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Jugend und Pandemie Bildungsdiskriminierung aus rassistischen Vorannahmen

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Website des Vereins Transaidency e.V.; zum Graffiti gibt es ein Projekt: "Make Hummus not Walls" (Quelle: Transaidency.org)

Wie geht es Jugendlichen in der Pandemie? Dazu interviewt die „ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit “ der Amadeu Antonio Stiftung Jugendprojekte in Berlin. Heute spricht Rosa Fava, Leiterin von ju:an, it Jouanna Hassoun von Transaidency e.V..

Ihr habt eine Befragung zu den Auswirkungen von Corona auf Jugendliche bzw. Schüler:innen gemacht. Wie kam es dazu und was sind die genauen Hintergründe?

Transaidency haben wir 2015, als viele Geflüchtete in Deutschland Schutz gesucht haben, gegründet. Wir haben verschiedene Projekte in den Bereichen Bildungsgerechtigkeit, Berufsorientierung, Antidiskriminierung, antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus, auch zu politischen Strukturen und Demokratie. Als die Pandemie losgegangen ist, haben wir als Verein sofort entschieden, dass wir nicht nur zugucken, sondern eingreifen wollen. Wir haben ein Nachhilfeprojekt ins Leben gerufen, das ganz überwiegend ehrenamtlich betreut wird. Wir haben Bildungspatenschaften gegründet, so dass es nicht ständig wechselnde Nachhilfelehrer:innen gibt, sondern die Jugendlichen feste und verbindliche Bezugspersonen haben. Manche unterrichten und unterstützen jetzt seit über einem Jahr. Wir haben finanzielle Unterstützung vom Kinderhilfswerk bekommen, davon haben u.a. wir Laptops für die Jugendlichen gekauft.

Ganz schnell haben wir Rückmeldungen dazu bekommen, wie sehr Familien von Bildungsungerechtigkeit betroffen sind, diejenigen Familien, die sich nicht 1:1 um schulpädagogische Betreuung kümmern können. Daher haben wir angefangen, systematisch nachzufragen, zum Beispiel bei den „Stadtteilmüttern“ oder anderen Familien, mit denen wir eng zusammenarbeiten, bei Bildungseinrichtungen und anderen Kooperationspartner:innen. Wir wollten eine, natürlich nicht repräsentative, Situationsanalyse erstellen, um unsere Angebote besser abzustimmen. Gerade läuft eine Befragung in Moabit, wir haben einen Stand aufgebaut, um Schüler:innen direkt zu befragen. Das wird eine valide Umfrage mit einer hohen Zahl an Befragten und viel empirischem Material.

Was wurde euch denn berichtet?

Wir haben sehr viele Rückmeldungen dazu bekommen, wie unterschiedliche Lehrer:innen mit den Schüler:innen umgegangen sind. Um bildungsstarke Jugendliche wurde sich sehr viel gekümmert, mit Online-Unterricht, man versuchte immer, eine Lösung zu finden. Bei bildungsbenachteiligten Familien sah das meist anders aus. Wenn zum Beispiel eine Lehrerin mit dem Fahrrad vorfährt, einen Umschlag mit 20 Arbeitsblättern abgibt und sagt, das wird jetzt bearbeitet, in zwei Wochen hole ich sie wieder ab‘, frage ich mich, wie soll das funktionieren? Wenn die Eltern arbeiten, selbst keinen Zugang zu Bildung haben, wie sollen sie bei den Aufgaben helfen können? Am schlimmsten war es für diejenigen, die MSA- oder Abiturprüfungen hatten letztes Jahr. Das war eine Katastrophe. Die Schüler:innen wurden alleine gelassen. Es gab verschiedene Nachhilfeangebote, ohne direkte Hilfe wären viele glatt durchgefallen. Nicht schön.

Eure Zielgruppen sind vor allem bildungsdiskriminierte Gruppen, aber nicht nur?

Ich würde sagen bildungsbenachteiligt. Wir haben Mütter erreicht, Väter erreicht, Schüler:innen vor allem aus Berlin und aus Mitte, weil wir hauptsächlich von dort aus agieren. Wir haben auch viele Geflüchtete erreicht, berlinweit, und die waren mehr als bildungsbenachteiligt, wirklich bildungsdiskriminiert. Da ging tatsächlich gar nichts. Wenn es kein Wlan in der Unterkunft gibt, geht nichts. Wir haben mit ihnen gesprochen und auch viele Informationen von Sozialarbeiter:innen bekommen.

