“ sowie rechtsextreme Kampfsportgruppen in elf Bundesländern. Pikant: Unter den jugendlichen Rechtsterroristen, die schon Waffen horteten, war ein Ex-CDU-Stadtvorstandskandidat, der offenbar zur „Atomwaffen Division“ gehören wollte.
  • Beunruhigend dazu auch der Report, wie Rechtsterrorist*innen auf TikTok um immer jüngere Mitstreiter*innen werben. Immer noch vor Gericht steht der gescheiterte Rechtsterrorist Franco A., der sich vor Gericht als harmloser Phantast zu inszenieren versucht.

Und sonst?

Mai

Rechtsterrorismus:

  • In Buffalo, New York, ermordet ein Rechtsterrorist zehn Menschen, fast alle Opfer sind schwarz. Ein Blick in sein „Manifest“ zeigt ein zutiefst rassistisches und antisemitisches Weltbild sowie Verehrung für den Christchurch-Attentäter.
  • In Deutschland wird ein rechtsterroristisches Attentat eines 16-Jährigen aus Essen: Ein aufmerksamer Mitschüler informierte die Polizei, als bei dem Jungen aus einer Begeisterung für Rechtsextremismus ein Attentatsplan wurde. Die Polizei fand ein Manifest und Waffenbauteile. Der 16-jährige wuchs offenbar bei einem rechtsextremen Eltern auf und radikalisierte sich online weiter, bis er kurz vor der Tat stand. Der Prozess gegen den 16-Jährigen startete Anfang Dezember (WDR).

Transfeindlichkeit: Ein weiterer Amoklauf fand im Mai im US-Bundesstaat Texas statt. 19 Kinder wurden von einem 18-jährigen Täter erschossen, der zuvor auf seine Großmutter geschossen hatte. Im Internet verbreiteten Rechtsextreme, der Täter sei ein Linker und transsexuell – ohne jede Grundlage in der Realität, aber mi dem klaren Willen, Hass auf trans Menschen zu schüren.

AfD: Die AfD fliegt in Schleswig-Holstein aus dem Landtag, in NRW gelingt der Wiedereinzug knapp. Vorsitzender Tino Chrupalla ruft nach einer „Initiative West“. Immer mehr Mitglieder verlassen die Partei, in Bochum zum Beispiel die gesamte Stadtratsfraktion. Geleakte Chats zeigen ein katastrophales Bild der Bundestagsfraktion, die u.a. offen über die Exekution demokratischer Politiker*innen diskutiert oder Prozesse gegen „Volksverräter“ favorisiert.

Juni

In Neustadt stürmte eine Demonstration aus dem „Querdenken“-Milieu samt Reichsbürger:innen ein Demokratiefest auf dem Hambacher Schloss. Die Polizei schritt nicht ein, sondern forderte die Gedenkstätte für NS-Opfer in Neustadt und ein Bündnis gegen Rechts dazu auf, Banner und Erkennungszeichen wegzupacken, um „nicht zu provozieren“.

In Kassel startet die Kunstgroßausstellung documenta und ein unwürdiges Ringen um den Antisemitismus auf der Ausstellung beginnt. Erst sollen antisemitische Kunstwerke ignoriert werden – doch das Größte dominiert leider den zentralen Veranstaltungsort und wird schließlich doch abmontiert, was zu mehr israelfeindlichem Antisemitismus durch beteiligte Künstler*innen führt. Verantwortung möchte aber eigentlich keine*r übernehmen. Auch in den kommenden Monaten nicht. Bis zum Ende im September sind antisemitische Werke und Protestplakate auf der documenta zu sehen.

Im Zug des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine wird auch Deutschland mit Desinformationen geflutet – die auffällig gleichförmig sind. Vorn dabei: Der Anti-Spiegel.

Ganz Deutschland freut sich über das 9-Euro-Ticket, hunderte Punks pilgern nach Sylt – und „Die Rechte“ will die Situation anheizen, indem sie eine Demonstration in Westerland anmeldet. Es bleibt aber bei der Ankündigung.

In der AfD ringen der gewählte Parteivorstand und Björn Höcke um die reale Macht in der AfD.

