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Anettas Kolumne Antisemitismus als Chance?!

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Anetta Kahane hat 1998 die Amadeu Antonio Stiftung gegründet. (Quelle: AAS)

Irgendwann in den 1990er Jahren war ich auf einem Bankett zu Ehren eines Freundes. Ein deutscher Professor saß neben mir. Und irgendwann in der Diskussion meinte er über den Antisemitismus, dass der Holocaust ja in gewisser Weise eine Katharsis gewesen sei. Seitdem wären die Deutschen davon geheilt. An den Rest des Abends erinnere ich mich nicht mehr richtig, nur, dass mir der Löffel aus dem Gesicht fiel und mir außer einem schrillen „WAAS?!“ nichts mehr einfiel.

Das ist so eine typische Double Bind Situation – also eine mit doppeldeutig-unklarer Botschaft —, in der sich Juden oft wiederfinden. Egal, wie man darauf reagiert, es kann nur falsch sein. Einschließlich des Nichtreagierens. In den Augen völlig schmerzfreier Nicht-Juden, die etwas unangemessenes, antisemitisches tun, gibt es nur eine höhnische Erwartung, was der Betroffene wohl dazu zu sagen hat. So ist es nicht nur bei Bemerkungen wie der des Professors, sondern auch bei Vorgängen wie dem aktuellen Fall von Antisemitismus bei der documenta 15 oder vielen vorangegangenen Debatten über Antisemitismus.

Ja, ganz allgemein kann ich als Jüdin sagen, der Double Bind begleitet uns ein Leben lang. Von Kindheit an machen wir uns Gedanken, ob man, was man, wie man etwas sagen oder tun soll, dass mit dem Jüdischen zusammenhängt. Die Geschichten unserer Eltern und Großeltern haben sich tief in unserem Herzen festgebissen. Vorsicht ist immer geboten. Bei Antisemitismus nicht zu diplomatisch zu sein, nicht zu emotional, nicht zu sachlich, nicht zu faktenreich, nicht zu einfältig, nicht zu simpel, nicht zu komplex und vor allem: Sich niemals hilflos oder ironisch oder wütend zeigen!

Das geht dem Professor nicht so, und auch nicht der Direktorin der documenta und vielen anderen ebenso wenig. Sie scheinen vollkommen schmerzfrei, wenn es um Antisemitismus geht und bedauern bestenfalls, dass sie jemandes Gefühle verletzt hätten. Das ist nun auch kein Zeichen für Mitgefühl für die von Antisemitismus Betroffenen. Eher im Gegenteil.

Die Frage, ob es gut ist, den Antisemitismus zum Thema zu machen — von BDS bis Antiimp, von einschlägigen Islamverbänden bis hin zu ihren Verteidigern aus der antirassistischen Szene oder in Kreisen bürgerlicher Neider – rattert wie ein kaputter Ventilator in unserem Kopf. Nur, dass man ihn nicht ausschalten oder austauschen kann. Schon gar nicht, wenn jemand sagt, Antisemitismus wäre eine Chance.

Man kann ihn, wie der Soziologe Natan Sznaider sagte, nicht wegpädagogisieren. Jedenfalls nicht als eine Art Lösung oder Entlastung. Im Antisemitismus wird ein Kulturkampf deutlich, für den es oftmals keine Lösung gibt und schon gar keine Erlösung. Denn in dem Gedanken steckt immer Vernichtung oder/und Katharsis für diejenigen, die ihren eigenen Antisemitismus einfach nicht loskriegen. Und das geschieht immer auf dem Rücken der Juden. Nein, das kann nicht weggeworkshopt werden. Der Kampf gegen ein antisemitisches Weltbild muss ausgehalten und geführt werden. Und antisemitische Vorfälle und Straftaten müssen unbedingt durch Polizei und Gesellschaft geahndet werden.

In der letzten Zeit wird zynisch über den deutschen „Schuldkult“ diskutiert. Von Rechtsextremen kennen wir das. Heute aber geht es in linken Kreisen des Kultur- und Kunstbetriebs darum, endlich die Shoa in ihrer Singularität loszuwerden. Andere Genozide, vor allem im „globalen Süden“ – was immer das sein mag – seien genauso schlimm, blieben aber unbeachtet. Weil Juden Weiße seien. Und deswegen mehr Aufmerksamkeit bekämen. Diesmal geht es um Israel. Um ungehindert diesen winzigen Staat von der Landkarte verschwinden zu lassen, muss Antisemitismus bestritten, die Shoa relativiert und Israel dämonisiert werden. Und warum? Weil Antisemitismus sich immer neue Wege sucht. Israel ist vor allem eine Projektionsfläche und damit es so bleiben kann, wird Antisemitismus geleugnet wie bei der documenta. Deshalb wird bisweilen sogar die Shoa geleugnet und die Erinnerung daran als rechtes Projekt zum Schutz Israels gegen Kritik diffamiert.

Neun antisemitische Vorfälle pro Tag im letzten Jahr, mehr als 2.700 insgesamt, darunter schwere Gewalttaten, das ist die Realität in Deutschland. Dabei ist egal, ob es dabei vermeintlich um Israel geht oder nicht. Oder ob die Angegriffenen irgendeinen Bezug dazu haben. Denn ganz gleich, wie wohlwollend oder angepasst oder friedlich auch immer sich Juden hier oder weltweit verhalten, es wird nie zur Befriedung der Antisemiten führen. Das gleiche gilt für Israel und seine bloße Existenz. Es gibt keine Katharsis bei Antisemitismus. Es gibt keine Chancen bei Antisemitismus.

Aus der Bemerkung des Professors sprach sowohl Zynismus als auch ein tiefsitzender Wunsch nach dieser Katharis, dem Judenmord. Bei aller mir selbst eigenen und tradierten Furcht vor jedem Antisemitismus, den die jüdische Gemeinschaft umtreibt, ist Vorsicht am Ende egal. Ich finde, was antisemitisch ist, muss so genannt werden. Unverblümt. Egal, ob aus der Mehrheitsbevölkerung dafür ein warnender Zeigefinger kommt. Neun Vorfälle pro Tag und es werden nicht weniger, wenn wir Jüdinnen und Juden in Deutschland uns dazu nicht selbstbewusst äußern.

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