Im Grunde genommen wurden die Schüler:innen nicht nur in Stich gelassen, sondern man hat von vornherein nichts von ihnen erwartet. Beziehungsweise, oft war die Vorannahme, dass die Eltern sich nicht um die Bildung kümmern können oder es gar nicht wollen. Man kann niemanden vorwerfen, nur weil sie selbst über einen niedrigen Bildungsstatus verfügen, dass ihnen die Bildung ihrer Kinder egal sei. Wenn die Lehrer:innen sich dann nicht kümmern, wer sonst? Das ist fatal. Es gab auch die Annahme, dass die Eltern ohnehin arbeitslos seien und sich daher wiederum doch die ganze Zeit um die Kinder kümmern müssten. Bei einer Familie beispielsweise haben beide Eltern gearbeitet, der Vater als Arzt, aber die Lehrer:innen sind davon ausgegangen, dass die Eltern sich aus Faulheit nicht um die Hausaufgaben kümmern. Solche Dinge wurden uns von den Befragten direkt gesagt. Beispielsweise, wenn es um die Notbetreuung ging: Viele Eltern mussten ausdrücklich und deutlich formulieren oder sogar nachweisen, dass sie wirklich arbeiten und die Kinder in die Schule oder Kita gehen müssen.

Oft sind Lehrer:innen gar nicht auf die Jugendlichen oder die Eltern zugegangen. Eltern berichteten uns, dass sie verzweifelt immer wieder bei Lehrer:innen angerufen haben, oder dass sie auf Emails keine Antwort erhalten haben. Die Situation war für alle neu und herausfordernd, aber dass gar nicht reagiert wurde, finde ich schon verdächtig. Vor allem in Schulen mit hohem Migrant:innenanteil oder auch hohem Anteil muslimischer Schüler:innen hat man sich erlaubt, die Augen zuzumachen, nach dem Motto ‚interessiert eh niemanden‘. Viele Erfahrungen gab es dabei schon vor Corona: Jogginghosen sind bei vielen Jugendlichen in, und sie laufen überall damit rum. Bei einem muslimischen Jugendlichen, so der Bericht, haben Lehrer:innen das dann komplett auf die Kultur geschoben, dass Muslime eh nicht wüssten, wie man sich angemessen anzieht.

Kannst du mehr zu den diskriminierenden Erfahrungen sagen, die gar nicht mit der Pandemie zusammenhängen?

Die Berufswahl ist ein typisches Feld. Eine Schülerin, die gute Noten hatte und einem Lehrer sagte, dass sie studieren möchte, erhielt die Antwort: ‚Für dich ist eine Ausbildung gut, mehr wirst du nicht schaffen.‘ Viele scheinen zu denken, die Jugendlichen aus marginalisierten Schichten setzen das Leben der Eltern fort und werden Hartz IV-Empfänger:innen. Es wird ihnen nicht einmal die Möglichkeit eröffnet, dass da mehr zu erreichen ist. Manchmal sind Schüler:innen überfordert und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.

Was mich traurig macht, ist, dass sich wenig verändert hat. Wenn ich an meine Schulzeit denke, war es genauso. Ich musste auf eine Hauptschule gehen, und als ich der Berufsberaterin sagte, dass ich Jura studieren will, hat sie mich ausgelacht! Sie hat mich wirklich ausgelacht, und ich war es, die das Gespräch beendet hat. Ich bin dann in die Klasse zurück und habe den Mitschüler:innen gesagt: Ihr braucht nicht zur Berufsberaterin zu gehen, die wird euch nur deprimieren, kommt mal lieber zu mir! Jura habe ich dann nicht studiert, sondern was Anderes, aber das Gleiche passiert auch heute.

Schüler:innen mit Migrationsgeschichte werden sehr oft schlechter bewertet, ohne objektive Begründung, sondern auf Grund von Vorannahmen, ohne ihre Situation unter einem ganzheitlichen Ansatz zu betrachten. Es fängt schon damit an, welche Empfehlung man in der Grundschule bekommt. Viele Familien müssen da echt kämpfen. Sie kommen zu uns und fragen: Wie kann das sein, die Noten stimmen, aber mein Kind bekommt keine Gymnasialempfehlung? Eltern, die selbst schon im Beratungssystem unterwegs sind, wissen, wie sie sich zu helfen haben. Aber Familien, die neu nach Deutschland kommen, die Beratungsstrukturen nicht kennen, nicht wissen, welche Rechte sie haben, da sind die Kinder dann verloren. Es gibt auch Schüler:innen, die viel zu lange in den Willkommensklassen sind, obwohl sie den Anschluss gut erreicht haben. Es werden nur die Willkommensklassen gefüllt, anstatt den jungen Menschen eine Perspektive zu eröffnen.

