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Merz und die Migrationsfeindlichkeit Der Zahn der Zeit

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(Quelle: Unsplash)

Eigentlich wollte ich zum Anfang Oktober nicht mehr an Merz denken. Aber herbstlichen Glückwunsch: Der CDU-Vorsitzende und Chef der Unionsfraktion im Bundestag hat es schon wieder getan. Mit seiner alten Denkweise liefert er neuen Stoff. So kann ich es doch nicht lassen.

Man hat es sicherlich mitbekommen. Im Sender Welt hat Friedrich Merz jüngst dazu aufgerufen, die Migrationspolitik zu verschärfen. Das gehört zwar mittlerweile längst zum guten Ton in der christlichen Volkspartei. Es kommt aber dicker. Merz plädierte auf eine unverkennbar populistische Weise dafür, zahnmedizinische Behandlungen für abgelehnte Asylbewerber*innen zu beenden. Denn „die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen.“ Der Spruch kursiert in rechten Kreisen seit mindestens fünfzehn Jahren in der Bundesrepublik. Doch damit nicht genug. Merz, sicherlich privat versichert, legte mit dem folgenden Vorwurf nach: „Und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“

Es ein Zusatz, der eindeutig Othering betreibt. Die vom Stamme „Nimm“ gegen uns, die anständigen, hart arbeitenden Einheimischen, denen so viel abverlangt werde. Man müsste berücksichtigen, Landtagswahlen finden in Bayern bzw. in Hessen am nächsten Sonntag statt. Und die Alternative für Deutschland ist irgendwie nicht weg zu denken.

Nunmehr kann die AfD sogar mit der zumindest „moralischen“ Unterstützung von einem gewissen Elon Musk rechnen. Dieser teilte einen Beitrag mit einem Appell, die AfD zu wählen. Musks Liebesgezwitscher gegenüber der AfD erfolgte im Rahmen eines kurzen, heftigen Wortgefechtes mit dem Bundesaußenministerium. Es ging darum, ob Deutschland die Rettung der in Seenot geratenen Geflüchteten im Mittelmeer finanziell ermöglichen solle. Eigentlich ein Gebot der christlichen Seefahrt, Schiffbrüchige aus den Wellen zu fischen und in Sicherheit zu bringen. Musk, der Multimilliardär der Twitter (nun „X“) nur auf Pump kaufen konnte, war jedoch eher dagegen und solidarisierte sich mit den „German People“. Sogar fast zeitgleich ließ Musk wissen, und zwar während einer entlang der Grenze zwischen Mexiko und den USA veranstalteten Pressekonferenz, er sei für „controlled immigration“.

Auch mit den Italiener*innen, allen voran mit Italiens Ministerpräsidentin und Mussolini-Nostalgikerin Giorgia Meloni, flirtete Musk. Es ist Meloni, die ihr Volk vor der sostituzione etnica – dem „ethnischen Austausch“ – eindringlich warnt. Vor dem Austausch und vor der Armut. So nebenbei erwähnt: Ein typischer Geflüchteter aus Nordafrika legt sehr viel Geld aus für seine lebensgefährliche Mittelmeer-Überquerung in einer Nussschale, weitaus mehr, als das was ein pauschalreisendes Pärchen aus Partenkirchen hinblättert, um eine mediterrane Luxuskreuzfahrt zu absolvieren.

Aber Musk und Meloni. Was hat das mit Merz zu tun? Im Grunde genommen alles. Die Aussage von Merz fügt sich ein in die salonfähig gewordenen Hetze, die auf fast allen Kanälen betrieben wird. Es handelt sich um verschiedene Kreise, die sich freilich tangieren oder sogar ineinander führen. Quasi die Internationale der Nationalist*innen. Europäischstämmige Menschen in Endzeitstimmung.

Daher die billige Bierzelt-Stimmungsmache von Merz, der übrigens sogar nicht davor zurückschrak, den „Sozialtourismus“ von ukrainischen Geflüchteten zu beklagen.

Ich postete in den „sozialen“ Medien nach Merz jüngsten verbalen Entgleisung ein Zwischenfazit:

Nach so einer feuchten Aussprache des CDU-Chefs, ist es klar, was sich hier abspielt. Es ist die lückenhafte Logik eines Populisten auf Kiefer-Ebene. Bis(s) auf Weiteres weiß der Pascha der Pauschalisierungen, wie und wo er wen narkotisiert. […] Manche Demagog:innen machen Karriere, er macht Karies. Die Wurzel des Problems ist allerdings die Zähnophobie. Merz-Linderung nicht in Sicht. So oder so ist es zum Kotzen, und das Expektorienbecken, jener wassergespülte Behälter am Rande des Behandlungsstuhls, fällt dafür leider zu klein aus.