Queerfeindlichkeit: In Oslo hat ein Attentäter am Vorabend der Pride-Parade auf eine queere Bar geschossen. Zwei Männer wurden ermordet und 21 Menschen verletzt. Die Botschaftstat gegen sexuelle Vielfalt hatte einen islamistischen Background – die rechtsextreme Szene stimmt trotzdem zu und die AfD findet Anlass zu Islamfeindlichkeit. Während des Pride Month kommt es auch zu zahlreichen rechtsextremen Attacken. Hassattacken gegen trans Frauen nehmen im Internet zu und schwappen bis in den Bundestag und Breiten-Medien.

Rechtsterrorismus:

  • Die Polizei hat einen 18-Jährigen in Potsdam verhaftet, der einen rechtsterroristischen Anschlag geplant haben soll. Er war in einem Telegramkanal des internationalen rechtsterroristischen Netzwerks der „Atomwaffen Division“ aktiv. Hier wurden Propaganda-Videos verbreitet, auf denen Sprengungen in Brandenburg zu sehen sind.
  • In der Slowakei wird ein 22-Jähriger festgenommen, der Anleitungen für 3D-Waffen verbreitet, zu Gewalt aufgerufen und Waffenteile besessen haben soll. Auch Er ist Teil der rechtsextremen akzelerationistischen Szene.

Und auch das gab es noch: Ein in mehreren Verfassungsschutzberichten erwähnter NPD-Funktionär arbeitet monatelang als Pförtner beim Verfassungsschutz in Sachsen – und keiner merkt’s.

Juli

Rechtsterrorismus:

  • Am Abend des 4. Juli feuert ein 21-Jähriger Trump-Fan in Highland Park in der Nähe von Chicago (USA) von einem Hausdach auf eine Festival-Parade zum 4. Juli. Er tötet 6 Menschen und verletzt 25 weitere so stark, dass sie im Krankenhaus behandelt werden mussten. Im Internet zeigt er sich als Fan von QAnon und weiteren Verschwörungsideologien. Er bedient sich der Ästhetik des „Schizopilling“ – das Kokettieren mit psychischen Krankheiten und Nihilismus.
  • Auf „Terrorgram“ (der terroraffinen Subkultur auf Telegram) wird eine neue Terror-Publikation „The Hard Reset“ angekündigt.
  • Aber es gibt auch gute Nachrichten: Franco A., der ein Attentat u.a. auf Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, plante, muss doch noch in Haft. Er war 2017 verhaftet worden, dann aber 2018 wieder freigelassen worden. Fragen bleiben trotzdem offen.

Rechtsextremismus: In Thüringen haben die Behörden eine rechtsextreme Gruppierung zerschlagen. Die Führungsriege der „Turonen“ muss sich jetzt unter anderem wegen Organisierter Kriminalität vor Gericht verantworten, denn die Nazis überfielen nicht nur politische Gegner*innen, sondern dealten auch u.a. mit Crystal Meth.

Queerfeindlichkeit: Nachdem der Vortrag einer transfeindlichen Biologin und Aktivistin in Berlin abgesagt wurde, empören sich Medien und sogar Ministerien über angebliche „Cancel Culture” und beschwören eine  ausgedachte Gefahr, die von trans Personen ausgehe. Zeit für die Auflistung queerfeindliche Narrative, Codes und Dogwhistles. Im August werden bereits trans Menschen und ihre Eltern bedroht.

Rechtsextreme Mobilisierung: Die drohende Energiekrise und Gasknappheit als Angst-Thema startet. Und natürlich „Layla“: Ein sexistischer Mallorca-Party-Hit wird zum Kampagnenthema rechtsaußen: Rechtskonservative, Neonazis und Verschwörungsgläubige wittern „Cancel Culture“ und ein Verbot des Songs – obwohl es das niemals gab.

August

Coronaleugner*innen: Bedrohungen aus dem Coronaleugner*innen-Milieu treiben die österreichische Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr in den Tod. Die Pandemieleugner*innen-Bewegung fordert damit nach dem Mord von Idar-Oberstein ihr zweites Opfer – diesmal lehnt sich aber alle Verantwortung ab.

