Wenige Monate nachdem der 23-jährige Thorsten Lamprecht 1992 von Skinheads erschlagen wurde, besuchten die (damaligen) Ministerinnen Angela Merkel und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger einen Magdeburger Jugendclub, der als Nazi-Treffpunkt galt. Auch Beteiligte des Überfalls wurden dort vermutet. Harmonische Gruppenfotos dokumentieren den Besuch: die Ministerinnen umringt von kahlrasierten jungen Männern in Bomberjacke. Ein anderes Bild zeigt einen der Skinheads am Rande des Treffens, schelmisch lächelnd und den Arm zum Hitlergruß erhoben. So skurril diese Fotos aus heutiger Sicht anmuten, so bedrückend wirken sie als Zeugnis einer fatalen Fehlwahrnehmung rechtsextremer Einstellungen unter Jugendlichen.
Die gewalttätigen rassistischen Pogrome in Hoyerswerda und Rostock waren der Höhepunkt einer verantwortungslos geführten Asyldebatte. Während die rechten Täter nur halbherzig verfolgt wurden, fühlten sich viele Politiker*innen in ihrer Haltung bestätigt, dass eine weitere Zuwanderung die rassistischen Einstellungen noch befördern würde. Die gewalttätigen Übergriffe wurden als „Volkes Wille“ umgedeutet, dem nachgegeben werden müsse, um Schlimmeres zu verhindern. Große Teile des liberalen Asylrechts wurden mit breiter Mehrheit von CDU/CSU, SPD und FDP faktisch abgeschafft. Eine Bankrotterklärung staatlichen Handelns: vor den Augen der jubelnden Menge werden die angegriffenen Asylsuchenden zu Unterkünften in abgelegenen Wäldern abtransportiert und nicht geschützt.
Die Wahrnehmung des Problems bezog sich allein auf jugendliche Täter. Dass die große Mehrzahl der Bevölkerung deren Einstellungen teilte und unterstützte, geriet dabei aus dem Blick. Eine Einschätzung, die eine Auseinandersetzung mit den gesamtgesellschaftlichen Ursachen der Pogrome verstellte. Ein mit 20 Millionen D-Mark pro Jahr ausgestattetes „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“ sollte die Jugendhilfestrukturen in den Neuen Ländern etablieren und Antworten auf die „Probleme der Jugend“ geben. In der praktischen Umsetzung sah das so aus, dass die jugendlichen Rechtsextremen mit Freizeitaktivitäten wie Fahrten, Selbstverteidigungskursen und betreuten Wohngemeinschaften belohnt wurden.
Glatzenpflege auf Staatskosten
Mit Stolz verkündete die damalige Bundesjugendministerin Angela Merkel, dass es endlich gelungen sei „junge, bisher gewaltgeneigte Menschen in sinnvolle Projekte einzubinden und gewalttätigen Ausschreitungen vorzubeugen“. Auch vermeintliche Erfolgsgeschichten konnte das Ministerium benennen: nach zähen Verhandlungen entfernten Neonazis die Reichskriegsflagge vom Dach ihres staatlich geförderten Jugendclubs. Und auch bei einer Gruppe Nazi-Skinheads aus einer Lehrlingswerkstatt in Halle war der Erfolg sichtbar: „Anfangs hatten die alle eine Glatze, aber inzwischen sehen sie wieder normal aus“.
Die Sicherheitsbehörden vermeldeten anderes. Die Zahl der Gewalttaten stieg erheblich an, besonders unter Jugendlichen. Und auch die Städte mit staatlich finanzierten Antigewaltprojekten blieben weiterhin als Brennpunkte zu betrachten. Der unpolitische Titel des Programms deutet die fatale Fehleinschätzung des Problems durch politisch Verantwortliche bereits an. In der Praxis waren viele ungeschulte Personen mit dem Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit überfordert. Sie verstanden ihre Aufgabe nicht darin, die Ideologie der Jugendlichen zu hinterfragen, sondern akzeptierten diese als Ausdruck von Desintegration und Orientierungslosigkeit. Rechtsextreme Äußerungen und Gewalt wurden so als Mittel zur Erfahrung von Anerkennung toleriert und zu Symptomen anderer Ursachen kleingeredet. Die Folgen waren verheerend: die menschenfeindlichen Einstellungen nicht zu thematisieren, heißt diese gesellschaftlich zu rehabilitieren.
Vom Jugendclub zur national befreiten Zone
Auch Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die später als „Nationalsozialistischer Untergrund“ mordend durch die Bundesrepublik zogen, lernen sich in einem Jenaer Jugendclub kennen, wo gewaltbereite, rechtsextrem orientierte Jugendliche verkehren. Der Sozialarbeiter von damals erinnert sich an die Gäste, die seit der Eröffnung des Clubs regelmäßig kamen – später nur noch „um zu provozieren“. Doch da hatten sie sich längst radikalisiert, betrachteten den Stadtteil als „national befreite Zone“, die zum Angstraum für alternative Jugendliche und alle die wurde, die innerhalb eines rechten Weltbildes als Feind gelten.
