Kontinuität des Hasses in Dortmund – Teil 1: die Anfänge
Mitte 2000 kam es zu einem schockierenden Höhepunkt der rechten Gewalt in Dortmund. Am 14. Juni erschoss der Dortmunder Neonazi Michael Berger die beiden Polizisten Thomas Goretzky und Matthias Larisch-von-Woitowitz sowie die Polizistin Yvonne Hachtkemper und richtete sich anschließend selbst. In der Folge machten Aufkleber der Kameradschaft Dortmund die Runde, auf denen die menschenverachtende Aufschrift „Berger war ein Freund von uns! 3:1 für Deutschland“ zu lesen war. Bis heute gilt dieser Spruch als Bezugspunkt für die extreme Rechte in der Stadt.
Im gleichen Jahr wurde das „Schützeneck“ geschlossen, doch schnell fanden sich andere Treffpunkte. So feierte etwa Siegfried Borchardt (SS-Siggi) seinen 47. Geburtstag in einem Keller in der Dortmunder Kielstraße – unter lauten „Sieg Heil“-Rufen, denen erst das Eintreffen der Polizei ein Ende setzte, wie später berichtet wurde.
In jener Zeit wurde zudem wieder deutlich, wie gut Borchardt mit der deutschlandweiten rechten Szene vernetzt ist. So zeigten sich seine Verbindungen zur Hamburger Nazi-Größe Christian Worch, der mehrfach Demonstrationen in der Ruhrstadt organisierte – unterstützt von der Kameradschaft Dortmund.
Doch ab etwa 2003 machte Borchardt zunächst den Weg frei für andere Köpfe: So entwickelte sich aus der Kameradschaft Dortmund zu jener Zeit der „Autonome Widerstand östliches Ruhrgebiet“, der ab 2005 schließlich als „Nationaler Widerstand Dortmund“ (NWDO) firmierte.
Der NWDO war dem Spektrum der Autonomen Nationalisten (AN) zuzurechnen. Hinter dieser Selbstbezeichnung verbergen sich zumeist junge, äußerst gewaltbereite Neonazis, die auf den ersten Blick mit den früheren extrem rechten Akteuren nichts gemein haben. Doch das moderne und jugendliche Auftreten mit Kapuzenpulli, Turnschuhen und Baseballcaps kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass AN-Gruppierungen genau die gleichen rassistischen und menschenverachtenden Parolen verbreiten wie alle anderen rechtsextremen Vereinigungen.
Dabei gehen die AN auf das Konzept der „Freien Kameradschaften“ zurück, welches von den beiden Neonazis Christian Worch und Thomas Wulff entwickelt wurde. Die beiden reagierten damit auf die Verbote mehrerer rechtsextremer Organisationen, indem sie die Kameradschaften als vereinzelt organisierte, „autonome“ und regional operierende Kleinstgruppen verstanden. Aus ebenjener Szene gingen 2002 die „Autonomen Nationalisten Berlin“ (ANB) als loser Zusammenhang von Aktivisten hervor. Von Anfang an orientierten sich die AN im Auftreten an linken Autonomen und traten etwa bei einer NPD-Demonstration am 1. Mai 2003 unter einem eigenen Transparent als schwarzer Block auf.
Innerhalb der extrem rechten Szene waren die AN nicht unumstritten und wurden vor allem zu Beginn isoliert. Dennoch breitete sich das Konzept von Berlin kommend in ganz Deutschland aus und fand vor allem in Dortmund Anklang: In kaum einer anderen Stadt haben sich die AN derart etabliert – was nicht zuletzt daran liegt, dass Lokalgröße Borchardt die „jungen Wilden“ mit offenen Armen empfing. In der Folge zogen zahlreiche Neonazis auch aus dem Umland in die Stadt, gründeten AN-Wohngemeinschaften und bauten Strukturen auf, die ihnen das Leben in vollkommen rechts geprägten Räumen erlaubten.
Besonders wichtig war für die Nazis dabei der Dortmunder Stadtteil Dorstfeld und hier speziell das „Nationale Zentrum“ in der Rheinstraße. In ihm fanden Treffen, Schulungen und Vorträge der Neonazis statt, bis die Stadt das Haus Anfang 2011 kaufte und später schließlich in einen Jugendtreff umwandelte. Noch heute wohnen viele AN in dem Bezirk, was sich nicht zuletzt in den zahlreichen menschenverachtenden Stickern zeigt, die manche Straßenzüge „zieren“.