Wer trotzdem weiter die Stimmung anheizt und versucht, Empörung zu schüren, leider mit wachsender Zuschauerzahl: Ex-BILD-Chef Julian Reichelt.

Ein neues Lieblings-Narrativ der Szene: „Nürnberg 2.0“ aka Prozesse gegen die Verantwortlichen der Coronaschutzmaßnahmen, also seien diese gleichzusetzen mit Kriegsverbrechern wie in den Nürnberger Prozessen nach Ende des Nationalsozialismus.

Eine gute Nachricht aus diesem Milieu: Verschwörungs-Verbreiter Oliver Janich wird auf den Philippinen verhaftet.

Rechtsexterme Mobilisierung: Im rechtsextremen Internet erscheinen Freibäder als Orte des Bürgerkrieges, es herrsche „Migranten-Alarm“, wie der rechtsextreme „Deutschlandkurier“ schreibt – mit der Realität hat das nichts zu tun, nur mit Rassismus.

AfD: Der Brandenburger AfD-Politiker Stefan Korte verbreitet in Stockholm beim Wahlkampfauftakt der schwedischen „Alternativ för Sverige“ Verschwörungserzählungen vor rechtsextremem Publikum. Derweil will die AfD in Deutschland nicht wieder bei den Erreger-Themen des Herbstes zu spät kommen: So versucht sie, aus Energiekrise, Inflation und Existenzängsten Kapital zu schlagen. Dafür schürt sie Sozialneid, Nationalismus und Verschwörungsmythen. Die „neue Rechte“ überlegt derweil, wie sie Konflikte so anfeuern kann, dass Deutschland am meisten leiden muss.

Polizeigewalt und Rassismus: Innerhalb von sechs Tagen tötete die Polizei in Deutschland vier Menschen. Das jüngste Opfer war gerade einmal 16 Jahre alt. „Es ist eine berechtigte Angst, als migrantische Person, einen Polizeieinsatz nicht zu überleben“, sagt der Polizeiwissenschaftler Alexander Bosch. Leider gibt es noch mehr Fälle rassistisch motivierte Polizeigewalt übers Jahr – etwa mit tödlichen Folgen in Mannheim und Berlin.

September

Neonazis:

Queerfeindlichkeit: In Münster stirbt trans Mann Malte C. nach einer queerfeindlichen Attacke, die sich auf der Pride Parade in Münster ereignete. Der Täter beschimpfte zwei Frauen lesbenfeindlich, Malte C. wollte ihnen helfen, der Täter schlug ihn – und Malte C. erlag eine Woche später den Verletzungen. Für Deutschlands Rechtsaußen-Szene erneut ein Grund zu Queerfeindlichkeit.

Heißer Herbst: Kommt er, der mobilisierungsstarke, antidemokratische Herbst? In Leipzig wird eine Querfront zwischen rechtsaußen (Compact-Magazin) und links (Linkspartei) versucht, aber unterbunden. „Querdenken“ geht derweil die Puste aus: Zur Demo gegen das neue Infektionsschutzgesetz kommt fast keine*r mehr.

AfD:

Querdenker-Gewalt: Am 18. September 2021 tötete ein 49-jähriger Maskenverweigerer einen jungen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein. Der Täter wurde jetzt zu einer lebenslangen Haft verurteilt.

International Beunruhigendes:

  • Zeitenwende in Schweden: Nach Auszählung der Stimmen steht fest, dass das konservativ-rechtspopulistische Lager eine knappe Mehrheit der Stimmen erhalten hat. Zweitstärkste Partei sind die rechtspopulistischen Schwedendemokraten, die aus dem Rechtsextremismus kommen und ein zutiefst rassistisches Gesellschaftsbild verfolgen: Schweden den Schweden. Rund einen Monat nach der Wahl in Schweden haben sich die Parteien des rechten Lagers auf eine neue Regierung verständigt. Die ultrarechten Schwedendemokraten gehören zwar nicht dazu, unterstützen jedoch die Koalition im Parlament (tagesschau.de).
  • In Italien triumphierte bei der Wahl Giorgia Meloni als Vorsitzende der Fratelli d’Italia, einer postfaschistischen Partei. Das sind keine guten Aussichten, weder für die italienische Demokratie noch für die Europäische Union. Freude angesichts des Wahlsieges des italienischen Faschismus kam unterdessen von AfD und Neonazis.

