Wenn es mir schlecht geht und ich in eine Stimmung gerate, in der mir angesichts all dessen die Welt hoffnungslos erscheint, dann schaue ich auf einen Brief, den ich mir selbst geschrieben habe. Darin steht an erster Stelle: „Bitte, mach keine Haufen aus ungelösten Problemen. Schichte sie nicht so hoch auf, dass sie wie ein unerklimmbares Gebirge erscheinen.“ Nun ist es das Wesen der schlechten Laune, dass sie unbeeindruckt bleibt von solchen Tricks. Also kommt der zweite Punkt: „Schau näher hin. Viel näher. Wenn man sich schwach fühlt und die Straße kehren will, dann ist es besser vor den Füßen zu fegen, als an den Dreck der ganzen Stadt zu denken. Das kannst du machen, wenn du ungefähr weißt, wie es geht.“
Gewiss, es gibt massenweise Probleme: Flüchtlinge werden weiter angegriffen, Rassisten wittern Morgenluft und verbreiten Hass in den sozialen Netzwerken, die Stimmung ist mies, pessimistisch, aggressiv, selbstherrlich, furchtsam. Gründe dafür gibt es genug, denn wir erleben gerade eine Art Umbruch, ein Ringen um Zukunft und Werte, wie seit dem Mauerfall nicht mehr. Überall reiben sich die Gesellschaften am momentanen Zustand und zwar auf allen Kontinenten. Es knirscht und kracht im Gebälk. Nichts ist mehr, wie es war. Und das hat Folgen. Denn vielen Menschen erscheint das sehr bedrohlich. Und sie wehren sich gegen Veränderung und gegen die Art, wie sie geschieht.
Wer aber nur die Reaktionen sieht, die Folgen der Veränderung, versteht nicht, was wir gerade erleben und sehnt sich alte Zeiten zurück. Doch es stimmt einfach nicht, dass früher alles besser war. Dass es weniger Kriege, weniger Hunger oder weniger Armut gab, ist eine Legende. Es gibt davon zu viel, ohne Zweifel und die Art der Globalisierung ist oft sehr problematisch und brutal. Doch zu behaupten, es gebe ein besseres „Früher“ wäre zynisch. Wann soll das gewesen sein? Als Frauen nur mit Erlaubnis arbeiten durften? Als Schwule ins Gefängnis kamen? Als Asien Millionen Hungertote zählte? Als Analphabetismus zur „3. Welt“ gehörte wie Kindersterblichkeit und Elend? Als Lateinamerika das Land der faschistischen Diktatoren war? Als Migrantenkinder fast immer in der Hauptschule landeten? Als in der DDR die Kinder dem Staat Treue schwören mussten? Oder türkische Gastarbeiter in drei Schichten in ein und demselben Bett schlafen mussten?
Heute entsteht, was wir im Rückblick wertschätzen können
Wenn heute etwas besser geworden ist, dann weil die Zivilgesellschaft dafür gekämpft hat. So wie wir es auch heute tun! Mehr als sechs Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich nach wie vor für Flüchtlinge, davon immer mehr junge Leute und Eingewanderte. Die Zahl ging erst etwas zurück, jetzt bleibt sie aber auf hohem Niveau. Die Leute in Deutschland sind wacher, konfliktbewusster, hilfsbereiter geworden. Dass Deutschland Einwanderungsland ist, bestreitet niemand mehr und die Diskussion um die Flüchtlinge hat zu vielen erstaunlichen Ergebnissen geführt. Die Unvernunft und Hysterie des Pegida- und AfD-Milieus hat einige paradoxe Wirkungen. Mehr Vernunft und Realitätssinn sind die Folge, mehr Kenntnis und mehr Klarheit über die Heterogenität der Gesellschaft. Und mehr Freude an genau diesem Umstand. Sogar die Bereitschaft, Missstände anzusprechen, ist dort gestiegen, wo sie einst nur umschrieben wurden aus Furcht vor Applaus von der falschen Seite. Deutschland als Einwanderungsland muss sich mit Rassismus und anderen Formen der Abwertung beschäftigen und zwar in alle Richtungen. Auch wenn Einwanderer sie verursachen.
Es ändert sich vieles und wir sind gerade jetzt wieder mittendrin. Wir arbeiten weiter daran, dass die Rechte von Minderheiten geschützt werden, egal von wem sie bedroht werden. Das ist das Wichtigste. Heute entsteht, was wir im Rückblick wertschätzen können. Und um das zu tun, sollten wir auch wertschätzen, was heute geleistet wird. Von jedem Einzelnen. Ohne diesen Blick auf die Entwicklung bleibt alles nur ein tiefes Meer aus schlechter Laune.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).