Mit Andachten begann der Tag. Die jüdische Synagoge und alle großen Kirchen im Zentrum der Stadt hatten eingeladen, waren mehr oder minder gut besucht, in der Unterkirche der Frauenkirche zum Beispiel blieb jeder zweite Platz leer. Sehr viel mehr Auftrieb war dagegen an der jüdischen Synagoge. Dort hat auch die Aktion Sühnezeichen ein Zelt errichtet, in dem Jugendliche seit dem Vortag Wache halten, Gemeindemitglieder verteilen Tee, Kaffee und Gebäck.
Aus allen Kirchen werden am Samstagvormittag wie bei einer Prozession Gedenk-Kerzen zum Altmarkt getragen um sie an einer Stelle auf dem Pflaster abzustellen, das noch aus der Zeit vor der Bombardierung Dresdens am 13. und 14. Februar stammt. Dort wird ein Gedenkstein eingeweiht. Darüber steht eine Gravur „zum Erinnern und Gedenken“ an die zahllosen Menschen, deren Leichen hier nach den Bombenangriffen verbrannt werden mussten. Darunter steht: „Damals kehrte das Elend des Krieges von Deutschland aus in alle Welt getragen auch in unsere Stadt zurück.“
Den Zug hierher begleiten vor allem älterne Dresdener, etwa 800 an der Zahl, darunter Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (verstorben im August 2021), der sich sichtlich in dieser Rolle sonnt. Pressefotografen fragt er, ob sie ihm ein Bild des Events schicken könnten und gibt ihnen freimütig seine Visitenkarte. Ob er denn am Nachmittag auch bei den anderen Protestkundgebungen dabei sei, wird er von einem der Mitinitiatoren der zwei Stunden später startenden Aktion „Geh-Denken“ gefragt, die DGB, Kulturbüro Sachsen, Amadeu Antonio Stiftung, Kirchen, SPD, Grüne und andere auf die Beine stellen. Nein sagt er, aber das sei „nicht weil ich feige bin, sondern am Nachmittag einen Termin in Berlin habe“. Der wahre Grund: ursprünglich hatte er den Aufruf zum „Geh-Denken“ sogar mitunterzeichnet, aber dann seine Unterschrift zurückgezogen, weil er nicht mit Politikern wie Gregor Gysi oder Oskar Lafontaine von der Linkspartei auf einer Bühne stehen wollte. Ein wenig feige ist das schon.
Mit genau solchen Parolen sammeln sich indessen die ersten Altnazis und Neonazis an der zur City gewandten Busbahnhofseite des Dresdener Hauptbahnhofs, wettern auf Schildern und Transparenten gegen „Deutschen Schuldkult“, „Nationalen Masochismus“ und „alliierten Bombenterror“. Gegen 13 Uhr zählt die Polizei 6.700 Teilnehmer, vorwiegend männlich und relativ jung. Die Polizisten haben zwar Zugangskontrollen eingerichtet, aber nur an einer von drei Zugangsseiten wird auch genauer in Taschen und auf Kleidung geguckt, so dass die Nazis sogleich im Internet melden, dass ihnen die Polizei heute keine Probleme bereitet. Ohnehin machen es sich die Neonazis zum Spaß, zu Beginn alle Parolen laut zu verlesen, die ihnen als Auflage untersagt worden sind. Ein längst gängiger Szenetrick, Verbotenes eben doch kundzutun.
Altnazis treibt die Menge Tränen der Rührung in die Augen. Polnische Neonazis sind da, österreichische wehen mit schwarzer „Oberösterreichflagge“ und Kameradschaften aus Aachen, Bad Nenndorf und Dessau verteilen rege Hochglanzflugblätter, auf denen die anwesenden „nationalen Sozialisten und Volksgenossen“ bereits für die nächsten braunen Aufmärsche geworben werden. An „Euch, die letzten Getreuen und fühlenden Deutschen“ wird darin appelliert, sich gegen die „Lügen der humanen Befreiung“, „Weltgaunertum“ und gleich das ganze „System“ zu wehren. Zugleich verteilen einschlägige Szenematerialversände ihre Flugzettel, einer aus Sotterhausen bietet neben „Strurmtrupp“ und „Faustrecht“-CDs auch gleich einen Schlagstock für 20 Euro mit an. Dass die meistgetragene Naziklamotte an diesem Tag das Etikett Pitbull oder Thor Steinar trägt, wundert hier niemanden mehr.
Besonders zynisch fällt der Dress einer Gruppe Rechtsextremer ins Auge, deren Thor Steinar Jacken mit Kampffliegern geschmückt sind, wo doch angeblich gerade heute die Neonazis gegen „Terror“ aus der Luft demonstrieren wollen. Ein paar neugierige Journalisten trauen sich im Getümmel Fragen zu stellen. Wieso sie noch von den alten NSDAP-Zeiten schwärmen können und so auf Rache aus sind, werden Jugendliche gefragt.
