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Josef Schuster „Die größte Gefahr sehe ich in der extremen Rechten“

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Im Gespräch: Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland
Im Gespräch: Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland (Quelle: Zentralrat der Juden)

Zur Person: 1954 in Haifa, Israel geboren und in Deutschland aufgewachsen. Josef Schuster ist Arzt und seit 2014 Präsident des Zentralrats der Juden. Er ist auch Vizepräsident des World Jewish Congress und des European Jewish Congress. Er lebt in Würzburg, wo er Vorsitzender der dortigen jüdischen Gemeinde ist.

Belltower.News: Herr Schuster, Sie wurden im November für eine dritte Amtszeit als Präsident des Zentralrats der Juden wiedergewählt. Herzlichen Glückwunsch! So lange war seit den 1980ern jemand nicht mehr an der Spitze. Sehen Sie Ihre Arbeit als noch nicht fertig an?

Josef Schuster: So wie Sie es jetzt ausdrücken, würde das doch eigentlich bedeuten, dass ich nach fast neun Jahren fertig wäre und der Zentralrat schließen könnte, weil es ja keine Arbeit mehr gäbe. Da gibt es noch eine ganze Menge zu tun, auch für meine potenziellen Nachfolger wird die Arbeit nicht ausgehen. Denn man muss ja doch ganz klar sagen: Die gesellschaftliche Situation in Deutschland hat sich in den letzten Jahren zum Negativen verändert, was Antisemitismus und Rassismus angeht. Wir sind leider eher noch weiter von der Insel der Glückseligen entfernt, als wir es vorher waren.

Hat sich auch etwas zum Positiven verändert?

Dass es eine nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben gibt und sie staatlicherseits unter Einbeziehung von Betroffenen entwickelt wurde, ist ein ganz wichtiges Signal. Die Schaffung der sogenannten Antisemitismusbeauftragten in den Ländern und im Bund ist auch ein wichtiger Schritt im Kampf gegen Antisemitismus.

Wo sehen Sie aktuell die größte Gefahr von Antisemitismus?

Ich persönlich sehe die größte Gefahr in der extremen Rechten. Problematisch ist für mich die Erkenntnis, dass Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Ich sehe eine Akzeptanz der Bevölkerung zu extremeren Positionen – das hat zu großen Teilen mit der AfD zu tun, die diese Positionen in Parlamenten und anderswo äußert und so in den öffentlichen Diskurs einführt.

Sie sprechen es an: Seit Ihrer ersten Amtszeit als Präsident ist mit der AfD eine rechtsradikale bis rechtsextreme Partei in den Bundestag eingezogen. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Es ist immer notwendig darauf hinzuweisen, wes Geistes Kind diese Partei ist, welche Dinge sie vertritt und auch wer die AfD vertritt. Wir müssen entsprechend mahnend wirken, um auch den demokratischen Parteien ganz klar die Augen zu öffnen. Das machen wir nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch hinter den Kulissen, in internen Gesprächen. Wir wollen klarmachen, mit wem man sich nicht einlassen darf und wo die roten Linien sind. Ich sehe es als Aufgabe des Zentralrats, wachsam zu sein.

Und im schlimmsten Fall?

Wenn sich hier eine Entwicklung abzeichnen sollte, was ich nicht sehe, dass die AfD auf Bundesebene Regierungsbeteiligung bekäme, dann müsste man sich ernsthaft überlegen, inwieweit jüdisches Leben in Deutschland möglich und sinnvoll ist. Aber in dieser Situation sind wir heute nicht.

Das Problem heißt nicht nur AfD. Insbesonders während der Pandemie haben antisemitische Ideen unter Impfgegner*innen und Coronaleugner*innen viele neue Fans gefunden…

Bei den Demonstrationen der Coronaleugner hatte ich wieder das klassische Bild vor Augen: Irgendwas passiert in der Welt, man weiß nicht so genau, woher es kommt, und dann werden Minderheiten als Schuldige gesucht. Das ist ein Phänomen, das es bereits im Mittelalter gegeben hat. Und da waren es auch häufig die Juden, die schuld sind, nehmen Sie zum Beispiel die Pest. Synagogen wurden abgebrannt. Neben den klassischen Verschwörungserzählungen setzt man sich heute mit Sophie Scholl als Widerstandskämpferin gleich oder trägt den gelben „Judenstern“, wenn man sich gegen Corona-Impfungen ausspricht. Das ist eine alarmierende Entwicklung.