Oktober

AfD: Zum „Tag der deutschen Einheit“ hält Björn Höcke eine erschreckende Rede vor 10.000 Menschen in Gera, propagiert den Schulterschluss mit Russland gegen Amerika und wettert gegen die USA als „Regenbogenimperium“, dass „unsere Kinder“ sexuell verwirre, homosexuell und trans mache.

Bei der Landtagswahl in Niedersachsen schadet das nicht: Sie kann trotz (oder wegen?) völlig neuer Mannschaft ihr Ergebnis fast verdoppeln. Außerdem mobilisiert sie 10.000 Anhänger*innen zu einer Großdemonstration im Regierungsviertel Berlins. Immerhin: Bei der Oberbürgermeisterwahl in Cottbus unterliegt der AfD-Kandidat.

Rechte Bedrohung: An einem Wochenende wird in Thüringen eine Gasexplosion in der Nähe einer Geflüchteten-Unterkunft in Apolda verhindert und eine mit einem Hakenkreuz bemalte Rohrbombe am Bahnhof Straußfurt gefunden. Zumindest die Gasexplosion soll später aber kein versuchter Anschlag gewesen sein.
Auch bedrohlich: Der Neonazi Benjamin Brinsa, zentrale Figur der sächsischen Neonazi- und Kampfsport-Szene, tritt bei einer MMA-Veranstaltung in Rostock als Trainer zweier Kämpfer auf – ohne Proteste.

Rechtsterrorismus: In der slowakischen Hauptstadt Bratislava tötete ein 19-jähriger Rechtsextremer zwei Männer vor einer LGBTQI*-Bar und verletzte eine Kellnerin schwer. Zuvor veröffentliche er ein Manifest, das eine Referenz an den Rechtsterroristen und Massenmörder aus Christchurch ist.

Reichsbürger*innen: Überraschende Wendung im Fall der „Vereinten Patrioten“, die mit einem Blackout den Tag X herbeiführen und Karl Lauterbach entführen wollten (siehe April): Sie haben eine Anführerin, die 75-jährige Elisabeth R. Sie ist kein unbeschriebenes Blatt, als ältere Frau aber unter dem Radar vieler Szenebeobachter*innen.

Rassistische Gewalt: In Mecklenburg-Vorpommern bei Wismar brannte eine Unterkunft für ukrainische Kriegsflüchtlinge ab. Die Bewohner*innen blieben unverletzt. Kurz vor dem Brand schmierten Unbekannte ein Hakenkreuz auf das Eingangschild. Die Polizei geht von Brandstiftung aus. Leider die erste Tat in einer erneuten Reihe flüchtlingsfeindlicher Gewalt.

„Meinungsfreiheit“: Elon Musk übernimmt die Geschäfte bei Twitter, verspricht „Meinungsfreiheit“, bringt Rechtsextreme und Donald Trump zurück auf Twitter, feuert das Policy Team, dass für die Regeln auf der Plattform zuständig war, sperrt kritisch berichtende Journalisten, beteiligt sich zugleich selbst als Troll, preist QAnon und positioniert sich mit Alt-Right-Memes als „anti-woke“ – seit Ende Oktober scheint sein Modus, Twitter und sich selbst zu zerstören. Und die Welt debattiert darüber, ob es gut ist, wenn globale Meinungsbildungsräume von Einzelpersonen besessen und gegebenenfalls zerstört werden können.

November

Es ist wieder Demo-Saison im Neonazi-Coronaleugner-Verschwörungsideolog*innen-Mischmilieu, vor allem in Sachsen. Berichte aus Bautzen (gestaltet u.a. von Balaclava Graphics, mit Porträt der Situation vor Ort), Altenburg, Chemnitz. Tipps, wie man demonstrieren und Unmut äußern kann, ohne sich von Neonazis vereinnahmen zu lassen, gibt das Kulturbüro Sachsen. Am Freitag, dem 11. November, zogen zehntausende Nationalist*innen, fundamentale Christ*innen, Abtreibungsgegner*innen, Rassist*innen und Neonazis anlässlich des polnischen Unabhängigkeitstages durch Warschau. Beim „Heldengedenken“ des III. Wegs in Wunsiedel war dagegen fast niemand.

