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Lagebild Antisemitimus Shoah-Gedenken vs. Antisemitismusbekämpfung?

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Weiteres Bild mit antisemitischen Codes von Taring Padi auf der documenta 15 in Kassel. (Quelle: BTN/raf)

In gesellschaftspolitischen und erinnerungskulturellen Debatten um Antisemitismus wird immer wieder behauptet, der deutsche Blick auf Israel sei aufgrund der Shoah und der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik verklärt. So werde eine Kritik an der israelischen Politik verhindert. Mehr noch: Jede Kritik an der israelischen Politik werde sofort als antisemitisch gebrandmarkt. Eine Konsequenz der Behauptung ist, dass der Problematisierung von israelbezogenem Antisemitismus die Legitimität abgesprochen wird. Zugespitzt gilt: Die aktuellen Erinnerungsdebatten erschweren die Bekämpfung des Antisemitismus und die bisherigen Errungenschaften werden neu verhandelt. Das wird anhand zweier Beispiele deutlich: Zum einen anhand des Antisemitismus im Rahmen der documenta fifteen, zum anderen anhand eines Statements der deutschen Sektion von Amnesty International zur Veröffentlichung eines Israel-Reports.

Die besondere deutsche Geschichte als Ausrede

Die großflächige Banner-Installation „People’s Justice“ (2002), die im Rahmen der documenta fifteen ausgestellt wurde, zeigte – wie beschrieben – judenfeindliche Darstellungen53. Taring Padi, das verantwortliche Künstler*innenkollektiv aus Indonesien, bestritt den antisemitischen Gehalt zunächst und führte den Antisemitismusvorwurf auf ein anderes Verständnis von Antisemitismus zurück: Die Banner-Installation „steht in keiner Weise mit Antisemitismus in Verbindung. Wir sind traurig darüber, dass Details dieses Banners anders verstanden werden als ihr ursprünglicher Zweck.“ Das Statement wies nicht nur den Antisemitismusvorwurf zurück, sondern führte auch die Intention gegen die Vorwürfe an – nach dem Motto „Es war nicht so gemeint, deshalb kann es sich gar nicht um Antisemitismus handeln“.

Im gemeinsamen Statement entschuldigten sich die Künstler*innen und die Geschäftsführung später für die „entstandenen Verletzungen55. Deswegen entschie den sie sich zur Abdeckung der Installation, „die in diesem speziellen Kontext in Deutschland als beleidigend empfunden wird“. Also weil es die Shoah gegeben hat, werde eine (judenfeindliche) Darstellung mit Raffzähnen, Schläfenlocken und großer Nase als beleidigend wahrgenommen. Auch die (judenfeindliche) Darstellung eines Mossad-Geheimdienstlers mit Schweinsgesicht werde deshalb als Antisemitismus und nicht als „Israelkritik“ verstanden. So wird der antisemitische Gehalt der Darstellungen, die in einer jahrhundertealten Tradition judenfeindlicher Darstellungen stehen, geleugnet.

Des Weiteren wird die Diskriminierung von Jüdinnen*Juden als individuell empfundene „Beleidigung“ entpolitisiert. Sie erklären diese „empfundene“ Beleidigung also mit dem deutschen Kontext und spielen auf die Shoah an. Die Aufarbeitung dieser wird damit in Stellung gebracht gegen das heutige Reden über Israel. Die Erinnerungskultur wird gegen die Antisemitismusbekämpfung ausgespielt.

Dieselbe Beobachtung lässt sich an einem Statement der deutschen Amnesty International-Sektion machen: Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International veröffentlichte im Februar 2022 einen Report, der nach eigenen Angaben belegen würde, warum Israel als Apartheidstaat zu bezeichnen ist. Die deutsche Sektion erklärte „in eigener Sache“, sie werde zu diesem Bericht
„keine Aktivitäten planen und durchführen“. Denn: „Im nationalen aktuellen sowie historischen Kontext ist eine objektive, sachbezogene Debatte zu der vom Bericht vorgenommenen Einordnung nur schwer möglich.“ Amnesty International Deutschland erklärt die Reaktionen auf die antisemitischen Behauptungen und Darstellungen also mit dem besonderen deutschen historischen Kontext, und damit unter Verweis auf die Shoah. Die fälschlicherweise gezogenen Lehren aus der Shoah versperrten demnach eine objektive Sichtweise auf die im Bericht vorgenommene Einordnung von Israel als Apartheidstaat.

