Manchmal ist es sehr hilfreich, Probleme, die einen tagtäglich beschäftigen, an einem anderen Ort wieder zu sehen. Vor einigen Tagen fand in St. Petersburg eine kleine Konferenz über Neonazis in Russland statt. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum hatte sie gemeinsam mit „Citizen Watch St. Petersburg“ organisiert. Ehrlich gesagt bin ich selten so erschüttert und beeindruckt von einer Reise wiedergekommen wie dieses Mal. Erschüttert, weil wir es hier in Europa mit mehr zu tun haben als mit einem vorübergehenden Phänomen marodierender Nazigangs, die hier und da auftauchen und, wenn wir nur ordentlich die lokale Zivilgesellschaft an den Start bringen, auch wieder verschwinden. Beeindruckt, weil Nazigegner in Russland weit mehr zu fürchten haben müssen als Blessuren ihres öffentlichen Ansehens oder ihres physischen Aussehens – sie haben ständig um ihr Leben zu fürchten, ohne Schutz durch Öffentlichkeit, Gesellschaft und Behörden. In den letzten Jahren sind in Russland hunderte Menschen von Nazis ermordet worden; jeden Tag kommen etliche hinzu. Die Opfer: Menschen aus dem Kaukasus, Mittelasien, Roma, Juden, Schwarze und Menschenrechtler, die sich hier einsetzen. Das Vorgehen der Nazis ist brutal, sie fallen in Gruppen über ihre Opfer her, schlagen sie zusammen, stechen sie mit Messern nieder und treten sie zu Tode. Ein Abteilungsleiter der Polizei, der auch an der Konferenz teilnahm, hat mir Fotos und Videos solcher Mordanschläge auf meinen Rechner kopiert und ich bin nun ratlos, was damit zu tun bleibt.
Das ganze geschieht im Kontext einer äußerst autokratischen Regierungsform und einer gesellschaftlichen und politischen Atmosphäre, die tief von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus geprägt ist. Der Versuch, vor diesem Hintergrund mit einigen, mitunter gewalttätigen, polizeilichen Mitteln gegen exzessiv mordende Nazis vorzugehen, wirkt trotz gegenteiliger Bekundungen verloren, unentschlossen und hilflos. Menschenrechtsorganisationen und kritische Medien haben hier kaum eine Chance – umso mutiger und bewundernswerter ist ihr Engagement. Rechtsextremismus ist sowieso kein nationales Problem, weder in Deutschland, noch in Russland, noch in Großbritannien oder Spanien. Es ist eine Internationale der Nationalisten, eine vernetzte Bewegung, eine globalisierte Herausforderung des Gebots der Menschenrechte und der Gleichwertigkeit.
Wir hier in Deutschland stehen mittendrin. Hier findet die Vereinigung von rechtspopulistischen Bewegungen des Westens mit den national-bolschewistischen freien Kräften des Ostens statt. Hier ist das Versuchsfeld einer neuen anti-liberalen und zugleich gewalttätigen Bedrohung dessen, was wir Demokratie nennen. Es ernährt sich aus Nationalismen, Ausgrenzung, ethnisiertem Denken in Gesellschaft und Politik und einem unkritischen Verhältnis zu den jeweils eigenen Traditionen der Barbarei Minderheiten gegenüber. Die Vergangenheit kann nicht bewältigt werden, egal wo, es ist vielmehr unsere Aufgabe, uns in die Zeit zu stellen und klar zu machen, was wir wollen und was wir nicht mehr wollen. Und das wird mehr und mehr zu einer europäischen Angelegenheit. Gewiss ist die Möglichkeit, an der Europawahl und an allen anderen Wahlen in diesem Jahr teilzunehmen, und auf diese Weise eine eigene Haltung gegen Nationalismen und Rassismus auszudrücken nicht das Einzige, was wir tun sollten. Doch es ist ein Schritt.
Den Weg zu einer kosmopolitischen Gesellschaft können wir nicht alleine gehen
Ein weiterer wäre, nicht nur erschüttert zu sein über das, was andernorts geschieht, weil es auch bedeutet, die eigenen Anstrengungen auf die eine oder die andere Weise zu relativieren („Bei uns ist es aber viel schlimmer oder viel besser“), sondern sich klar zu machen, mit welchem Teil des Ganzen wir hier zu tun haben. Natürlich haben wir im demokratischen Deutschland – auch auf Grund seiner Vergangenheit – recht gute Bedingungen im Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Doch sollten wir uns hüten, daraus mit all den Programmen gegen Rechtsextremismus, die ohnehin nur die Spitze eines Eisbergs beschreiben, eine Art Weltmeisterschaft abzuleiten, die unmittelbar auf der Perfektion beruht, mit der die Deutschen einst Millionen Menschen abgeschlachtet haben. Und beeindruckt zu sein reicht auch nicht. Wir haben wirklich reichlich zu lernen von der Situation und den Bedingungen unserer Mitstreiter in Russland oder sonst wo und sollten sie nach Kräften unterstützen, so wie sie das umgekehrt auch tun. Denn Menschenrechte sind universell – das dürfen wir bei Strafe unseres eigenen Scheiterns nie vergessen – und den Weg zu einer kosmopolitischen Gesellschaft in Europa können wir nicht alleine gehen. Ein Blick auf jenen anderen Ort reicht, um die grundsätzliche Gefährdung dieses Weges zu begreifen. Das ist kein Randthema mehr – wahrlich nicht. Das ist europäischer Alltag.
Erschüttert zu sein von dieser Realität und auch beeindruckt – das sind wir den Opfern von Hass und Rassismus schuldig. Denen von damals und denen von heute.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).