Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Thüringen hat in der Auswertung der antisemitischen Vorfälle aus dem Jahr 2022 festgestellt: 87 Prozent aller Vorfälle, die im Bundesland dokumentiert wurden, sind dem Post-Shoah-Antisemitismus zuzuordnen. Im Jahr 2021 stellte die Meldestelle bereits einen Anteil von 75 Prozent fest. Das ist ein vergleichsweise hoher Anteil des Post-Shoah-Antisemitismus; dies wirkt sich auch auf die Erinnerungskultur aus. Thüringen sticht im Ländervergleich deutlich hervor. Zum Vergleich: In Bayern betrug der Anteil des Post-Shoah-Antisemitismus im Jahr 2022 „bloß“ 35,5 Prozent.
Was ist Post-Shoah-Antisemitismus?
Als Shoah wird die Ermordung von sechs Millionen europäischen Jüdinnen*Juden im Nationalsozialismus bezeichnet. Unmittelbar nach der Shoah, sprich: nach der NS-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg, setzte die deutsche Schuldabwehr ein. Schuld wird relativiert oder gar geleugnet. Diese Form des Antisemitismus wird Post-Shoah-Antisemitismus genannt.
Die Facetten, in denen der Post-Shoah-Antisemitismus zum Ausdruck kommt, sind vielfältig. Die Shoah wird verharmlost, geleugnet oder verherrlicht. Personen singen etwa das „U-Bahn-Lied“: „Eine U-Bahn, eine U-Bahn, eine U-Bahn bauen wir, von Jerusalem bis nach Auschwitz, eine U-Bahn bauen wir“. Derartige Gesänge finden immer wieder im öffentlichen Raum statt. Ein Vorfall dieser Art ereignete sich in einer Erfurter Straßenbahn im Sommer 2022. Im öffentlichen Raum entfalten die Gesänge eine besonders negative Wirkung. Denn das sind Orte, die kaum gemieden werden können.
Mit erschreckender Regelmäßigkeit werden „Stolpersteine“ beschädigt. Diese Steine sind das größte dezentrale Mahnmal für die ermordeten Jüdinnen*Juden im Nationalsozialismus. Auch andere Gedenkorte werden regelmäßig angegriffen oder beschädigt. Ein Beispiel: Am 16. März 2023 wurde laut RIAS Thüringen eine Altenburger Gedenkstele, die an den Angriff auf den Gebetssaal in den Novemberpogromen 1938 erinnert, mit Hakenkreuzen und den Worten „Völkermörder Israel“ beschmiert.
Die Angriffe auf die Erinnerungskultur finden im gesamten Freistaat statt. Besonders betroffen sind die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Denn diese Orte haben eine überregionale und zentrale Bedeutung für die deutsche Gedenkkultur. Die Angriffe, Schmierereien und Schändungen stiegen in den vergangenen Monaten drastisch an. Die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora schrieb Ende August via Twitter/X: „Die Reihe von An- und Übergriffen auf die Arbeit der #Gedenkstätte #Buchenwald und die Erinnerung an die Opfer reißt nicht ab.“ Neben der Quantität der Angriffe ist eine Veränderung der Qualität festzustellen: Die extreme Rechte orchestrierte 2021 im Kontext der Proteste gegen die Coronapolitik eine regelrechte Hasswelle. Die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora bekamen über 400 Hassmails. Viele Mails waren antisemitisch.
2022 folgte eine Serie schwerer Sachbeschädigungen: Es wurden Bäume des Gedenkprojekts „1000 Buchen“ gefällt. Die Bäume wurden in Erinnerung an die Opfer des Konzentrationslagers Buchenwald und der Todesmärsche gepflanzt. Bis heute ist die Lage dramatisch. Am 6. September 2023 schrieb die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora via Twitter/X: „Wir sind es Leid. Mittlerweile vergeht kaum eine Woche ohne Neonazi-Schmierereien in der #Gedenkstätte #Buchenwald. Gestern Abend wurden Schmierereienund ein Hakenkreuz auf dem Parkplatz der Gedenkstätte festgestellt. Das erinnerungspolitische Klima in Deutschland kippt.“
Eine aktuelle Umfrage des RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) bestätigt das Kippen des erinnerungspolitischen Klimas. Ein Fazit lautet: „Bundesweit beobachten KZ-Gedenkstätten einen Anstieg an antisemitischen Schmierereien, ein offeneres Auftreten von Rechtsradikalen, rechtsextreme Übergriffe in den sozialen Netzwerken und Zerstörungen.“ Nahezu wöchentlich werden Taten gegen Gedenkstätten zur Anzeige gebracht. Rikola-Gunnar Lüttgenau, die Vizedirektorin der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, erklärte, die Zunahme der Angriffe auf Gedenkorte sei „ein Seismograf dafür, dass versucht wird, diese Grundfeste der heutigen Bundesrepublik ins Rutschen
zu bringen“.
Die rechtsextremen Strukturen und Netzwerke, die bereits in den 1980er-Jahren in Thüringen entstanden sind, waren in der DDR nicht zuletzt möglich,
weil der Staat ein antifaschistisches Image pflegte und behauptete, es gebe keine rechtsextremen Tendenzen.
Die Strukturen und Netzwerke bestehen bis heute – und beeinflussen die politische Kultur im Freistaat. Die Positionen der extremen Rechten sind in den Parlamenten vertreten: Mit der AfD verfügt die extreme Rechte über eine treibende Kraft des Geschichtsrevisionismus und der Schuldabwehr. Björn Höcke, der AfD-Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag, relativierte die Shoah in einer Parlamentsrede vom Februar 2022. Er sagte über die Impfpflicht gegen Covid-19, sie sei „nicht zuletzt vor dem Hintergrund der verbrecherischen Menschenversuche im Dritten Reich ein historischer Tabubruch“. Neben Höcke ist AfD-Politiker Torsten Czuppon, der 2017 als Polizist ein Shirt der Neonazi-Marke Thor Steinar in der Gedenkstätte Buchenwald getragen haben soll, im Thüringer Landtag vertreten.
Die Oberbürgermeister-Wahl in Nordhausen, in einer Stadt mit etwa 40.000 Einwohner*innen, führte vor Augen, wie sehr die extreme Rechte in bürgerlichen Milieus auf Unterstützung trifft. Der AfD-Kandidat Jörg Prophet gewann den ersten Wahlgang vom 10. September 2023 mit 42,1 Prozent. In der Stichwahl vom 24. September holte er gar 45,1 Prozent, verlor jedoch die Wahl. Das wurde möglich durch eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft und eine Gedenkstätte, die sich als politischen Akteur verstand und vor den Folgen eines
AfD-Oberbürgermeisters warnte. In der Vergangenheit war Prophet durch geschichtsrevisionistische Positionen aufgefallen. Vor der Wahl hatte das Internationale Komitee Buchenwald, Dora und Kommandos (IKBD) klargestellt: „Für das IKBD ist es unvorstellbar, dass die letzten Überlebenden der KZ-Lager und ihre Familien nächsten April 2024 und zum 80. Befreiungstag, 2025, in Nordhausen von einem Bürgermeister aus den Reihen einer Partei begrüßt werden könnten, deren politisches Programm aus Aufrufen zur Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Nationalismus und Revisionismus besteht.“ Am Ende konnte der AfD-Wahlsieg verhindert werden – insbesondere durch eine starke demokratische Zivilgesellschaft, die sich auf Social-Media-Kanälen unter dem Hashtag organisierte: #nordhausenzusammen
Dieser Text ist ein Auszug aus dem „Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus #12“ der Amadeu Antonio Stiftung.
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