Beide Beispiele sind Reaktionen auf den Vorwurf, Antisemitismus zu verbreiten. Sie zeugen von der Annahme, dass durch die deutsche Geschichte Antisemitismus da vermutet wird, wo es keinen gibt. Dadurch werde zudem der Blick auf den jüdischen Staat verklärt. Zusammengefasst: Die Deutschen seien durch ihren nationalen Kontext und ihre Geschichte beeinflusst und hätten deswegen nicht den vermeintlich richtigen Blick auf Antisemitismus und Israel. Im Fall des Amnesty International-Reports wurde der Antisemitismusvorwurf im Laufe der Debatte über den Bericht als illegitim abgewehrt, weil er nur genutzt werde, um „Israelkritik“ als antisemitisch zu brandmarken. Das untergräbt und erschwert die Problematisierung von Antisemitismus in Deutschland. Es werden nicht nur wissenschaftliche Standards und Kriterien zum Erkennen von Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen ignoriert, sondern auch die Lehren aus der Shoah gegen die Gründung des Staates Israel in Stellung gebracht. Damit wird so getan, als ob „die Deutschen“ zu sehr in ihrer Schuld verstrickt seien, um die heutigen politischen Geschicke Israels angemessen – und das heißt in diesem Fall: kritisch – betrachten zu können. Das hat vielfach zur Folge, dass israelbezogener Antisemitismus kleingeredet wird.

Israel und Deutschland

Selbstverständlich hat Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber Israel. Israel war und ist für Jüdinnen*Juden vielfach der Ort, wo Überlebende nach der Shoah leben konnten und wollten. Es ist bis heute ein Schutzraum für die von Antisemitismus Bedrohten. Die Staatsgründung kann durchaus als Reaktion auf die Shoah und damit die deutsche Geschichte verstanden werden, auch wenn der Zionismus schon im 19. Jahrhundert einen unabhängigen jüdischen Staat als Reaktion auf weltweit grassierenden Antisemitismus forderte. Die deutsche Verantwortung spricht für einen sensibleren Blick auf antisemitische Inhalte, die weiterhin eher zu wenig kritische Aufmerksamkeit bekommen. Es ist ja nicht so, als gäbe es in Deutschland zu viele Antisemitismusbekämpfer*innen, als würden diese es pausenlos übertreiben und Alarm schlagen, wo keiner nötig ist. Das Gegenteil ist der Fall: Antisemitismus grassiert in Deutschland. Nele Pollatschek hat völlig zurecht angemerkt, dass alles, was sie wolle, sei, „dass der Zentralrat immer unrecht“ behält und sich im „Präventionsparadox“ befindet,59 also durch die Warnungen genau
die Zustände verhindert, vor denen er warnt.

Die deutsche Verantwortung als Grund dafür anzuführen, dass Israel nicht als vermeintlich kolonialer, faschistischer Staat oder als allein schuldig für den Nahostkonflikt betrachtet wird, verkennt nicht nur die politischen Realitäten und die komplizierte Geschichte des Nahostkonflikts. Es verdeckt auch die eigenen antisemitischen Bilder, die hinter den Aussagen stehen. Schließlich verkennt diese Annahme eben genau diese Verantwortung sowie die Notwendigkeit einer besonderen Sensibilisierung für das Reden über Israel.

Noch eine zweite Beobachtung lässt sich an den Beispielen machen: Die Sorgen von Jüdinnen*Juden über den gezeigten Antisemitismus werden als emotionale Befindlichkeit abgetan. Der Antisemitismusvorwurf gilt als schlimmer als der Antisemitismus selbst, eine bittere Erfahrung, die nicht zuletzt Jüdinnen*Juden, die Antisemitismus bekämpfen, regelmäßig machen. Sie bewe-
gen sich in einem Dilemma: Thematisieren sie Antisemitismus, machen sie sich selbst zur Zielscheibe und erfahren Hass und Hetze. Sprechen sie den Antisemitismus nicht an, floriert er ungebremst weiter und sie werden angegriffen. Diese Situation ist unhaltbar. Sie wird sich nur verbessern, wenn ein angemessener Umgang mit Antisemitismusvorwürfen und -kritik gefunden wird.

Wo diese Kritik nicht ernst genommen wird, wo Betroffene nicht gehört werden, werden sie allein gelassen und schutzlos Antisemitismus ausgesetzt. Die heutige Erinnerungskultur fußt vielfach auf dem Engagement der Betroffenen, hatte verschiedene Phasen, ist aber im Großen und Ganzen geprägt von einer „Thematisierung von unten“, die allzu oft gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft und staatliches Handeln erkämpft werden musste. Ein Ergebnis dieser Kämpfe ist, dass Antisemitismusbekämpfung heute auch vom Staat und damit „von oben“ als Aufgabe begriffen wird.

Das bedarf nicht nur einer kritischen Begleitung. Es gilt dieses Gedenken und Erinnern kritisch weiterzudenken. Aus progressiven Milieus ergibt sich allein aus dieser Konstellation der staatlichen Bekämpfung von Antisemitismus vermutlich schon Abwehr. Eine gesamtgesellschaftliche kritische Erinnerungskultur hat sich aber in vielen Teilen der Gesellschaft noch gar nicht durchgesetzt:

Das zeigt auch, dass über 30 Prozent der antisemitischen Aussage „Was Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben“ zustimmen.

Dieser Artikel erschien zuerst im Lagebild Antisemitismus 2022  der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung.

Aktionwochen gegen Antisemitismus

Das Programm der Bildungs- und Aktionswochen 2022 finden sie hier:

Das „Lagebild Antisemitismus“ können Sie hier als PDF herunterladen oder als Print bestellen:

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