Stellen Sie sich irgendeine Gruppierung vor. Irgendeine Gruppierung, deren Hauptbeschäftigung es ist, das Internet, Soziale Netzwerke, Telegramgruppen und Kommentarspalten damit vollzuschreiben, dass man den Staat und seine Vertreter*innen hasst – und zwar so sehr, dass sie sich sogar regelmäßig zu Mord- und Gewaltaufrufen hinreißen lässt, zu Kommentaren darüber, wer alles „erschossen“ gehört und ähnliches.
Hierzu ein aktuelles Beispiel aus dem antidemokratischen Coronaleugner*innen-Milieu, dokumentiert von „DieInsider“:
Stellen Sie sich vor, die Gruppierung ruft des Weiteren zu Demonstrationen auf. Zu Demonstrationen, zu denen sie Tausende, wenn nicht zehntausende Teilnehmende erwarten, und zu denen in der jüngeren Vergangenheit auch bereits zehntausende Teilnehmende gekommen sind.
Darüber hinaus sind es Demonstrationen, von denen bekannt ist, dass sich auch rechtsextreme Gewalttäter daruntermischen, weil sie sich dort willkommen fühlen. Menschen, die gewalttätig und schlimmstenfalls sogar bewaffnet sind.
Stellen Sie sich vor, es hat aus dem Milieu der Gruppierung bereits Demonstrationen gegeben, die aus Infektionsschutzgründen verboten worden sind, die in Kundgebungen umgewandelt wurden, wie in Leipzig 2020 (vgl. Belltower.News) oder die ganz verboten wurden, wie in Dresden 2021 (vgl. Tagesspiegel) – und deren Teilnehmer*innen diese Verbote schlicht ignoriert, die Polizist*innen überrannt, sich den Platz in den Innenstädten genommen haben, der ihnen nicht zustand, weil sie damit andere Menschen gefährden.
Stellen Sie sich weiter vor, dass es auf diesen Demonstrationen immer wieder zu Gewalttaten kommt, gegen Pressevertreter*innen, die über das Geschehen zu berichten versuchen, und gegen Gegendemonstrant*innen – und fragen Sie sich, was das allein über das Demokratieverständnis derjenigen aussagt, die zwar selbst ein Recht auf Meinungsäußerung haben wollen, es anderen aber ganz offen nicht zugestehen.
Und selbst, wenn Sie sich das alles nicht vorstellen könnten oder nichts davon mitbekommen hätten: Die Anhänger*innen schreiben alles schon vorher offen ins Internet. Dass sie Infektionsschutzregeln missachten wollen, und zwar alle und jede, und dass sie das sogar als einen Sinn der Veranstaltung ansehen, um sich und anderen zu zeigen, wie sehr sie die Wissenschaft verachten, den Staat und ihre Mitmenschen noch dazu. Sie beschreiben und diskutieren, wie sie Gewalt anwenden wollen, wenn sich ihnen jemand entgegenstellt. Sie rufen offen dazu auf, die zuvor verbotene Demonstration durch die Innenstadt einfach trotzdem zu durchzuführen, das Verbot und den gerichtlich zugewiesenen Versammlungsort zu ignorieren. Sie besprechen taktisch und mit zynischer Menschenverachtung, wie sie Kinder in die ersten Reihen stellen wollen, als menschliche Schutzschilde, falls es doch Widerstand gegen ihr Tun geben sollte.
All dies hat nichts mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Demonstrationen zu tun. Demonstrationen in Pandemiezeiten müssen Regeln folgen, damit sie nicht zu Superspreader-Events werden. Wer sich nicht an diese Regeln halten kann oder will, verwirkt sein Recht auf Demonstrationen. Ebenso, wenn aus der Gruppierung regelmäßig Gewalt angekündigt und ausgeübt wird. Wer zudem Schutzbefohlene wie Kinder bewusst gefährdet, muss sich auch nach seinem menschlichen Anstand fragen lassen. All dies übrigens völlig unabhängig von der politischen Ausrichtung der Veranstaltung. Es gäbe genug Gründe, die Einhaltung von Demonstrationsverboten, Gewaltfreiheit und Infektionsschutzmaßnahmen durchzusetzen und bei Zuwiderhandlung die Veranstaltung aufzulösen.
Auch auf der Demonstration in Kassel gab es die Aufrufe, Menschenketten zu bilden und Abstände nicht einzuhalten:
Dass die Coronaleugner-Demonstrationen von „Querdenken“ durchsetzt sind von Neonazis, Reichsbürger*innen und antisemitischen Verschwörungsideologien, die Hass auf die Demokratie, auf die demokratischen Parteien, auf Wissenschaft und Medien und gegen Minderheiten in Form von Rassismus und Antisemitismus verbreiten, sollte eine wehrhafte Demokratie zusätzlich in Alarmbereitschaft und Gegenwehr versetzen.
