Anna Heilman, die 15-jährig am bewaffneten Aufstand der Häftlinge des Sonderkommandos in den Krematorien in Auschwitz-Birkenau beteiligt war, gehört zu den außergewöhnlichen Heldinnen des jüdischen Widerstandes.
Im Dezember 1928 geboren wuchs sie als dritte Tochter von Jakub und Rebeka Wajcblum – beide gehörlos – im Stadtteil Ulica Mila auf, der wenig später Teil des Warschauer Ghettos wurde. Die Gehörlosigkeit der Eltern übertrug sich nicht auf die Kinder, die jedoch die Gebärdensprache lernten.
Annas Vater leitete eine Fabrik mit holzhandwerklichen Produkten, wo ganz überwiegend – oder nach einer Angabe auch ausschließlich – Gehörlose arbeiteten. 1936, so heißt es in einem reich bebilderten Portrait über ihre vier Jahre ältere Schwester Ester und deren Familie, reiste ihr Vater nach Paris und stellte die Kunstwerke seiner Firma auf der Weltausstellung aus; 1939 folgte ein Ausstellungsbesuch in New York.
Auch das Kindermädchen, das sich um die drei Kinder kümmerte, war gehörlos. Ihre Eltern, die in einer geräumigen Wohnung in Warschau lebten, ließen sich eine spezielle Türklingel einbauen, durch die in ihrer Wohnung Glühbirnen aufleuchteten, wenn Besuch kam. Sie sollen einen großen Freundeskreis gehabt haben, gingen oft ins Theater und fuhren oft zu Verwandten aufs Land.
Die Familie feierte zwar die jüdischen Feiertage, ansonsten spielte die jüdische Religion für ihren Alltag jedoch nur eine eher randständige Bedeutung. Die drei Mädchen besuchten eine private katholische Mädchenschule.
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Warschau im September 1939 wurde ein ganzer Stadtteil zum „Seuchengebiet“ erklärt, und die deutschen Besatzer errichteten ein Ghetto. In diesem musste auch Familie Wajcblum leben, zusammen mit 350.000 Jüdinnen*Juden. Auch die Mädchen mussten den Davidstern tragen. Die 15-jährige Ester musste als Krankenschwester im jüdischen Krankenhaus in der Stawkistrasse 6-8 arbeiten. Der Platz davor wurde wenig später auch zum „Umschlagplatz“, von dem aus die Ghettobewohner*innen von der SS mit Zügen in den Tod geschickt wurden.
Die Deutschen schlossen und enteigneten die Fabrik ihres Vaters. Dieser kam auf die Idee, Holzkreuze auf die Gräber deutscher Soldaten zu stellen, was die Familie bis zum Mai 1943 vor der Deportation rettete.
Mai 1943: Verschleppung in das KZ Majdanek
Im Mai 1943 wurde Anna 14-jährig mit ihrer Familie in das 170 Kilometer entfernte Konzentrationslager Majdanek verschleppt, allein beim Transport in die Vernichtungslager kam ein knappes Drittel der Jüdinnen*Juden ums Leben. Annas Eltern Jakub und Rebeka Wajcblum wurden im KZ Majdanek sofort ermordet.
An die Umstände ihrer Deportation erinnerte sich Anna Heilman Jahrzehnte später in ihrer Autobiografie, die 2001 unter dem Titel Never Far Away: The Auschwitz Chronicles of Anna Heilman veröffentlicht wurde:
„Wir kamen auf den Umschlagplatz und reihten uns in ein Meer von Menschen ein. Alle saßen auf dem Boden, umklammerten ihre Habseligkeiten, die Familien drängten sich zusammen, wartend. Es schien keine Rolle zu spielen, wie lange wir warteten. […] Dann kamen die Züge und wir wurden auf sie geladen. […] Zwei Tage in geschlossenen Wagen, ohne Wasser oder etwas zu essen! […] Menschen fielen in Ohnmacht und starben, einer auf dem anderen. […] Als wir ausstiegen, waren von den ursprünglich 170 Menschen noch 120 übrig.“
September 1943: Auschwitz
Im September 1943 wurde die 14-jährige Anna mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Ester (16. Januar 1924 – 6. Januar 1945) ins KZ Auschwitz verbracht, wo sie in der Union Munitionsfabrik – einer vorgeblichen Fahrradfabrik – Sklavenarbeit leisten mussten. Auschwitz besaß „fast 50 Außenlager, die vielfach an die Privatindustrie verpachtet waren“ beschreibt Judy Batalion in ihre Biographie Annas Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Diese dienten also zusätzlich der vollständigen ökonomischen Ausbeutung der jüdischen Gefangenen. Anna trug die eintätowierte Häftlingsnummer 48150.
Anna erfuhr von dem jüdischen Widerstand durch eine Mitgefangene aus ihrem Frauenblock, die Kontakte zur polnischen Heimatarmee hatte. Als sie von den konkreten Aufstandsplänen der Mitglieder des Sonderkommandos hörte, war sie begeistert. Sie trat in Auschwitz der linkszionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair bei, der Gruppe der Jungen Wächter, was „ihre seelische Rettung“ war, beschreibt Batalion.
