Dieser Text erschien zuerst bei Migazin
Siebzehn Fälle „Widerstand und tätliche Angriffe gegen Einsatzkräfte“ zu Silvester in Mitte, acht davon – die größte Häufung – beim Brandenburger Tor. Dies ist keine Titel- oder gar Schlagzeile in allen Nachrichten, sondern eine versteckte Information im letzten Drittel eines Beitrags im rbb, am 11. Januar. Wer schaut da noch hin, nach vielen bewegten Bildern, ein Wortbeitrag im nüchternen Setting, ein Studiogespräch mit der Berliner Beauftragten für Integration und Migration Katarina Niewiedzial?
Gewalt im Herzen der Berliner Republik
Der Höhepunkt der Gewalt gegen nicht differenzierte Einsatzkräfte lag demnach nicht in Neukölln – dort sind vier Fälle verzeichnet, drei weniger als in Tempelhof-Schöneberg und genauso viele wie in Pankow und Friedrichshain-Kreuzberg –, sondern ganz symbolisch im Bezirk Mitte. Das Brandenburger Tor im Herzen Berlins ist als Symbol der Freiheit auch ein Wahrzeichen der Bundesrepublik. Die Gewalt gehört zu Deutschland.
Am Brandenburger Tor wohnt niemand, höchstens Tourist:innen in teuren Hotels, dafür fand dort nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause die offizielle Silvesterparty Berlins statt. Silvester am Brandenburger Tor liefert keine Fotos mehr oder weniger unsanierter Wohnblocks mit vielen dunkelhaarigen Menschen und bunten Werbeschildern in fremden Sprachen und taugt somit wenig für apokalyptische Bilder. Irgendwelche tanzenden Leute in schrägen Party-Klamotten in Glitzer und Konfetti mit Sektglas in der Hand, im Hintergrund das Brandenburger Tor, das funktioniert nicht: So sieht keine Bedrohung der Grundfesten unseres Staates aus, die in dunklen Massen von draußen kommt! Brandenburger Tor heißt Freiheit und Demokratie und friedliche deutsche Revolution, mit freundlichen Ausländern wie David Hasselhoff.
Richtigstellungen null – Ressentiments 100 %
Wo bleiben jetzt die Richtigstellungen und Entschuldigungen? Welche Sendeanstalt, welches Portal, welches Medienunternehmen korrigiert seine Schlagzeilen der ersten Woche? Wo sind Kommentator*innen und Moderator*innen, die sich für ihre Schnellschüsse entschuldigen? Welche Expert*innen erklären, dass sie auf Grundlage von quasi null gesicherten Informationen und den immerselben Bildern einfach nur Standardsprüche über Menschen mit Migrationshintergrund in segregierten Stadtteilen von sich gegeben haben?
Weisheiten, die eh schon alle wissen, aber immer wieder hören wollen: Die Geschichte des jungen Migranten mit aggressiver Männlichkeit, so alt wie die Anwerbeabkommen in BRD und DDR, zunehmend erweitert um den rückständigen Islam als Ursache. Die Geschichte einer verwahrlosten Jugend in Gettos, die nicht unsere ist und die Gewalttradition ihrer unterentwickelten Herkunftsländer auf unsere Straßen trägt. Die Geschichte der „Landnahme in Kreuzberg“, wie es früher über angebliche Paralleluniversen hieß, zunehmend ersetzt durch Neukölln als Chiffre für ein gefährliches und kriminelles exterritoriales Gebiet, das mit starker Hand zurückerobert werden muss. Geschichten, die schon vor jedem Anlass, sie neu aufzulegen, da sind und die Klischees und Ressentiments weiter zementieren.
Fehlanzeige: Verantwortungsübernahme und Gipfel gegen Diskursgewalt
Wenn ein Rechtsextremer sich dazu ermächtigt, mit der Waffe selbst in die inkriminierten Orte zu fahren und Menschen tötet, ist die Betroffenheit groß. Wenn der Jahrestag eines der Morde, Pogrome und Massaker an Eingewanderten ansteht, dürfen die Angehörigen, Überlebenden oder irgendjemand mit nicht deutschem Namen über Ausgrenzung, Rassismus und die alltägliche Angst vor Angriffen sprechen. Erinnerungskultur hat man inzwischen gelernt, die Stimmen der Betroffenen stehen im Vordergrund. An jedem anderen Tag aber gilt der Generalverdacht.
Die neuen Zahlen sind keine Schlagzeile wert, und so bleibt hoffentlich zumindest die Frage nach den Pässen und Namen der Tatverdächtigen am Brandenburger Tor aus. Hintergrundbeiträge zu Rassismus in öffentlichen Diskursen bleiben aber ebenfalls aus, und genauso fehlen die Rufe nach einem Gipfel gegen Diskursgewalt: Medien und Politik fordern keine Konsequenzen, sie ziehen sich nicht zur Verantwortung dafür, dass sie die Bilder und Geschichten in die Welt setzen und reproduzieren, die in der Regel junge Männer ohne, manchmal auch mit Migrationshintergrund, dazu motivieren, in Shisha-Bars, Einkaufszentren und anderen migrantisch gelesenen Orten Massaker anzurichten. Gegen diese Kultur der Straflosigkeit wäre mit aller Härte des Gesetzes vorzugehen!