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„Kein Kind wird als Antisemit geboren” Was tun bei antisemitischen Vorfällen an Schulen?

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Symbolbild, Quelle: Unsplash bei Link https://unsplash.com/photos/4nKOEAQaTgA

 

77 Prozent der Bevölkerung in Deutschland denken laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2015, dass in Deutschland „negative Einstellungen gegenüber den Juden nur selten oder gar nicht anzutreffen“ sind. 70 bis 80 Prozent der Juden und Jüd:innen in Deutschland fühlen sich hingegen stark bedroht oder belastet, stellte die Soziologin Prof. Dr. Bernstein in einem Vortrag im Rahmen des „Nie wieder?!“-Programms des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks (ELES) fest. 70 Prozent hätten selbst schon einmal Anfeindungen erlebt. Doch diese geschehen nicht nur auf offener Straße. „Kein Kind wird als Antisemit geboren“, erklärt der Präsident des Zentralrats der Juden, Dr. Josef Schuster bei der Kultusministerkonferenz. Aber „wenn auf dem Schulhof ‚du Jude’ als Schimpfwort gebraucht wird, dann erwarten wir, dass Lehrkräfte adäquat darauf reagieren“.

Immer wieder wurden Fälle antisemitischer Anfeindungen in Schulen bekannt. Deshalb haben nun die Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten, die Kultusministerkonferenz und der Zentralrat der Juden in Deutschland eine gemeinsame Empfehlung zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule veröffentlicht. Die Schule sein nach wie vor die zentrale Sozialisationsinstanz in Deutschland und müsse Antisemitismus ausdrücklich thematisieren, erklärte Samuel Salzborn, Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus, bei der Kultursministerkonferenz am 11 Juni 2021.

Professionelles pädagogisches Handeln in Schulen erfordere innere Haltung und Wissen um die Vielzahl an Phänomenen und Erscheinungsformen des Antisemitismus, heißt es im Dokument. Dabei sei die Thematisierung der Shoah zwar wichtig, aber nicht hinreichend: „Antisemitismus äußert sich religiös, sozial, politisch, rassistisch und als Mischung der genannten Formen. Er hat eine emotionale Komponente, die sich z. B. darin zeigt, dass Juden als störend, gefährlich und ursächlich für eigenes Scheitern betrachtet werden. Antisemitismus ist keine Variante von Rassismus. Er ist von Rassismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu unterscheiden, auch wenn es Schnittmengen gibt.“

Erkennen, Benennen und Reagieren. So wird die zentrale Handlungsstrategie betitelt. Oft falle es Lehrkräften schwer, Meinungsäußerungen und persönliche Konflikte von Hassrede und Diskriminierung zu unterscheiden. Insofern seien eine verpflichtende schulart- und fächerübergreifende Weiterbildung zwingend notwendig. Betroffenen müsse „empathisches Gehör“ geschenkt werden und antisemitische Aussagen unabhängig von der Intention der Sprecher:innen, oder Anwesenheit von jüdischen Personen als antisemitisch erkannt, benannt und problematisiert werden. Interventionen sollten dabei situationsangepasst eine inhaltliche und strukturelle Auseinandersetzung mit Antisemitismus ermöglichen.

Die Forschung zu dem Bereich ist noch jung. Bisherige Ansätze würden häufig schulische Akteure vernachlässigen und sich eher auf außerschulische Bildung konzentrieren, kritisieren Samuel Salzborn und die Politikwissenschaftlerin Alexandra Kurth. Die Soziologin Dr. Bernstein stellte in ihre Studie zu Antisemitismus an Schulen von 2021 fest, dass viele Bildungseinrichtungen Antisemitismus nicht angemessen entgegenwirken.

Besonders häufig manifestiere sich der Antisemitismus mit Israelbezug. In diesem Kontext würden häufig jüdische Kinder und Jugendliche von Mitschüler:innen und Lehrer:innen als Repräsentant:innen Israels wahrgenommen und angefeindet. So entstehen regelrechte Mobdynamiken, in denen sich einzelne Kinder einer aggressiven Klasse alleine gegenüber wiederfinden. Dabei würden häufig klassische antisemitische Feindbilder und Legenden auf Israel und dann auf die Kinder projiziert. Lehrkräfte sind dabei oft weniger explizit, aber stimmen Dämonisierungsversuchen häufig zu. Durch die „besondere Verantwortung“ in Deutschland wird darüber hinaus teils eine Verpflichtung zur Israelkritik abgeleitet.

Ein großes Problem sein das Selbstbild der Lehrkräfte, sie würden gegen Antisemitismus arbeiten, jedoch dann Antisemitismus auf rassistische Erscheinungsformen und den Nationalsozialismus reduzieren. Damit wirke der Antisemitismus als historisch überwunden oder als Randproblem rechtsextremer Gruppierungen.

Bernstein plädiert dafür, antisemitische Äußerungen wissensbasiert zu widerlegen, aber auch ihren  Zusammenhang mit antisemitischen Weltbildern und Ressentiments zu besprechen, sowie Mechanismen der Feindbildkonstruktion, Funktion und Kontinuität des Antisemitismus zu thematisieren.: „Das bedeutet beispielsweise, die Dämonisierung Israels als ‚Kindermörder’ nicht ausschließlich im Verweis darauf, dass es sich um eine falsche Aussage handelt, sondern vielmehr als Modifizierung der mittelalterlichen Ritualmordlegende als Phantasma zur Dämonisierung von Juden zu widerlegen.“ Reine Logik greift bei der Gegenrede zu Antisemitismus nicht, da er einem gefestigten Weltbild entspringt. Auch Lehrkräfte müssten eigene antisemitische Ressentiments reflektieren.

Nun gilt es, die Empfehlungen in die Tat umzusetzen. „Papier ist geduldig, die Lebenswirklichkeit aber zeigt, wir haben keine Zeit“, mahnt der Bundesbeauftragte gegen Antisemitismus, Felix Klein.

 

 

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