Es dauerte nicht lange. Neben vielen Herzchen und hochgestreckten Daumen empfing ich  allerdings auch Hasspost und den erhobenen Mittelfinger. Vor allem auf Instagram, wo ich das Merz-Musk-Meloni-Kontinuum erläuterte:

Screenshot von Instagram: Rechtsextremismus mit extremen Rechtschreibfehlern.

„Deine Fachkräfte sind im überwiegenden Fall Sozialschmarotzer“, belehrte mich ein womöglich aus Trollenhagen stammender Kommentator. „Immer wieder komisch, dass ihr Woken das nicht rafft!?“

Nicht rafft, aha. Im Zeitraffertempo schreitet der demografische Wandel allerdings weiterhin unaufhaltsam voran. Währenddessen gebären weiße Deutsche immer weniger Kinder. Diese statistisch erwiesenen Tatsachen lassen sich von Stammtischparolen nicht beeindrucken und sie nehmen keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten der besorgten Bürgerschaft. Demagog*innen können sich in ihrer parteiübergreifenden Verzweiflung noch so mimosenhaft und noch so mürrisch zu Wort melden. Aber sie beißen sich die Zähne aus. Denn bei der entscheidenden Frage geht es nicht um eine Obergrenze für Geflüchtete, sondern um eine Untergrenze für Pfleger*innen.

Kaum möchte ich diese Kolumnentext beenden, da summt mein Handy wieder. Mehr Hasskommentare. Ich schaue kurz nach. Merz habe recht, heißt es, und es gehe um das Überleben Deutschlands. Zwei Bots fangen damit an, Migrant*innen mit Messerstechenden gleichzusetzen.

Apropos Messerstecher: Der Biodeutsche, der im nicht linken Blatt Tagesspiegel als „Neuköllner Neonazi Maurice P.“ bezeichnet wird, wurde Anfang dieses Jahres wegen gefährlicher Körperverletzung in Berlin schuldig gesprochen. Nahezu drei Jahre Gefängnis erhielt der für seine Hitler-Grüße und seine ebenfalls verbotenen NS-Symbole einschlägig bekannte. Aus dem Bericht zitierend: „Das Gericht sah es als erwiesen an, dass [Maurice P.] einem Jamaikaner ,gezielt und absichtlich’ […] ein Cuttermesser in den Hals rammte und dabei nur knapp die Halsader verfehlte.“ Eines von vielen solcher Beispiele.

Das ist das Deutschland, das die besorgten Bürger*innen liebend gerne verschweigen. Es ist das Deutschland, in dem die AfD ein zweistelliges Umfragehoch nach dem anderen feiert, während die Union sich des völkischen, rassistischen Nationalismus immer hemmungsloser bedient. Der Weg mündet in eine Sackgasse.

Immerhin wird der demografische Wandel schlussendlich das letzte Wort haben. Sinkende Geburtsraten und der steigende Bedarf an Fachkräften schaffen schon jetzt Tatsachen.

Viele Erzkonservative hegen den Wunschtraum, bessere bzw. weiße, christliche und nicht zuletzt vermögende Heterosexuelle als die neuen Migrant*innen hierzulande begrüßen zu dürfen, während jene, die dieses Land mit auf- und ausgebaut haben, „auf die Heimreise“ geschickt werden. Reality Check: Nicht allzu viele White Christian Millionaire Heteros wären dazu bereit, teutonischen Tattergreis*innen den Po abzuwischen.

Deutschland sollte vor der 5G-Community, wie ich sie zu nennen pflege, eigentlich einen Kniefall machen. Es waren die aus aller Welt stammenden, nicht immer weißen GIs, Gastarbeitenden, Geistlichen, Geschäftsleute und ja Geflohenen, die dieses Land – nach dessen menschenverachtenden Verbrechen – wieder auferstehen ließen.

Umso bedauerlicher ist es, dass man die Zeit damit vergeudet, Blut-und-Boden-Gift zu versprühen. Unschuldige Menschen werden verstümmelt und getötet, um einen Wandel aufzuhalten, der nicht mehr aufzuhalten ist. Dieses Land braucht eine nachhaltige Integrationspolitik, keine nationalistischen Inszenierungen. Mehr Demut wagen, und zwar gegenüber uns, denjenigen, die im Angesichts des alltäglichen Rassismus die Zähne zusammenbeißen müssen.

Am morgigen Dienstag feiern wir den 3. Oktober. Wollen wir endlich die Einheit zelebrieren? Oder, wie die große afrodeutsche Dichterin May Ayim (1960 – 1996) es so treffend beschrieb, die „Scheinheit“ walten lassen?  Im Zahn der Zeit ist es schon fünf nach zwölf.

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