Antisemitismus: Plakate der „Aktionswochen gegen Antisemitismus“, die israelbezogenen Antisemitismus thematisieren, werden attackiert und angegriffen und zeigen so ihre Notwendigkeit. Außerdem gab es antisemitische Angriffe auf Synagogen in Essen und Berlin.

Rechtsterrorismus: In der Nacht zum 20. November 2022 drang ein bewaffneter junger Mann in den queeren „Club Q“ in Colorado Springs ein. Dort ermordete er fünf Menschen und verletzte 25 weitere, bevor der Täter durch Besucher*innen des Clubs überwältigt werden konnte.

Rechtsextremismus: In Baden-Württemberg eröffnen die „Jungen Nationalisten“ (NPD) einen neuen Stützpunkt. In der Schweiz sammeln sich Neonazis bei der „Jungen Tat“. In Frankreich organisieren sich rechtsextreme Frauen im „Collectif Nemesis“.

Die Fußball-Weltmeisterschaft startet, hat selbst Menschenrechtsprobleme und Rechtsextreme nutzen sie für Rassismus, Islamfeindlichkeit und LGBTIQ*-Feindlichkeit.

Derweil sollte der Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus einer der Schwerpunkte der Bundesregierung sein. Ein Jahr nach Amtsantritt der Ampelkoalition üben zivilgesellschaftliche Organisationen Kritik an der fehlenden Umsetzung der versprochenen Maßnahmen.

Dezember

Coronaleugner*innen/Verschwörungsszene: Der „heiße Herbst“ gilt als gescheitert. Eine erneute antidemokratische Massenmobilisierung gelang nicht. Aber: Gewaltaffine Verschwörungsmilieus haben sich verfestigt. Der neuer dehate report #4 beschäftigt sich mit Desinformationen, die bleiben: von prorussischen Kampagnen zu Narrativen in der Energiekrise.

Das neueste Narrativ in der Verschwörungsszene ist Transhumanismus. Unter anderem geht es um eine satanistische Geld-Elite, die die weiße Menschheit angeblich mittels Technologie unfruchtbar machen will.

Reichsbürger*innen: Bundesweite Razzien gegen eine Gruppe aus dem Reichsbürger*innen-Spektrum bringen erschreckende Rechtsterror-Pläne ans Licht:  In der Gruppe der „Patriotischen Union“ planten u.a. ein „Prinz“, eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete und Richterin, ein ehemaliger Kriminalhauptkommissar und ein ehemaliger Bundeswehr-Oberst einen rechtsextremen, gewalttätigen Staatsstreich, noch vor Weihnachten. Waffen waren besorgt, ein Schattenkabinett aufgestellt und ein „militärischer Arm“ aus ehemaligen und aktiven Soldaten organisiert, der u.a. hätte in den Bundestag eindringen und Politiker*innen kidnappen sollen. Rädelsführer war „Prinz“ Heinrich XIII., interessant auch die AfD-Beteiligten, u.a. eine ehemalige Bundestagsabgeordnete, die noch Zugang zu den Räumen hatte. Die AfD versucht, dieses Detail durch Schweigen und Löschen auszusitzen. Kein Wunder, denn die Reichsbürger*innen-Szene spricht offen über ihre Umsturzpläne, die oft um Tag X kreisen, wie in anderen rechtsextremen Szenen auch. Hier ist mit Tag-X-Prepper-Produkten auch ein lukrativer Markt entstanden.

Rechtsterrorismus: In Paris attackiert ein 69-jähriger Rechtsextremer ein kurdisches Gemeindezentrum und einen Restaurant und einen Friseursalon am Gare de l’Est. Er verletzte drei Menschen tödlich und verwundete drei weitere Menschen. Laut einem Bericht der Staatsanwaltschaft bekannte er sich nun zu einem „pathologisch gewordenen Hass auf Ausländer“. Der Mann habe demnach seit einem Einbruch vor sechs Jahren „immer Lust gehabt, Migranten beziehungsweise Ausländer zu töten“. Er hatte bereits vor rund einem Jahr eine Unterkunft für Geflüchtete mit einer Machete angegriffen (tagesschau).