Hier wird dokumentiert, mit welchen rechtsextremen und antisemitischen Symbolen und Parolen die Demonstrierenden in Kassel auf die Straße gingen:
Und stattdessen? Wie kann angesichts dieser Vorgeschichte des letzten Jahres und der letzten Monate die Polizeistrategie zu den Aufrufen und Veranstaltungen so einer Gruppierung sein, von einer „bürgerlichen“ Veranstaltung auszugehen? Sich nicht einmal darauf vorzubereiten, dass es zur Eskalation und zur massiven Gefährdung anderer kommen kann? Ist der Polizei nach wie vor unklar, wie stark der Ermutigungseffekt für so einen antidemokratischen Aktivismus ist, jedes Mal, wenn Regelverstöße schulterzuckend akzeptiert werden, wenn Gewalt ungesühnt bleibt, weil ja „nur“ einem Pressevertreter die Kamera aus der Hand geschlagen wurde oder einer Gegendemonstrantin das Fahrrad zerschlagen?
Bei der Großdemonstration mit 20.000 Teilnehmer*innen in Kassel wurde das Verbot der Demonstration einfach ignoriert. Am Versammlungsort, den das Gericht für 6.000 Menschen zugelassen hatte, fanden sich nur wenige Menschen ein, die meisten marodierten da schon unbehelligt durch die Innenstadt. Es kam zu Übergriffen auf Pressevertreter*innen und Gegendemonstrant*innen. So wurden etwa bei einem Angriff von „Querdenkern“ auf eine angemeldete Gegendemonstration des „Bündnisses gegen rechts“ nach Angaben der Kundgebungsveranstalter mehrere Personen, darunter der Vorsitzende des Linken-Ortsbeirats der Kasseler Nordstadt, Ali Timtik, teils schwer verletzt (vgl. Hessenschau).
Die Polizei ging vor allem gegen Gegendemonstrant*innen vor, räumte die Strecken frei, unter dem Jubel der Demonstrierenden. Sie bezeichnete dies als „Deeskalationsstrategie“, weil man von der Menge der Teilnehmenden überrascht worden sei. Dazu kam die Einschätzung, die Teilnehmenden seien „überwiegend aus dem bürgerlichen Lager gekommen und hätten insgesamt eher keine erkennbare Tendenz zu gewalttätigen Aktionen gezeigt (vgl. Focus). Dies sehen die angegriffenen Pressevertreter*innen, Gegendemonstrant*innen, aber auch Polizist*innen wohl anders.
Aber dann gibt es auch die Bilder, wie ein Polizist eine Gegendemonstrantin selbst schlägt, als er sie von der Straße räumt.
Eine Polizistin stellte sich neben den Zug und zeigte ihre Sympathie mit einem Herz, dass ihre Finger formten.
Bilder wie diese nähren das ungute Gefühl, dass das Polizeiversagen angesichts der Coronaleugner*innen-Großdemonstrationen nicht nur mit überaus mangelhafter Vorbereitung und Recherche, sondern mit bewussten Entscheidungen zu tun haben könnten. Mit der Entscheidung, diese hasserfüllten und durch den ignorierten Infektionsschutz auch ganz praktisch Menschenleben gefährdenden Demonstrationen als weniger gefährlich für die Demokratie und den öffentlichen Frieden einzuordnen als etwa anti-rassistische Demonstrationen, die zuletzt im Gedenken an Rechtsterrorismus untersagt wurden, oder die regelmäßig von Polizeigroßaufgeboten und Wasserwerfern begleitet werden, die zeigen, dass die Polizei auch mit Härte handeln kann. Wann will sie es?
Aus Kassel reisen die 20.000 „Querdenker*innen“ ermutigt in alle Teile der Republik zurück, nach den nicht so mitreißenden Autokorsos des Winters wieder mit Energie für weitere Veranstaltungen erfüllt. So wurde es auch auf der Demonstration gewendet, ab sofort sei jedes Wochenende „eine mittelgroße Stadt“ an der Reihe:
Am übernächsten Wochenende mobilisiert „Querdenken 711“ nach Stuttgart. Im August soll es – wie letztes Jahr – Großdemonstrationen in Berlin geben.
Aus der Arbeit gegen Rechtsextremismus wissen wir bereits, dass die Lust auf solche Veranstaltungen nur vergeht, wenn sie auf Gegenwehr treffen, die Grenzen aufzeigt. Die Zivilgesellschaft kann inhaltliche Grenzen aufzeigen, sie kann zeigen, wie sehr sie den Rassismus und den Antisemitismus und die Demokratiefeindlichkeit der Bewegung ablehnt, ihre Gewalt und ihren hilflosen Versuch, einer weltweite tödlichen Gefahr durch Ignoranz zu begegnen, die aber leider auch Unschuldige gefährdet und deshalb keine Privatsache ist. Solche Demonstrationen, die wissentlich wesentliche Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens und des politischen Meinungsaustausches mit Füßen treten, müssen aber auch auf Grenzen stoßen, die der Staat ihnen setzt. Langsam kommen allerdings Zweifel auf, ob er bereit ist, das auch zu tun.