„Ooch, hab‘ eben viele interessante Bücher bei meinem Opa gelesen“, meint einer, bevor ihm ein Ordner in die Parade fährt – „Ey mit den Scheißern sprichst du nicht!“. Mitten in der Menge wird nebenbei die Lagerbildung im Führungsstreit der NPD augenfällig. Noch-Parteichef Voigt etwas isoliert auf der einen Seite, auf der anderen sein Rivale Molau im Flirt mit Holger Apfel und dem neuen Chef der DVU.
Dann beginnen die Reden, ein 95 jahre alter NS-Fliegerheld darf Tränen um „die armen Mütterchen und Väterchen“ in den Kriegszeiten weinen und lügt dreist: „Wir haben uns nichts vorzuwerfen.“ Es ist endgültig Zeit diese Veranstaltung zu verlassen.
Zeitgleich sammeln sich an drei Punkten in der Stadt jeweils bis zu 5000 Menschen, zahlreiche Dresdener, aber auch viele Besucher aus anderen Städten. Hamburg, Hannover, Lübben, Berlin, Franken, Schwaben, Friesland – zahlreiche Dialekte sind wahrnehmbar. Vom Denkmal Goldener Reiter, Dresdens Bahnhof Neustadt und dem örtlichen World Trade Center aus starten sie in friedlicher und fröhlicher Stimmung, ganz egal, welcher politischen oder religiösen Richtung sie angehören.
„Lasst uns Sachsens Haken schlagen“ heißt es symbolisch auf einem der mitgeführten Transparente, die bis zum Theaterplatz vor der Semperoper getragen werden. Dort hängt über allen Köpfen an der Kuppel ein überdimensionales Erich Kästner-Zitat: „Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht und für das, was unterbleibt.“
Der Weg führt über die Elbbrücken Richtung Theaterplatz, Auto und Straßenbahnverkehr sind wegen der großen Menschenmasse längst eingestellt. Kunsthochschulklassen sind dabei, junge Christen, Solidarnoscz-Anhänger aus Polen und Familien mit Oma, Opa und Kinderwagen. Auch eine Gruppe Bombardier-Arbeiter ist dabei, ihr Schild lautet: „Für Nazis ist der Zug abgefahren.“ Am Rande stehen drei junge Geschwister, haben sich ein großes Schild gebastelt. Auf der einen Seite steht: „Nie Wieder Krieg, unser Uropa hat ein Holzbein“, auf der anderen: „Nazis sind bekloppt“. Demokratie soll auch Spaß machen.
Dies wird in seiner Rede auch einer der Kernsätze von Wolfgang Thierse. Der Schirmherr der Amadeu Antonio Stiftung läuft in der ersten Reihe neben der Stiftungs-Vorsitzenden Anetta Kahane, dem früheren Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee, (Ex-)DGB-Chef Sommer, (Ex-)Grünen-Chefin Claudia Roth und weiteren Prominenten. Nur Dresdens Oberbürgermeisterin fehlt. Stattdessen steht der Oberbürgermeister von Jena, Albrecht Schröter, direkt neben Thierse hinter dem Geh-Denken-Transparent.
Bald darauf zieht der Zug weiter und der eben noch überfüllte Platz vor der Synagoge leert sich wieder. Um sich sogleich wieder zu füllen. Vor der Geh-Denken-Demonstration hatten bereits etwa 3000 Linksautonome die Ecke passiert, um auf ihre Art weiter in die Innenstadt zu marschieren. Nachdem dort Steine in die Scheiben einiger Polizeiwagen fliegen, löst die Polizei diesen Demonstrationszug auf und verfolgt nun einzelne Demonstrantengruppen.
Eine Gruppe, die rege in Zahlencodes und Handzeichen miteinander kommuniziert, flüchtet zum Zelt von Aktion Sühnezeichen vor der Synagoge, die Polizei prompt hinterher. Beinahe eskaliert die Situation am denkbar ungünstigsten Platz. Beide Seiten erkennen das und ziehen sich sich in Windeseile wieder zurück.
