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Jüdische Widerstandskämpfer Rollen sprengen, Gegennarrative aufbauen

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Das Attentat des jungen Juden Herschel Grynszpan auf einen deutschen Diplomaten in Paris wurde 1938 zum Vorwand für die Reichspogromnacht genommen. (Quelle: Wikipedia / Bundesarchiv Bild 146-1988-078-08, CC BY-SA 3.0 de)

Sie stoßen einer abgebrochenen Flasche gleich als Alltagserlebnisse marginalisierter Gruppen durch die selbstzufriedene Gegenwart großer Teile dieser Gesellschaft, die doch nur das Betroffenheitsgesicht auflegen, wenn es wieder zu einem antisemitischen Vorfall kommt.

Während sich die deutsche Gesellschaft als „Erinnerungsweltmeister“ für ihre vermeintliche erfolgreiche Aufarbeitung der Geschichte feiert, wirkt diese unheimlich fort. Sie strukturiert eine Wirklichkeit, in der Jüdinnen:Juden nicht vorkommen; nicht, solange sie keine Opfer sind; häufig nicht in progressiven Bewegungen; nicht, wenn sie sich nicht politisch instrumentalisieren lassen. Sie strukturiert eine Wirklichkeit, in der uns die Sprache genommen wird und in der das bleierne Schweigen dieser Gesellschaft sich mit einem fetischisierenden Blick auf “das Jüdische” verbunden hat.

Der ganz konkrete Schrecken wird in Mythen verstellt, bis alle zu Opfern werden. Mehr als 60 % denken, dass unter Ihren Vorfahren keine Täter:innen waren und 42 % geben an, dass ihre Vorfahren potenziellen Opfern geholfen hätten. In Wahrheit lag die Zahl an Helfer:innen im Promillebereich. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen. Die Fenster jüdischer Geschäfte wurden eingeschmissen, Wohnungen demoliert, jüdische Bürger:innen misshandelt und ermordet. Und das geschah nicht irgendwo, oder gar lokal begrenzt. Und ab diesem Punkt wusste jedes Mitglied der Volksgemeinschaft, was das Ziel des Regimes war. Doch die Mythen der Selbstviktimisierung sind sehr lebendig. Mehr mehr als 80 % der Deutschen glauben, dass der Begriff „Neuanfang“ eine eher bis sehr gute Beschreibung für das Ende des Zweiten Weltkrieges darstellt.

Deutschland feiert sich und seine Wiedervereinigung, freut sich über seine Bedeutung und Anerkennung in der Welt. Die verstörende Vergangenheit spielt dabei keine Rolle mehr. Kein Tag könnte das besser unter Beweis stellen, als der 9. November. Wird doch immer häufiger vom vermeintlichen deutschen Schicksalstag gesprochen und zunehmend der Versuch unternommen, die Erinnerung des Mauerfalls wie einen Schleier über die Novemberpogrome zu legen. Unbeschwerte, deutschtümelnde Glückseligkeit statt Verantwortung für Rauben, Morden und Zerstörung.

Die Mythen verschleiern nicht nur das Fortleben antisemitischer Gewalt, sondern schreiben Jüdinnen:Juden eine klar begrenzte  Rolle zu. Jüdinnen:Juden sollen in Deutschland über Antisemitismus und die Shoa oder über Israel und den arabisch-israelischen Konflikt reden, sie sollen vergebend und vergessend sein. Doch so ein Text ist das hier nicht! Wir sprechen über die Jüdinnen:Juden, die keinen Platz finden. Über die Opfer, mit komplexen Geschichten und jüdischen Widerstandskämpfer:innen, Partisan:innen und Soldat:innen in alliierten Armeen.

Doch sie tauchen nicht auf in den meisten öffentlichen Reden am heutigen Tag. Jüdinnen:Juden dürfen nicht kämpferisch sein. Sie dürfen nicht unbequem sein. Widerständige Jüdinnen:Juden sprengen die ihnen zugedachte Rolle.

Und dafür sind wir hier. Wir wollen diese Rollen sprengen, wir wollen Gegennarrative aufbauen, wir wollen von den unerzählten und verdrängten Geschichten erzählen. Wir erinnern und gedenken heute nicht nur der Ermordeten des November 1938, wir erinnern und gedenken nicht nur den Verfolgten und Ermordeten des gesamten deutschen Verfolgungs- und Vernichtungssystems. Wir wollen heute auch an jene erinnern und jenen gedenken, die tapfer gekämpft haben. Die einerseits buchstäblich und andererseits im übertragenen Sinn mit der Waffe in der Hand gegen die Schergen des massenmordenden Systems ankämpften.

Noch einen Gedanken, dazu, dass erinnern für uns kämpfen bedeutet. Wenn heute routiniert „Nie wieder“ gesagt wird, fehlt häufig, dass es „Nie wieder Auschwitz“ heißen sollte und nicht “Nie wieder Krieg”. Denn die kämpferischen Jüdinnen:Juden kämpften nicht mit Lichterketten gegen den deutschen Vernichtungswahn, sondern mit Waffen. Und es brauchte militärische Gewalt, um die Volksgemeinschaft von ihrem Treiben abzuhalten.

Wir wollen jetzt über ihn sprechen: Über den jüdischen Widerstand, die jüdische Wehrhaftigkeit, den Willen sich nicht vom übermächtigen Antisemitismus, von staatlicher Wilkür und Terror, von der Ausweglosigkeit lähmen zu lassen, von Menschen, die nicht länger zusehen wollten, sondern sich wehrten, von zum Beispiel Herschel Grynszpan.