Der größte Antisemitismus-Skandal des vergangenen Jahres war zweifelsohne die documenta 15: Schon vor Beginn haben Sie gewarnt, dass manche Künstler*innen der antiisraelischen BDS-Kampagne nahestehen. Und bereits im Juli 2022, kurz nach der Eröffnung, forderten Sie ja, dass die documenta abgebrochen werden sollte. Stattdessen durfte die Kunstschau nicht nur bis zum bitteren Ende offen bleiben: Es wurden auch immer mehr antisemitische Kunstwerke entdeckt. Rückblickend könnte man meinen: Die Sorgen der jüdischen Community wurden schlicht ignoriert. Sehen Sie das auch so?

Das muss man differenzierter sehen: nicht von allen ignoriert. Schon im Februar 2022 haben wir unsere Sorgen geäußert. Da wurde uns gesagt, man könne sich darauf verlassen: Es werde keinen Antisemitismus auf der documenta geben. Das Ergebnis kennen wir alle. Viele politisch Verantwortliche haben das in der Folge aber verstanden und benannt. Nicht so die Gesellschafter der documenta, allen voran der Kasseler Oberbürgermeister als Aufsichtsratsvorsitzender. Sie wollten ihr Ereignis nicht gefährden. Wir schienen da nur lästig.

Antisemitismus in der Kulturbranche ist aber ein weitverbreitetes Problem, dass nicht nur Kassel und die documenta betrifft…

Gerade BDS hat im Kulturbetrieb viele Sympathieträger. Aber es gibt auch Menschen, die die Kunstfreiheit falsch verstehen. Die Kunst- sowie Meinungsfreiheit sind wichtige Rechte unseres Grundgesetzes. Aber beide enden dann, wenn es menschenverachtend wird. Und das wird von vielen nicht beachtet.

Machen Sie sich Sorgen, dass der Einfluss von BDS sich auch in Deutschland so ausbreitet, wie es zum Beispiel inzwischen an vielen Hochschulen und Kultureinrichtungen im englischsprachigen Raum teilweise der Fall ist?

Ich weiß, wir sind ja das Land, das Volk der Propheten. Aber ich bin kein Prophet. Ob ich Sorgen habe? Ja. Und hoffe es doch nicht.

Judenhass ist generell auf einem Höchststand in Deutschland, das zeigt auch die Statistik: Im Schnitt werden nach Behördenangaben jeden Tag fünf antisemitische Straftaten verübt. Nehmen Justiz und Polizei das Problem ernst genug?

Ich denke, die Gefahr ist erkannt worden, sie wird auch ernst genommen. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Justiz bei politischen Delikten im Bereich Antisemitismus immer noch eine Sehschwäche hat. Das, was die Justiz tut, wirkt häufig ein bisschen halbherzig und hat keinen abschreckenden Charakter. Als positive Entwicklung sehe ich die Antisemitismusbeauftragten in der Justiz, beispielsweise in Bayern oder Berlin. Sie sensibilisieren die Staatsanwälte für das Thema detailliert und vertieft und nehmen auch die Rechtsprechung kritisch in den Blick.

Ein Beipsiel für diese Sehschwäche war nach dem Angriff auf eine Synagoge in Wuppertal 2014: Drei Palästinenser verübten johlend einen Brandanschlag, den sie gefilmt haben. Von einem antisemitischen Hintergrund wollte der Richter nichts wissen. In solchen Fällen wird Antisemitismus gar nicht erst als Motivation erkannt…

Sondern als eine Art politischer Ausdruck der Abneigung Israel, ja.

Der israelbezogene Antisemitismus wird immer wieder kleingeredet: Es sei bloß legitime „Israelkritik“, keine Dämonisierung und Delegitimierung des einzigen jüdischen Staates der Welt. Mit der neuen Rechtsaußen-Regierung gäbe es aber genug Anlässe, die Politik des Landes zu kritisieren. Wie gehen Sie damit um?