Du beschreibst sehr gut zwei verschiedene Effekte: Es gibt die sozio-ökonomisch schwachen eingewanderten Familien mit oft insgesamt niedrigem Bildungsstand und Einkommen, deren Kindern der Aufstieg nicht zugetraut wird, und dann gibt es die eingewanderten Familien, die mittleren Schichten angehören, die aber auch nach unten verortet werden.

Der Rassismus macht keinen Halt, egal, was der Hintergrund ist, er drückt sich nur anders aus. Wir hatten auch eine Familie, bei der die Lehrer:innen davon ausgingen, dass die Eltern kein Deutsch sprechen, nur weil die Tochter ein Kopftuch trägt. Es fehlen ja auch die Zwischendurchbegegnungen zur Zeit. Als es dann einmal zu einer Begegnung kam, waren die Eltern sehr irritiert, wie die Lehrerin mit ihnen sprach: Wie mit Menschen, die überhaupt nichts verstehen. Sie konnten gar nicht antworten. Als sie ihren Schock überwunden hatten, konnten sie fließend auf Deutsch reagieren – und plötzlich änderte sich die ganze Art der Lehrerin, die dann auch etwas freundlicher war, ihnen mit weniger Ablehnung begegnete.

Welche Unterstützungsangebote habt ihr gemacht?

Wir gehen einerseits selbst ins Gespräch mit den Beteiligten. Eine Kollegin, die in der Berufsorientierung arbeitet, macht alles selbst: Sie ruft beim Jobcenter an, sie ruft in der Schule an, sie ruft überall an und unterstützt die Jugendlichen, dass sie beispielsweise eine Weiterbildungsbescheinigung bekommen. Und andererseits arbeiten wir mit ADAS zusammen, der Anlaufstelle Diskriminierungsschutz an Schulen, die rechtliche Unterstützung bzw. Beratung geben kann. Dann zentral unser schon genanntes kostenfreies Nachhilfeprojekt. Wir prüfen dabei übrigens nicht, wie hoch das Einkommen ist. Es gibt Familien mit einem relativ hohen Einkommen, aber wenn dann vier Kinder da sind, heißt das nichts. Genauso wenig fragen wir nach einem Migrationshintergrund, sondern alle bekommen die Unterstützung, die wir, wenn auch in sehr kleinem Rahmen, geben können.

Wenn du eure Erfahrungen zusammenfassen und daraus Forderungen an die Politik ableiten würdest, welche wären das?

Bildungsgerechtigkeit! Zunächst einmal eine höhere Wertschätzung von Bildung, dass mehr in den Bildungsbereich investiert wird. Dass zum Beispiel Schulen anders aussehen als eine Psychiatrie oder ein Gefängnis. Man kann depressiv werden in den Gebäuden, ich frag mich, wie man in der Atmosphäre arbeiten und lernen kann. Auch optisch muss Bildung aufgewertet werden. Keine Einsparungen im Bildungssystem. Im Bereich Bildung, Jugend- oder Sozialarbeit, so meine Erfahrung aus 20 Jahren im Beruf, wird am ehesten gespart. Es müssen mehr Lehrer:innen eingestellt werden. Gerade habe ich von einer so genannten Brennpunktschule erfahren: Da wurden sechs Lehramtsstudierende, die im Unterricht unterstützt haben, entlassen, um statt dessen Quereinsteiger:innen einzustellen, die etwas weniger kosten. Gegen Quereinsteiger:innen ist nichts zu sagen, sie bringen aber in der Regel erst einmal kein pädagogisches, didaktisches Fachwissen mit. Kinder, die so lange nicht in der Schule waren, müssen auch erst wieder die schulischen Strukturen erlernen, egal, was ihr Hintergrund ist. Ganz wichtig ist, falls wir auf eine vierte Welle zusteuern: Bis jetzt sind nicht alle Schulen mit Luftfilteranlangen ausgestattet, auch weil unterschiedliche Stellen sich streiten, wer die Stromkosten, Wartungskosten, auch Haftung bei Schäden übernehmen muss. Wenn man die Sommerpause nicht nutzt, um die Schulen auszustatten, ob mit digitalem Equipment für hybrides Arbeiten, mit Luftfiltern, wird man wieder die Schulen zu machen und die Kinder werden insgesamt zwei Jahre verlieren.