Rechtsextreme Gewalt: Außerdem hat nach Angaben der kurdischen Nachrichtenagentur ANF in der französischen Stadt Roubaix ein türkischer Faschist versucht, einen kurdischen Angestellten in einem Friseursalon zu ermorden. Der Täter, der sich selbst „Ramazan“ nannte, betrat den Friseursalon und schaltete unter rassistischen Beleidigungen das Radio, in dem kurdische Musik lief, ab. Als der 27-jährige aus Hewlêr stammende Zîkrî Elî Avşîn antwortete, dass er Musik in seiner Sprache hören könne wo er wolle, griff der Faschist zu einer Friseurschere und stach dreimal auf Avşîn ein. Avşîn befindet sich im Krankenhaus von Lille, wo er operiert wurde.

Fazit

Die wahnhaften, verschwörungsgläubigen Milieus, die sich während der zwei Jahre der Coronavirus-Pandemie zusammengefunden haben, können ihre Reichweite in die Gesamtbevölkerung nicht halten, dafür ist der verbleibende Kern radikalisiert, gewaltbereit und zu allem entschlossen – allein aus diesem Milieu sind 2022 zwei Gruppen aufgeflogen, die Bundespolitiker attackieren und einen Umsturz in Deutschland herbeiführen wollten – mit freundlicher Unterstützung aus der Reichsbürgerszene, die von Anfang an das Coronaleugner-Milieu zur Rekrutierung neuer Mitglieder genutzt hat.

Auch das Konzept des international vernetzte, online radikalisierten Rechtsterrorismus kam 2022 zu einem tragischen Höhepunkt: Es verging international kein Monat ohne tödliche Attentate oder zumindest Verhaftungen im akzelerationistischen, rechtsextremen Milieu – darunter auch mindestens drei Fälle von bereits bewaffneten Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland (Essen, Potsdam, Spangenberg).

Derweil sind aber die „klassischen“ Neonazis und Rechtsextremen weiterin aktiv, greifen Menschen aus rassistischen oder islamfeindlichen Gründen an, stählen sich im Kampfsport, organisieren sich in neuen Strukturen – oder greifen als rechtsradikale Parteien die Demokratie aus den Parlament an, auch im europäischen Schulterschluss mit rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parteien europaweit und weltweit.

Als menschenfeindliche Mobilisierungsthemen in die breite Bevölkerung haben Antisemitismus und Queerfeindlichkeit (besonders Transfeindlichkeit), an Dramatik gewonnen: documenta und Demo-Ereignisse haben gezeigt, dass der Punkt, dass Israelfeindschaft antisemitisch ist, keineswegs Konsens in einigen linken und migrantischen Milieus ist, wo inzwischen Erwähnungen der alleinigen Existenz von israelbezogenem Antisemitismus mit Rassismus gegen Palästinenser*innen gleichgesetzt wird – als wären dies keine Themen, die beide bearbeitet werden müssen, und als könne man sich nicht für Palästina einsetzen, ohne antisemitisch zu sein.

Und während sich in Deutschland queeres Leben normalisiert und damit auch sichtbarer wird, weil queere Menschen nicht mehr so dramatisch Konsequenzen befürchten müssen, wenn sie sich outen, arbeitet der rechte Teil Deutschlands daran, dass sich dies wieder ändert. Der anti-moderne Backlash bei Gender-Themen war 2022 enorm hart: Erbittert werden die Kämpfe von rechts gegen Menschen geführt, die einfach nur sichtbar queer oder trans leben möchten – bis hin zum Veröffentlichen von Privatinformationen wie Adressen in der Hoffnung, jemand anders möge gewalttätige Konsequenzen ziehen.

Es bleibt also auch 2023 viel zu tun.

 

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Das Titelbild wird veröffentlicht unter der Creative Commons Lizenz CC-BY-SA-4.0.

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