
Es ist eine Zäsur: Zum ersten Mal seit dem Ende des Nationalsozialismus kommt gestern eine Mehrheit im Bundestag mit den Stimmen einer rechtsextremen Partei zustande. Das ist besonders perfide, weil am Vormittag im selben Sitzungssaal noch den Opfern des Nationalsozialismus gedacht wurde. Der Holocaustüberlebende Roman Schwarzmann berichtet von seinen Erfahrungen als Kind im Ghetto Berschad. Stunden später liegen sich die Abgeordneten der rechtsextremen AfD jubelnd in den Armen, Alice Weidel feiert das Votum als „großartigen Tag“. Vertreter*innen von SPD, Grünen und Linkspartei zeigen sich erschüttert. Auch Ex-Kanzlerin Merkel kritisiert das Verhalten ihrer Partei. Der 99-jährige Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg will sein Bundesverdienstkreuz wegen der Abstimmung zurückgeben. Droht jetzt eine Wiederholung der Geschichte?
„Es ist 5 vor 1933“ – der Kampf um die Deutung der Gegenwart
Vergleiche der heutigen Situation mit dem Ende der Weimarer Republik und dem Januar 1933 sind nicht erst seit der gemeinsamen Abstimmung von CDU, FDP und AfD präsent: „Es ist 5 vor 1933“ heißt ein neues Buch von Philipp Ruch, dem Gründer des Zentrums für politische Schönheit. „Rechts wählen ist so 1933“ plakatieren die Jusos im laufenden Bundestagswahlkampf – gedruckt in der typischen Typografie der 1930er-Jahre. Seit dem 29. Januar 2025 kursieren Memes im Netz, die den CDU-Spitzenkandidaten Friedrich Merz mit Franz von Papen vergleichen. Der Politiker trug am Ende der Weimarer Republik dazu bei, Hitler und die NSDAP zur Macht zu verhelfen.
Bis zum 29. Januar 2025 galt eine parlamentarische Zusammenarbeit demokratischer Kräfte mit Rechtsextremen aus gutem Grund als Tabu. Die historische Referenz dafür ist in Deutschland der Aufstieg des Nationalsozialismus. Das „Kabinett Hitler“ wurde am 30. Januar 1933 gebildet. Die Koalitionsregierung umfasste neben Hitler als Reichskanzler auch nationalkonservative Kräfte wie den Medienmogul Alfred Hugenberg (DNVP) oder den parteilosen Franz von Papen.
Warum die Konservativen Hitler unterschätzten
Die konservativen Eliten sahen in Hitler und der NSDAP ein nützliches Werkzeug, um die Weimarer Demokratie zu zerschlagen und an ihrer Stelle eine autoritäre Ordnung zu errichten. Sie waren sich sicher, Hitler sei durch Reichspräsident Hindenburg, die bestehenden Institutionen wie die Reichswehr, die Bürokratie und ihre eigene Regierungsbeteiligung letztendlich unter Kontrolle – er sei eingehegt.
Ein folgenschweres Fehlurteil: In kürzester Zeit entmachtete Hitler das deutsche Parlament. Er baute mit der Gestapo und den paramilitärischen Organisationen der NSDAP Terrorinstrumente auf. Und begann mit der systematischen Verfolgung politischer Gegner*innen, Jüdinnen*Juden und weiteren Gruppen, die im nationalsozialistischen Weltbild abgewertet und als Feinde markiert wurden. Die Konservativen hatten den Fanatismus und die Entschlossenheit der Nationalsozialisten unter- sowie ihre eigene Rolle überschätzt. Sie teilten mit den Nazis eine Ablehnung der Republik und die Feindschaft zu Sozialdemokratie und Kommunisten.
Ist die Brandmauer gefallen?
Der 30. Januar 1933 war also ein fataler Tag der deutschen Geschichte. Wenn heute Parallelen zur historischen Situation gezogen werden, dann ergeben diese sich oft schon aus der Nähe des Datums zur Abstimmung im Bundestag über den migrationspolitischen Antrag der CDU. Eine weitere Parallele: Es war schon vorher abzusehen, dass der Antrag Unterstützung im rechtsextremen Lager finden würde. Merz und die CDU müssen sich vorwerfen lassen, dass sie diese Unterstützung einkalkuliert haben – eine Form der Kooperation.