Wir müssen differenzieren zwischen den Wahlergebnissen und dem, was wir jetzt als Koalition sehen. Aufgrund des Wahlergebnisses kam es ja zu der Koalition mit Ben-Gvir und Smotrich. Aber ich habe das Gefühl, dass eine ganze Reihe Israelis, auch Likud-Wähler, mit dieser Koalition nicht einverstanden sind. Wenn sie gewusst hätten, welche Koalition entstehen würde, hätten vielleicht einige das Kreuzchen woanders gemacht. Wir haben eine Entwicklung, die, auch wenn sie von den Mehrheitsparteien in der Knesset mitgetragen werden, nicht dem Wunsch der Mehrheit der israelischen Bevölkerung entspricht.

Und dennoch war es schon im Wahlkampf klar, wer alles zum Wahlbündnis von Netanjahu gehört. Die neue Regierung ist die rechteste in der Geschichte Israels. Was bedeutet das konkret für Jüdinnen und Juden in Deutschland?

Ich habe eine gewisse Sorge, dass insbesondere diejenigen, die schon immer ungerechtfertigte Kritik an Israel geäußert haben, sich jetzt erst recht ermuntert sehen und dann noch lauter tönen. Aber ich mache mir auch Sorgen um die Demokratie in Israel, vor allem was die Gerichtsbarkeit angeht. Es gibt Minister in der Regierung, die rechtskräftig wegen Korruption oder Volksverhetzung verurteilt wurden. Man sollte mit diesbezüglicher Kritik aus dem Ausland die Menschen innerhalb Israels unterstützen, die das auch kritisch sehen. Und das ist die Mehrheit der Bevölkerung. Juden in aller Welt haben eine besondere Beziehung zu Israel. Das wird sich nicht ändern.

Auch Russlands Angriffskrieg in der Ukraine spielt derzeit eine große Rolle für die jüdischen Gemeinden in Deutschland: Viele Jüdinnen*Juden kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Führt der Krieg zu Spannungen innerhalb der Gemeinden?

Erfreulicherweise können wir kaum Spannungen in den Gemeinden erkennen, ganz im Gegenteil. Ein Beispiel: Ich bin Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Würzburg, mein Stellvertreter kommt aus Sankt Petersburg. Im vergangenen Jahr ging es um die übliche Feier zum „Tag der Befreiung“ am 9. Mai. Ich habe ihn gefragt, was machen wir denn? Und da kam von ihm die Bemerkung: Wir machen dieses Jahr gar nichts, er habe seinen Respekt vor Russland verloren. Und das ist der Tenor, den ich immer wieder höre. Dass auch Menschen, die aus Russland stammen und in Deutschland leben, eine klare Positionierung zugunsten der Ukraine haben.

Die jüdischen Gemeinden betreuen zurzeit viele Geflüchtete aus der Ukraine. Wie sieht das konkret aus?

Wir betreuen übrigens nicht nur jüdische Menschen, sondern auch Menschen, die in Mischehen leben oder eigentlich mit dem Judentum wenig oder gar nichts zu tun haben. Einfach deshalb, weil die Gemeinden eine ideale Anlaufstelle sind für Menschen, die kein Deutsch, sondern nur Ukrainisch oder Russisch können. Sie finden Menschen, die ihre Sprache sprechen. Und die auch einen Migrationshintergrund haben und entsprechende Lotsen sein können. Sie werden zum Beispiel zu den Ämtern begleitet, bei der Anmeldung unterstützt oder ihnen wird bei der Wohnungssuche geholfen.

Schauen wir zum Schluss auf die kommende Amtszeit: Was haben Sie konkret vor?

Außer weiterhin Antisemitismus zu bekämpfen, ist es auch sehr wichtig, das Judentum, jüdisches Leben und jüdische Kultur sichtbar zu machen. Das Fest „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ vorletztes Jahr hat ja ganz klar gezeigt, dass Juden nicht plötzlich 1933 vom Himmel heruntergefallen und 1945 verschwunden sind, wie das häufig so wahrgenommen wird. Sondern es gab davor und danach jüdisches Leben hier. Und das will ich noch deutlicher aufzeigen. Ein Höhepunkt wird auch unter diesem Aspekt die für das Frühjahr 2024 geplante Eröffnung der Jüdischen Akademie in Frankfurt sein. Es geht darum, dort aktuelle Themen, Kultur und Tradition innerjüdisch und auch mit der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zu diskutieren.

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