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Kommentar Eine eiskalte Warnung

Der November ist mehr als nur ein Monat, er ist Ort und Zeit des Erinnerns. Mir geht es jedenfalls immer so: Mit der nassen Kälte kommt auch die Schwere dessen, was uns bis heute beschäftigt – die Pogromnacht von 1938 und zu welchen entsetzlichen Verheerungen in der ganzen Welt sie schließlich führte. Die Zeit verwandelt Gegenwart in Vergangenheit und die Erinnerung wird ferne Geschichte. Und zwar in dem Moment, wenn sich niemand mehr erinnern kann. Wird dann, wenn es soweit ist, die Vergangenheit neu verhandelt?

 
Anetta Kahane ist Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung (bis Ende März 2022); Foto: MUT

Verschiedene Gruppen beginnen bereits, an den Wahrheiten dieser Geschichte herumzuzerren. Deutschland solle sich doch frei machen von der Bürde des Holocaust und wieder stolz sein auf seine Soldaten. Es solle die Juden nun nicht mehr schonen – als wäre das jemals geschehen – und Israel aus der Staatsräson streichen. Das deutsche Volk solle, auf seinem angestammten Platze, Ehre und Gesinnung gegen die multikulturelle Unart verteidigen. Sonst drohe Überfremdung, der Volkstod und die Umvolkung im Auftrag fremder Mächte, hinter denen immer die Juden stehen. Deshalb müssten die Volksverräter zur Strecke gebracht werden.

Während nach der Wahl zum Bundestag nun alle Welt darüber diskutiert, ob man, wann man und wie man mit der Neuen Rechten reden soll, freut die sich über die kostenlose Werbung, die das für sie bedeutet. Während sie sich die Hände reibt über so wenig Abgrenzung und Vernunft, werden die Veranstaltungen zum 9. November selbst von der extremen Rechten gestört, ist nur noch das höhnische Gelächter zu hören, wenn sie in die fassungslosen Gesichter jener schauen, die am Erinnern festhalten wollen.

Es ist dieses Lachen, das eigentlich alles ausdrückt. Häme und Verrohung, Hass und Selbstüberhöhung aus niedrigsten Instinkten. Verachtung von allem Menschlichen – das bedeutet dieses Gelächter. Heute wie damals. Das Vergnügen daran, jüdische Männer an den Bärten durch die Straßen zu schleifen, jüdische Frauen blutig zu schlagen und alle zu demütigen, die ihnen helfen wollten, kam aus der gleichen Quelle und hatte den gleichen Klang wie jenes höhnische Lachen heute. Nein, wir stehen vor keiner neuen Nazizeit. Und nein, die Neue Rechte ist längst nicht soweit, mit den Tätern von damals verglichen zu werden. Das Lachen ist dennoch dasselbe.

Die Aktionswochen gegen Antisemitismus nehmen diesen November zum Anlass, um über die Zukunft der Erinnerung nachzudenken. Nur wenn die Grausamkeit des Judenmordes erinnert und die Abscheu darüber verinnerlicht wird, kann es uns nicht egal sein, wie der Antisemitismus auch heute funktioniert und wozu er führt. Antisemitismus ist so sehr Teil einer antimodernen Selbstgefälligkeit geworden, dass eigentlich egal ist, wer ihn ausdrückt. Im Grunde kommt dieser Antisemitismus heute wieder auf seinen Ursprung zurück. Er braucht keine Umwege mehr. Er muss sich nicht religiös verkleiden, braucht dafür weder Luther, den Papst noch Suren im Koran. Er braucht nicht Israel zu dämonisieren und muss keine Bekenntnisse darüber ablegen, wie wichtig und toll einst die jetzt toten Juden waren. Der Antisemitismus heute ist wieder unverhüllt, er generiert sich neu als die Mutter aller Verschwörungstheorien über das Böse in der Welt.

Die Amadeu Antonio Stiftung wird deshalb weiter daran arbeiten, dass die Erinnerung bleibt, auch wenn die Menschen dieser Generation verschwinden. Erinnern heißt leben, so sagt man im Judentum. Denn was wären, gerade heute in einem sich verändernden Land, menschliche Wärme, gegenseitiger Schutz und die Achtung voreinander sonst, als gelebte und lebendige Erinnerung? Das Lachen der Täter muss als das verstanden werden, was es sein soll: Eine eiskalte Warnung, die wir ernst nehmen müssen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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