Aufatmen bei den Helfer*innen der Synagoge, vor allem Mitglieder der Arbeiterwohlfahrt engagieren sich hier – und backen Waffelherzen. Etwas irritiert rätseln danach einige der Anwesenden. Waren die Schwarzen eben links oder rechts? Eine junge Frau klärt auf: Die schwarze Kleidung sei für beide Gruppen einfach ein „zweckgerichter Battledress“ – der ein schnelles Untertauchen in der schwarzen Masse garantiere und der Polizei das Abfotografieren erschweren soll. Die Frau verteilt Flugblätter „Fight Sexism“ und kritisiert darin dominante „Männlichkeitskonzepte“, die sie allen extremen Gruppen diagnostiziert. Eine ausgeprägte männliche Militanz stellt von nun an aber auch die eingesetzte Polizei unter Beweis: Wasserwerfer schieben sich sogar durch Dresdens denkmalgeschützte Auguststraße und rigoros sperren die Beamten das Zentrum ab.
So kommt nur unter erschwerten Bedingungen die Abschlusskundgebung von Geh-Denken auf dem Theaterplatz in Gang. Viele kommen nicht durch oder trauen sich nicht, allzulange bei dem von der Hamburger Aktion lautgegennazis.de organisierten Aktion zu bleiben. Obendrein ist es bitterkalt. Dennoch sind zu Beginn mindestens 10.000 Menschen auf dem Platz, um zunächst lokalen Bands und einer Reihe Redner zu lauschen.
„Wir sind mehr als die Nazis – gottseidank!“ begrüßt Anetta Kahane die Anwesenden, ohne zu verhehlen, sich noch mehr bei nächsten Mal zu wünschen. Sie erzählt von dem Grusel, den sie am Vorabend hatte, als rund 1000 Neonazis mit Fackeln durch Dresden marschierten. „Das ist kein Spaß, den die da machen und verkünden“, mahnt sie, „das sind echte Feinde, die es ernst meinen mit ihren Drohungen und Konzepten der Ungleichwertigkeit von Menschen“.
Dann ergreift der damalige SPD-Chef Franz Müntefering das Wort. Keine Toleranz der Intoleranz, das sei als bittere Lehre deutscher Vergangenheit eine Selbstverpflichtung der wehrhaften Demokratie. Nazis aber würden die Werte der Demokratie mit Füßen treten, angefangen bei Artikel 1 des Grundgesetzes. „Da steht nicht, die Würde des deutschen Menschen ist unantastbar, da steht dass die Würde aller Menschen unteilbar ist“. Nun komme es aber darauf an, Neonazis nicht nur an Tagen wie heute aus seiner Stadt auszusperren, sondern täglich – auch vom Kneipentisch. Und Sachsen habe überdies noch eine besonder Aufgabe bei der kommenden Landtagswahl zu lösen: „Wählt sie auch raus!“.
Danach reden die Dresdener Schauspieler Stefanie und Wolfgang Stumph. Sie ist ob der Vielzahl der Leute „total gerührt“, er betrachtet die Menge kritischer: „Es würde mich von Herzen freuen, wenn hier auch der Ministerpräsident des Landes Sachsen stehen und seine Dresdener sehen würde!“. Er macht keinen Hehl aus seinem Unmut, dass Dresdens CDU die Aktion Geh-Denken zuvor eher diffamierte: „Im nächsten Jahr sind wir hoffentlich mit allen Gesichtern dieser Stadt hier um zu zeigen: das ist unsere Stadt – bunt, nicht braun“. Ähnlich, nur lautstarker fordert dies nach ihm (Ex-)DGB-Chef Michael Sommer: „Alle Demokraten haben eine Verpflichtung – gegen Undemokraten aufzubegehren, gemeinsam und überall.“
Claudia Roth von den GRÜNEN ist es dann, die daran erinnert, dass nicht nur Dresden unter Neonazis leidet: „Ich komme aus Bayern, ich weiß, wovon ich rede.“ Gerade hier in Dresden sei es aber wichtig, die Verlogenheit der Nanazideologen zu demaskieren: „Wir müssen die Opfer der Nazis vor ihrer Vereinnahmung durch die Nazis schützen, denn wir wissen, wer an der Wurzel des Unglücks steht.“ Ganz am Ende gibt Jenas Oberbürgermeister Schröter Tipps, wie man friedlich noch erfolgreicher gegen Rechtsextreme demonstrieren kann. In seiner Heimatstadt war er selbst an Straßen-Blockaden gegen Nazis beteiligt.
Mir hilft nur der Presseausweis weiter. Auch ich muss zurück zum Hauptbahnhof, dort sind die Nazis längst verschwunden. Nur rund zwei Dutzend stolpern leicht angetrunken aus einem Burgerking, vorne eine Reichsfahne mit Ritterkreuz unterm Arm, zwei schleppen eine Bierkiste. „Hier regiert der Nationale Widerstand“ ziehen sie ins Dunkel der Straße. Achselzucken bei den Umstehenden, die von ihren Wochenendeinkäufen auf dem Nachhauseweg sind. Das stimmt heute leider auch: Es waren mehr Dresdener shoppen an diesem Samstag, als gegen Nazis auf der Straße.