Die „Brandmauer“ der demokratischen Parteien gegenüber der rechtsextremen AfD galt bis dato als notwendige Lehre aus der deutschen Geschichte: Keine Zusammenarbeit, nirgends. Die Brandmauer hat am 29. Januar 2025 mindestens einen heftigen Riss bekommen, nachdem sie kommunal- und landespolitisch schon durch Zusammenarbeiten mit der AfD unterhöhlt wurde.
Droht uns eine Wiederholung der Geschichte?
Das Problem an apokalyptischen Aussagen wie „2025 ist 1933“: Sie sollen als Erklärung und Warnung fungieren. Sie beschwören das schlimmstmögliche Szenario herauf – ein Szenario, dessen Ende wir alle aus dem Geschichtsunterricht kennen. Mit solchen historischen Parallelisierungen und einem zirkulären Geschichtsverständnis wird ein Automatismus mit naheliegenem Schluss heraufbeschworen: Wir sind verloren.
Und so lösen die düsteren Szenarien bei vielen Menschen eher Fatalismus, Angst, Erstarrung und Fluchtgedanken aus – statt sie zum Streiten für unsere Demokratie zu motivieren. So eine Warnung kann also auch manipulativ wirken – oder sogar absichtlich von Politiker*innen so eingesetzt werden, um eine bestimmte Entwicklung als unausweichlich darzustellen.
Geschichte ist nicht vorherbestimmt – und das ist entscheidend
Das lenkt jedoch von der prinzipiellen Offenheit der Situation ab, in der wir uns befinden. Es ist keineswegs ausgemacht, dass nach der gemeinsamen Abstimmung von CDU, FDP und AfD auch ein gemeinsames Regierungsbündnis folgt. Die Bundesrepublik Deutschland 2025 ist nicht das Deutsche Reich zur Jahreswende 1932/33. Die Weimarer Republik hatte gerade einmal 14 Jahre Bestand und war in dieser kurzen Zeit durch Straßenkämpfe, Weltwirtschaftskrise sowie die finanzielle und die moralische Hypothek des Ersten Weltkrieges schwer angeschlagen. Die Situation ist heute eine grundsätzlich andere.
Die AfD verfolgt eine antisemitische, rassistische, antifeministische und geschichtsrevisionistische Politik. Aber sie ist nicht die NSDAP mit Zugang zum Internet. Das liegt weniger an der Partei selbst als am gesellschaftlichen Kontext, in dem sie sich bewegt: Anders als in der Weimarer Republik stehen in der Bundesrepublik Deutschland die mit Abstand meisten Menschen auf der Seite der offenen, liberalen Demokratie. Glaubt man den jüngsten Umfragen, so wollen 80 Prozent der Menschen nicht die AfD wählen.
Auch die Machtübertragung an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 war kein unausweichliches Schicksal. Hindenburg hätte sich weigern können, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Die Nationalkonservativen hätten sich um Mehrheiten mit SPD, Kommunisten, Zentrum und Liberalen bemühen können. Eine konsequente Umsetzung des NSDAP-Verbots nach 1923 hätte ihren Aufstieg erschwert.
Es gab also zahlreiche Wege, an denen die deutsche Geschichte eine andere Abbiegung hätte nehmen können. Die NS-Herrschaft war kein zwangsläufiges Ergebnis, sondern das Produkt von Fehlentscheidungen, Fehleinschätzungen, bewusstem politischem Kalkül – und den Stimmen von Millionen Wähler*innen.
Welche Entscheidungen jetzt anstehen
Heute steht unsere Demokratie unter Druck – durch den Aufstieg des rechten Autoritarismus in den USA, durch Putins brutalen Angriffskrieg, durch die rechtsextreme AfD und durch Politiker*innen der anderen Parteien, die meinen, sie könnten für ein paar Wähler*innenstimmen demokratische Grundsätze über Bord werfen. Aber das Ende der Demokratie ist kein Schicksal. In Bezug auf 1933 wissen wir, wie Geschichte ausging. 2025 ist das nicht so – und das ist eine gute Nachricht.