Rheinische Straße 135 in Dortmund: Von 2000 bis 2005 war hier die Adresse des Nazi-Ladens „BUY OR DIE“. Später befand sich hier das Nationale Zentrum des NWDO. Die Stadt kaufte das Gebäude und konnte den Neonazis den Mietvertrag kündigen, um die berüchtigten Räume in ein Jugendzentrum umzuwandeln. (Quelle: N. Oskamp)
Teil der AN war auch Dennis Giemsch, der schon bei der Entwicklung des AN-Konzepts in Berlin eine zentrale Rolle spielte. Bis zum Verbot des NWDO war Giemsch unbestrittener Vorsitzender der AN-Gruppierung – der Informatikstudent betrieb zudem für den NWDO den rechten Online-Versand „Resistore“. Die Mittel zur Gründung des Stores stammten als Ich-AG-Förderung aus Steuergeldern. Erst nach Hinweisen der Antifa musste Giemsch diese zurückzahlen.
Nach dem Verbot des NWDO wurde der Versand von Michael Brück technisch übernommen und unter dem Namen „Antisem Versand“ bis heute weitergeführt – im Impressum der Seite wird er als Verantwortlicher genannt.
Tür zu dem Lager des Nazi-Onlinehandels „Antisem.it“ in Dortmund Dorstfeld. (Quelle: N. Oskamp)
Nicht zuletzt Giemschs Fähigkeiten ist es zu verdanken, dass die AN in jener Zeit begannen, das Internet intensiv zu nutzen – und das auch für eigene Demonstrationen. So war man in Dortmund schon bald nicht mehr darauf angewiesen, dass Christian Worch Aufmärsche organisierte, sondern stellte eigene Veranstaltungen auf die Beine, darunter ab 2005 den „Nationalen Antikriegstag“, bei dem die extrem Rechten mit der Parole „Nie wieder Krieg nach unserem Sieg“ alljährlich im September auf die Straße gingen. Zu Aufmärschen wie diesem konnten sie bis zu 1.800 Anhängerinnen und Anhänger aus ganz Europa nach Dortmund mobilisieren.
Im März 2005 erschütterte ein weiterer Mord der extremen Rechten die Bevölkerung: So erstach der damals 17-jährige Neonazi Sven Kahlin, der sowohl bei der Skinhead-Front Dorstfeld als auch beim NDWO aktiv war, am 28. März den Punker Thomas Schulz an der U-Bahn-Haltestelle Kampstraße. Schulz, genannt „Schmuddel“, hatte sich über rechte Parolen Kahlins aufgeregt. Auch dieser Mord wurde zu einem Bezugspunkt der extrem rechten Szene: Schon kurz nach der Tat verhöhnten Neonazis das Opfer und verteilten etwa entlang der Strecke einer antifaschistischen Demonstration Aufkleber mit der Aufschrift „Antifaschismus ein Ritt auf Messersschneide“ ein eindeutiger, menschenverachtender Bezug zum Mord an „Schmuddel“. Zudem machte eine Erklärung der Neonazis die Runde, in der es hieß: „Die Machtfrage wurde gestellt und wurde für uns befriedigend beantwortet: Dortmund ist unsere Stadt.“
Kahlin wurde wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe verurteilt, noch während seiner Inhaftierung in der extrem rechten Szene als Held gefeiert und gehörte nach seiner Entlassung 2009 zum festen Kern des NWDO.
Der NSU-Mord in Dortmund
Nur ein Jahr später bewiesen Neonazis in Dortmund erneut, zu welch tödlicher Gewalt sie fähig sind: Am 4. April 2006 ermordete der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) den Kioskbesitzer Mehmet Kuba??k. Kuba??k wird so Teil einer erschütternden, immer länger werdenden Liste: Seit 1990 zählen die Amadeu Antonio Stiftung und der Opferfonds CURA mittlerweile fast 200 Todesopfer rechter Gewalt. Diese Zahl deckt sich nicht mit der offiziellen Zählung, denn oft genug wird der rechte Hintergrund eines Anschlags nicht erfasst. Gerade die NSU-Mordserie machte deutlich, wie lange rechtsextreme Terroristen unerkannt mordend durchs Land ziehen können. Erst ihre Selbstenttarnung brachte die unbegreiflichen Taten ans Licht. Klar wurde, dass es enge Verbindungen zwischen der rechten Terrorzelle und der Dortmunder Neonazi-Szene gab. So belegen Recherchen der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“, dass Mitglieder der lokalen Szene bereits 1995 ein Treffen gewaltbereiter Neonazis aus der „Blood & Honour“-Szene im thüringischen Gera besuchten, an dem auch der spätere NSU-Terrorist Uwe Mundlos teilnahm. Dortmunder Neonazis hatten nach Erkenntnis des Bundeskriminalamtes auch intensive Kontakte zum Unterstützer-Umfeld des NSU.