Auf eine zunehmende rechtsextreme Alltagskultur reagiert die Amadeu Antonio Stiftung, die sich 1998 mit zwei zentralen Motivationen gründet. So sollen Betroffene rechter Gewalt unterstützt und ihre Situation in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Und diejenigen Menschen gefördert, die sich für eine demokratische Kultur einsetzen. Die Antwort auf das Problem kann nur eine gesamtgesellschaftliche sein: die Stärkung einer generationen- und milieuübergreifenden Alltagskultur, die Alternativen zum rechten Mainstream öffnet.
Kampf gegen Rechts als Staatsräson?
In Reaktion auf einen Brandanschlag auf eine Synagoge in Düsseldorf im Jahr 2000 lässt sich ein Perspektivwechsel im staatlichen Umgang erkennen. Die Amadeu Antonio Stiftung berät die damalige Regierung zur Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen. Mit neuen Bundesprogrammen werden Mobile Beratungsteams unterstützt, die Engagierte und Kommunen bei der Stärkung demokratischer Strukturen beraten. Betroffene rassistischer Gewalt finden Hilfe bei Opferberatungsstellen. Und es werden zivilgesellschaftliche Projekte aufgelegt, die das Engagement für eine demokratische Gesellschaft gegen menschenfeindliche Ideologien finanziell absichern.
Doch weil die Förderung immer nur befristet und für modellhafte Projekte erfolgt, können sich die Träger der dauerhaften Finanzierung einmal aufgebauter Strukturen selten sicher sein. Mit immer neuen Ansätzen versuchen die Demokratieprojekte, eine Anschlussfinanzierung für die erworbene Expertise zu sichern. Die Arbeit mit rechtsextrem Orientierten stellt in diesen Jahren nicht den Schwerpunkt der Förderpraxis dar. Als in 2012 der Antrag eines Projektes beim Bundesprogramm „Toleranz Fördern – Kompetenz Stärken“ für Aufsehen sorgt, hat das auch damit zu tun, dass es nach wie vor wenig Erfahrung in der Arbeit mit diesem Klientel gibt. Unter dem provokanten Titel „Dortmund den Dortmundern“, der den Sprachgebrauch und Hoheitsanspruch der jungen Neonazis aufgreift, sollen diese mit demokratisch orientierten, darunter auch migrantischen Jugendlichen über die Zukunft der Stadt diskutieren. Obwohl sogar geschulte rechtsextreme Kader explizit eingebunden werden sollen, befindet das Familienministerium das Projekt für förderwürdig.
Darf man mit Neonazis diskutieren?
Die Frage die im Raum steht, sind die fachlichen Standards in der pädagogischen Arbeit mit rechtsextrem Orientierten: So weiß man aus den Fehlern der 1990er Jahre, dass dringend zwischen Kadern und Orientierten unterschieden werden muss. Während die Arbeit in Gruppenkonstellationen mit ersteren keinen Sinn macht, bedarf es besonderer Erfahrung für die Arbeit mit Letzteren. Die größte Gefahr: Kader könnten diejenigen schulen, die noch kein geschlossenes Weltbild haben und sie für die rechten Szenen gewinnen. Eine Strategie, die sich auch beim Projekt in Dortmund zeigt: lokale Neonazis zeigen sich auf einschlägigen Internetseiten begeistert, „dem breiten, politisch interessierten Publikum, vor Augen zu führen, warum ein radikaler Politikwechsel in unserem Land unumgänglich ist“. Nach medialer Aufmerksamkeit, fachlicher Kritik aus Theorie und Praxis wird die Förderung schließlich eingestellt. Dennoch bleibt ein Beigeschmack, der an die konzeptuellen Fehler der 1990er Jahre erinnert.
Ausstiegsorientierte Jugendarbeit muss ganzheitlich gedacht werden und alle Akteure einschließen. Das als Reaktion auf den NSU gegründete staatliche „BIKnetz – Präventionsnetz gegen Rechtsextremismus“ stellt inzwischen begehrte finanzielle Mittel für Bildungsträger bereit, die pädagogische Leitlinien erarbeiten sollen. Langfristige und fachliche Schulungen sind dringend nötig, denn allzu oft werden auch heute geschulte Kader unhinterfragt in die Arbeit eingebunden. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Praxis wäre deshalb unerlässlich. Dem gegenüber steht nach wie vor eine große Handlungsunsicherheit bei Pädagog*innen im Umgang mit rechten Jugendlichen. Die Gefahr, die Fehler von damals zu wiederholen, ist groß. Die Schnittmengen mit den Ansätzen der 1990er sind unübersehbar. Das beim Arbeitsministerium angesiedelte Programm „Ausstieg zum Einstieg“, das in diesem Jahr ersatzlos endet, kann dafür nicht als Vorbild dienen. Im Vordergrund standen dort Projekte, die den Ausstieg aus der rechten Szene durch die Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützt sollten. Letztlich folgte also auch dieses Programm der 1990er-Logik der fehlenden Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für die rechten Jugendlichen. Präventionsansätze sollten beim Einstieg und nicht beim Ausstieg ansetzen und vor allem rechtzeitig zivilgesellschaftliche Alternativen für Jugendliche unterstützen.
Der Artikel erschien zuerst in der Zeitung „Ermutigen“ der Amadeu Antonio Stiftung.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).