Was das „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona“ des Bundes betrifft: Ich bin mit vielen, auch großen Trägern im Gespräch, und viele wissen gar nicht, worauf sie sich einstellen sollen. Ich verstehe, dass die wirtschaftliche Lage nicht rosig ist, aber wenn man für die Wirtschaft so große Summen zur Verfügung stellen kann, darf es nicht nur Peanuts für die Bildung geben. Die Frage ist auch, wo kommt das Geld an? Bei den großen Trägern, gibt es eine zentrale Vergabestelle, ist das fürs Online-Arbeiten, wann gibt es konkrete Informationen, wie sind die Antragswege? Bei dem, was an Informationen öffentlich zugänglich ist, dachte ich: Als kleiner oder mittlerer Träger ist man da raus. Wer stellt die Anträge? Auch wenn das Geld dann da ist, aber das Personal fehlt, wer setzt das um? Auch Schulen sind oft noch mit der Bürokratie vom letzten Jahr beschäftigt, mal lässt die Schuldirektor:innen, die Lehrer:innen wieder komplett alleine. Nun gut, man kann immer viel kritisieren, aber wir wollen konstruktiv sein, daher meine Forderungen noch einmal zusammengefasst: Keine Einsparungen, qualifiziertes Personal einstellen, Vorbereitung auf die vierte Welle, Bildungsgerechtigkeit ernst nehmen.

Die Website des Projektes:

https://transaidency.org/


ju:an goes Belltower.News

Auf Belltower.News veröffentlicht die ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit Beiträge, in denen sie Stimmen von Expert*innen zu einem Thema rund um Rassismus, Antisemitismus und Corona einholt.

  • Den Start macht Jenny Hübner, eine Mitbegründerin der Landesarbeitsgemeinschaft Offene Kinder- und Jugendarbeit Berlin: Was ist überhaupt digitale Jugendarbeit, welche Herausforderungen gibt es und wo kommen ungleiche Voraussetzungen zum Tragen?
  • Weiter geht es mit Teresa Fischer und Micky Patock, Straßensozialarbeiter:innen bei Gangway e.V. zu dem Problem: Wenn Jugendliche von Racial Profiling betroffen sind.
  • Kimiko Suda von korientation e.V. stellt das Projekt Media Empowerment für German Asians vor, das zum Ziel hat, Asiatische Communities in Deutschland sichtbarer zu machen und Jugendliche in ihrem Selbstaustdruck zu stärken.
  • Yael Michael und Yonatan Weizman von „Shalom Rollberg“ stellen ihr Projekt vor, das sich der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitimus im Kontext von Freizeitangeboten, Hausaufgabenhilfe und Aktivitäten für Austausch und Begegnung in einem überwiegend von Muslim:innen bewohnten Kiez widmet.
  • Mit Georgi Ivanov und Eileen König sprechen wir über Amaro Foro, eine Organisation von Roma:Romnja und Nicht-Roma:Romnja, über Empowerment von Jugendlichen und ihre Beratungs- und Unterstützungarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen.
  • Jouanna Hassoun von Transaidency e.V. berichtet von den rassistischen Diskriminierungen, die viele Familien nicht nur unter Pandemiebedingungen in der Schule erfahren.
  • Über die Bedeutung der Mädchen*arbeit gerade in Zeiten, in denen der öffentliche Raum beschränkt wird, unterhalten wir uns mit Vivien Bahro und Sevim Uzun aus der Schilleria.
  • Marina Chernivsky stellt die Arbeit der Beratungsstelle für Betroffene antisemitischer Gewalt OFEK vor und geht auch darauf ein, welche Veränderungen im Antisemitismus in der Pandemie sofort sichtbar wurden.

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Was ist das? Sexismus

Sexistische Zuschreibungen sind vor allem für Frauen oder alles, was als „typisch weiblich“ gilt, ein Nachteil: In Deutschland verdienen Frauen beispielsweise im Schnitt ca. 20 Prozent weniger als Männer für die gleiche Arbeit. Um sexistische Einstellungen zu verändern, müssen wir im Kopf anfangen.

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