Herschel Feibel Grynszpan wurde am 28. März 1921 in Hannover, als Sohn einer polnisch-jüdischen Familie, geboren. Aufgrund des zunehmenden Antisemitismus im Deutschen Reich emigrierte der damals 14-jährige Grynszpan 1935 nach Frankreich, wo er bei Verwandten wohnte. Im Rahmen der sogenannten Polenaktion wurden knapp 17.000 polnische Jüdinnen:Juden Anfang November 1938 aus dem Deutschen Reich abgeschoben. Darunter die Familie Grynszpan. Unter menschenunwürdigen Umständen wurden sie deportiert. Herschel erfuhr vom Schicksal seiner Familie durch Presseberichte und später noch durch eine Postkarte seiner Schwester, in der sie ihn um Hilfe bat.

Die antisemitische Politik des NS-Regimes, die Demütigungen und die Empörung über die Deportation seiner Familie ließen Grynzspan einen Entschluss fassen. Er wollte nicht passiv daneben stehen, er wollte handeln. Die Vorkommnisse der vergangenen Tage ließen Herschels Entschluss zu einer widerständigen Tat sich verfestigen. Am 07. November 1938 verschaffte er sich, unter falschem Vorwand, Zugang zur deutschen Botschaft in Paris. Anstelle das der 17-jährige Grynzspan vom Attaché für Besucher:innenkontakte Ernst Achenbach empfangen wurde, führte ihn das Schicksal in das Büro des dritten Legationssekretärs Ernst vom Rath.

Die Worte, die das NSDAP Mitglied Ernst vom Rath an diesem Tag hörte waren „Sie sind ein sale boche! Im Namen von Tausenden Juden übergebe ich hiermit die Dokumente!“ Dann drückte Herschel Grynzspan mit einem reingeschmuggelten Revolver ab. Am 09. November 1938, zwei Tage nach dem Attentat, ließen vom NS-Regime beauftragte Ärzte vom Rath wahrscheinlich sterben. Der Mord an ihm sollte zum Anlass genommen werden, einen lang gehegten Plan in die Tat umzusetzen.

Grynzspan wurde noch am selben Tag verhaftet. Viel ist über sein Schicksal nicht bekannt. So saß er mehrere Jahre in Paris in Haft, im KZ Sachsenhausen und im Gestapo Gefängnis in Berlin-Moabit. Ein geplanter Schauprozess wurde verschoben und fand nie statt. Im Jahr 1960 wurde Grynzspan vom Amtsgericht Hannover für tot erklärt.

Seine wehrhafte Verzweiflungstat nutzte Joseph Goebbels für die Initiierung der Novemberpogrome.

Wenn wir über die Geschichte widerständiger Jüdinnen:Juden sprechen, dann nicht, um den heutigen Tag umzudeuten, um Erinnern und Gedächtnis zu verhindern, sondern um eine pluralere Erinnerungskultur zu begründen, in der nicht nur die Opfer einen Platz haben, die die deutsche Gesellschaft für ihr Selbstbild instrumentalisiert.

Indem wir uns mit der Geschichte einer Person befassen, die leider zur Randnotiz geworden ist, weil sie nicht in hierzulande übliche Gedenkgewohnheiten passt, beleuchten wir, was vergessen wird.

Und damit werden auch die Kontinuitäten vergessen. Kontinuitäten wie der rechtsextreme und islamistische Terror, wie die Shoarelatvierung durch verschwörungsideologische Gruppen, wie Kommentare der bürgerlichen Mitte oder wie Übergriffe durch antizionistische und antisemitische Linke. Wir erinnern, um Kraft zu schöpfen. Kraft für die Kämpfe, die wir und alle anderen Jüdinnen:Juden und marginalisierten Gruppen in dieser Gesellschaft tagtäglich führen. Die Erinnerung soll in den Diskurs eintreten und bestehende Narrative brechen. Sie soll Mut machen, wenn Bedrängnis zunimmt. Die Erinnerung soll alle Menschen in dieser Gesellschaft dazu aufrufen, Verantwortung zu übernehmen, was auch bedeutet, sich selbst zu reflektieren. Die Erzählung über Grynszpan ermutigt also dazu, tradierte Bilder und Mythen zu hinterfragen. Der erste Schritt zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist es, Gewohnheiten zu irritieren. Es gilt also Gewohnheiten und Selbstgefälligkeit zu irritieren, mit der sich diese Gesellschaft als geläuterte wahrnimmt. Das Fortleben von Antisemitismus, Antiziganismus, Ableismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit sollte genug Anlass sein, gegenwärtige Verhältnisse zu hinterfragen.

Die Erzählung von Herschel als Widerstandskämpfer, die vielen mutigen Jüdinnen:Juden, die damals auf ganz unterschiedliche Weise sich innerlich oder gar äußerlich gegen die nationalsozialistische Übermacht auflehnten, die jüdischen Partisan:innen, die jüdischen Soldat:innen in den alliierten Armeen, die jüdischen Befreier:innen von Konzentrations- und Vernichtungslagern, ihnen gilt es heute ebenfalls zu gedenken. Und die Erinnerung an sie macht uns stark, stark für die Kämpfe, die vor uns liegen, stark für die Gewalt, der wir in unserem Alltag weiterhin begegnen, stark genug, um zusammenzuhalten und mutig und stolz zu sein.

 

Das Titelbild wird unter der Creative Commons Lizenz CC BY-SA 3.0 de veröffentlicht.

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