Gedenkstein für Mehmet Kubasik, das sechste NSU-Mordopfer, in der Dortmunder Nordstadt. (Quelle: N. Oskamp)
Doch warum mordete der NSU überhaupt in Dortmund? Jene Frage steht im Zentrum einer Graphic Novel, produziert vom Recherchebüro „CORRECT!V“: In „Weisse Wölfe“ beschreibt Investigativ-Journalist David Schraven die Verflechtungen rechtsextremer Terroristen aus dem Ruhrgebiet, die einer „Combat 18“-Zelle angehörten. Dabei handelt es sich um einen besonders militanten Flügel des in Deutschland verbotenen „Blood & Honour“-Netzwerkes.
Ein autobiografischer Comic über Neonazi-Gewalt in Dortmund
In Schravens Geschichte taucht ein Name immer wieder auf: Marko Gottschalk, Sänger der rechten Band „Oidoxie“ und zeitweise Bassist der Rechtsrock-Band „Weisse Wölfe“. 2003 gründete sich aus „Oidoxie“-Mitgliedern und der Dortmunder Kameradschaftsszene die „Oidoxie-Streetfighting-Crew“. Die terroristische Gruppierung, gegen die der Verfassungsschutz ermittelte, bewaffnete sich und trainierte für den Nahkampf. Im Frühjahr 2006 soll die „Combat 18“-Zelle ihre Aktivitäten eingestellt haben. Um seine damalige Wohnung im Dortmunder Stadtteil Rechten (Eving) hat sich indes eine auch heute noch aktive Neonazi-Szene etabliert. In den kommenden Jahren machte der NWDO immer wieder durch brutale Überfälle von sich reden, so etwa auf die alternative Kneipe „Hirsch-Q“ oder aber die Büros von Abgeordneten der Grünen und der Linkspartei. Gleichzeitig kursierten Steckbriefe von Personen aus dem Anti-Nazi-Spektrum im Netz, die auf diese Weise offensichtlich eingeschüchtert und bedroht werden sollten. Vor allem die Polizei zeigte sich in jener Zeit oft überfordert und reagierte in den Augen vieler Beobachterinnen und Beobachter zu lasch. Ein Neonazi-Aussteiger kommentierte deren Vorgehen in einer Sendung des WDR: „Gerade in Dortmund haben wir uns oft gewundert, wie es sein kann, dass wir solche Dinge tun, wie körperliche Angriffe auf Antifaschisten, ohne dass es Konsequenzen gegeben hat. Dass wir entweder gar nicht festgenommen wurden, es gar nicht zur Anzeige kam oder dass die Anzeige eingestellt wurde.“2007 reagiert die Stadt auf die ungebrochene rechte Gewaltwelle und richtet eine Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus ein. Wie wichtig diese ist, zeigte sich spätestens am 1. Mai 2009: Zwischen 300 und 400 Neonazis überfielen eine Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), warfen Steine, Knallkörper sowie mit Glassplittern gespickte Lehmklumpen und attackierten sowohl die vollkommen überraschte Polizei als auch Teilnehmer der DGB-Demo.
Im November 2009 erschütterte schließlich eine Meldung die ganze Stadt: Familie Engelhardt, die sich in Dorstfeld ausdauernd und mutig gegen Neonazis engagiert hatte und daraufhin ins Zentrum täglicher Angriffe und Bedrohungen gerückt war, floh aus dem Bezirk. Zu groß war die Angst vor den rechtsextremen Attacken geworden, zu gering die Unterstützung der entsprechenden Stellen. Die schockierende Flucht der Familie gab die Initialzündung für die Gründung des Vereins „Back Up – Beratung für Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt“, der zu dieser Zeit einzigen Opferberatungsstelle in Westdeutschland.
Teil 1: Kontinuität des Hasses in Dortmund: die Anfänge
Teil 3: 2010 bis Heute: Getarnter Hass und ein Sturm auf das Rathaus
Dieser Text ist zuerst in „Drei Steine“ 2015 erscheinen und wurde von der Belltower-Redaktion an einigen Stellen aktualisiert.