Abends tauschten sie sich über die Möglichkeiten von Widerstand in ihrer ausweglosen Lebenssituation aus. So bat sie einen Schlosser um eine isolierte Drahtschere, um die elektrischen Stacheldrähte durchtrennen zu können – mit dem Wissen, dass hierauf die Todesstrafe stand. Wenige Tage später erhielt sie von ihm einen Brotlaib, den sie ins Lager schmuggelte. In dem Brot befand sich eine Drahtschere.
Regelmäßig schmuggelten die Geschwister zusammen mit etwa neun weiteren jungen Frauen unter täglicher Lebensgefahr Schwarzpulver in kleinen Beuteln in der Innenseite der Kleidung, im Knoten der Kopftücher und sogar unter ihren Fingernägeln aus der Fabrik.
Judy Batalion hat die Szenen des Schmuggels rekonstruierend so beschrieben:
„Esther hatte kleine Mengen Schießpulver in verknoteten Tüchern zwischen dem Müll versteckt. (…) Am Ende des Tages verbarg Esther noch etwas an ihrem eigenen Körper, bevor sie sich auf den Weg zurück ins Lager machte, etwa eineinhalb Kilometer in Holzschuhen durch Regen, Schnee oder sengende Sonne. (…) Ein Netzwerk aus etwa 30 jüdischen Frauen im Alter zwischen 18 und 22 Jahren stahl Pulver und verwendeten in den Waffenprodukten stattdessen Abfallpulver. Sie schmuggelten Sprengstoff in Streichholzschachteln und zwischen ihren Brüsten. (…) Drei Frauen konnten an einem Tag bis zu zwei Teelöffel voll zusammentragen. Marta Bindinger, eine gute Freundin von Anna und ebenfalls Sammlerin, bewahrte die Vorräte mehrere Tage lang auf bis zur nächsten ‚Abholung‘. Es war eine vierstufige Kette von Frauen, die nichts voneinander wussten, beteiligt. Alles landete am Ende bei Róza (Róza Robota, d. Verf.), die als Verbindungsglied zwischen den diversen Widerstandsgruppierungen fungierte.
Róza gab das Pulver an die Männer weiter. Das Sonderkommando, dem Zutritt zum Frauenlager gewährt wurde, damit es Leichen wegbrachte, transportierte den Sprengstoff in einer Suppenschüssel mit doppeltem Boden (…) Die Pulverpäckchen wurden unter die Toten gesteckt und dann in den Krematorien verborgen. Ein russischer Häftling verarbeitete das Dynamit zu Sprengstoff.“
In einem Portrait der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Ester Wajcblums wird die Erinnerung einer – unbenannt gebliebenen – Mitgefangenen an diese Widerstandstätigkeit der beiden Schwestern in Auschwitz in dieser Weise wiedergegeben:
„Etwa im Frühjahr 1943 kam ein Transport aus Warschau, darunter auch zwei Schwestern – Ester und Hanna Wajcblum… Es war ihnen untersagt, sich mit anderen Häftlingen im Lager zu treffen. Trotzdem habe ich mit beiden Schwestern heimlich verkehrt. Eines Tages überreichte mir Ester Wajcblum ein kleines, leichtes Päckchen, mit der Bitte, ich möchte es aufbewahren, bis sie oder jemand anderer, den sie schicken wird, es abholt… Nach einigen Tagen kam zu mir Rosa (Róza) Robota, welche in der Bekleidungskammer arbeitete, und verlangte das Päckchen. Dies wiederholte sich mehrmals… In den Päckchen war, wie ich später erfuhr, das von den Union Werken herausgeschmuggelte Schießpulver. Ester sprach nie darüber, nur einmal sagte sie zu mir: ‚Wir könnten uns von dieser Hölle befreien…’“
7. Oktober 1944: Der jüdische Aufstand in Auschwitz
Am 7. Oktober 1944 beteiligten sich Anna und Ester, unter Verwendung des geschmuggelten Schwarzpulvers, am heldenhaften Aufstand des Sonderkommandos. Mit Hilfe des Schwarzpulvers konnte das Krematorium IV so weitgehend zerstört werden, dass es nie wieder von den Deutschen Mördern verwendet werden konnte. Ein Großteil der Aufständischen wurde anschließend von der deutschen Wehrmacht bei ihrer Flucht ermordet.
Batalion beschreibt den Aufstand des jüdischen Untergrundes in Auschwitz folgendermaßen:
„Am 7. Oktober 1944 attackierte der jüdische Untergrund einen SS-Mann mit Hämmern, Äxten und Steinen und sprengte ein Krematorium in die Luft, in dem man zuvor mit Öl und Alkohol durchtränkte Lappen platziert hatte. Die Kämpfer gruben versteckte Waffen aus, töteten eine Handvoll SS-Männer und verwundeten weitere. Einen besonders sadistischen Nazi warfen sie bei lebendigem Leib in den Ofen. Dann durchschnitten sie den Stacheldraht und flohen. Allerdings nicht schnell genug. Die Nazis erschossen alle Fliehenden.“
1945: Die Hinrichtung von Ester, Rózia, Regina und Ala
Annas Schwester Ester – deren Identität in der Literatur über einen sehr langen Zeitraum nicht bekannt war – soll nach dem niedergeschlagenen Ghettoaufstand von Auschwitz denunziert worden sein. Ester wurde von der SS festgenommen und zusammen mit den Widerstandskämpferinnen Rózia Robota, Regina Safirsztajn und Ala Gertner monatelang in einem Bunker in Auschwitz gefoltert. Sie verrieten trotz der barbarischen Folter keine Kampfgenossinnen, sondern nannten nur Namen von Kämpfern, die bereits ermordet worden waren. Sie wurden durch den Tod durch den Strang verurteilt.
Einem Mitglied des Widerstandes aus Rózia Robotas Heimatstadt, Noach Zabludovits, gelang es, sie im Folterbunker mittels Bestechung durch Wodka noch einmal vor ihrer Ermordung zu besuchen. Diesen letzten Besuch beschreibt Batalion eindrücklich:
„Sie sagte mir, dass sie niemanden verraten habe. Sie wollte ihre Kameraden wissen lassen, dass sie nichts zu befürchten hatten. Wir sollten weitermachen. Sie hegte kein Bedauern, wollte lediglich in dem Wissen sterben, dass die Aktionen der Bewegung weitergingen. Sie gab ihm einen Brief an die verbliebenen Kameraden mit. Er war unterzeichnet mit der Mahnung Chazak V´Amatz – Seid stark und mutig.“
Die 20-jährige Ester schrieb einen letzten Brief an Anna und einen an Marta, in dem sie Letztere bat, sich „meiner Schwester anzunehmen, damit ich leichter sterben kann.“
„Ich höre die Schritte der Gefangenen, die auf den Boden über mir knallen, das Gemurmel der Menschen, die nach einem langen Arbeitstag zu ihrem Block zurückkehren, um sich auszuruhen. Durch die Gitterstäbe meines Fensters versuchen wenige graue Lichtstrahlen sich einen Weg zu bahnen, die Strahlen des Sonnenuntergangs gebrochen von den Schatten vieler vorbeigehender Füße.
Die vertrauten Geräusche des Lagers – die Schreie der Kapos, die Schreie nach Tee, nach Suppe, nach Brot, all diese verhassten Geräusche scheinen mir nun kostbar und werden so bald verloren sein. Diejenigen hinter meinem Fenster haben noch Hoffnung, aber ich habe nichts; alles ist für mich verloren. Die frohe Botschaft der bevorstehenden Befreiung ist nicht für mich, der Tee ist nicht für mich, der Appell, alles ist verloren und ich will doch unbedingt leben.“
Am 6. Januar 1945 wurden die vier Frauen von den Deutschen öffentlich gehängt. Das gesamte Frauenlager, auch Anna, musste der Ermordung beiwohnen.
Die 16-jährige Anna versuchte sich danach mehrfach das Leben zu nehmen. Nach der Evakuierung des Lagers im Januar 1945 kam sie auf den Todesmarsch, dann nach Ravensbrück und in das KZ Neustadt-Glewe, wo sie am 2. Mai 1945 von der Roten Armee befreit wurde.
Über Belgien und Palästina nach Kanada
Anna ging nach Belgien, dann Palästina, wo sie als Sozialarbeiterin arbeitete und ihre Schwester Sabina wiedertraf. Sie heiratete Hoshua Heilman, bekam zwei Töchter: Ariela (geb. 1951) und Noa (geb. 1953). Sie zogen 1958 aus beruflichen Gründen – Hushua war ausgebildeter Hebräischlehrer – nach Boston, zwei Jahre später in das kanadische Ottawa, wo ihr Mann als Schuldirektor und sie als Sozialarbeiterin für die Children’s Aid Society bis zu ihrem Ruhestand im Jahr 2001 arbeiteten.
In Auschwitz hatte Anna ein Tagebuch geführt, das von der SS gefunden und vernichtet wurde. Nach ihrer Befreiung schrieb sie es 1945 in einem Vertriebenenlager aus dem Gedächtnis neu auf. In den folgenden Jahrzehnten arbeitete sie immer mal wieder am Manuskript, welches 2001 – unmittelbar nach ihrer Pensionierung – auf Englisch unter dem Titel Never Far Away: The Auschwitz Chronicles of Anna Heilman erschien. Ihr Werk wurde 2002 mit dem Ottawa Book Award ausgezeichnet.
Anna Heilman verstarb am 1. Mai 2001 im Alter von 82 Jahren in Ottawa.
Die Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit veröffentlicht auf Instagram eine lesenswerte Serie über Held*innen des Jüdischen Widerstandes, auch dieses Portrait erscheint dort in gekürzter Form.