Montagvormittag in Frankfurt, es ist der 16. Oktober. Das Wetter ist herzlich, vielmehr herbstlich. Frisch, dafür aber trocken. Sogar ausgesprochen hell. Ich trage Pink und Gelb. Mein Blazer und mein Schal haben die gleichen Farbe wie die 75 aufgeklappten Stühle, die draußen vor der Paulskirche aufgestellt sind. Laut dem Motto And the story goes on verbindet die Jubiläumskampagne, die zusammen von Michel Friedman, der Frankfurter Buchmesse und der Agentur Vier für Texas entwickelt wurde, die Erinnerung an Meilensteine der Geschichte mit einem Ausblick auf die nächsten Kapitel.
Hier, an demselben Ort, an dem 1949 die erste Frankfurter Buchmesse stattfand, treffe ich mich mit Publizist*innen und Presse, mit Literat*innen und, nicht minder wichtig, mit Lesenden. Ich schätze mich glücklich, als Storytellerin mit eigenem Stuhl dabei sein zu dürfen. So oder so fühle ich mich reif. Das heißt, reif für die Ernte. Der Gedanke wird akustisch untermalt, während kunterbuntes Laub unter meinen Schuhen raschelt.
Plötzlich stehe ich Michel Friedman gegenüber. Der deutsch-französische Rechtsanwalt, Philosoph und Talkmeister und ich nicken einander kurz zu, beide leise lächelnd. Eigentlich möchte ich ihn unter vier Augen sprechen. Denn ich möchte mich für die Ehre erkenntlich zeigen und es ist mir ein Bedürfnis, ihm meine Solidarität zu bekunden. Ihm und, wenn dabei, dem ganzen Judentum. Wäre das zu klischeehaft? Zu oberflächlich? Würde es ihm oder der jüdischen Gemeinde dabei irgendwie besser gehen? Oder nur mir? Ich komme nicht dazu. Denn die Kolleg*innen mit den Kamera und Mikrofonen wollen O-Töne von ihm bezüglich der scheußlichen Nachrichtenlage. Diese späte Erntezeit ist nämlich eine sehr ernste Zeit, die in erhöhtem Maße von Terror und Hass geprägt ist.
Der 7. Oktober, ein Datum, das in die Geschichtsbücher als Israels 11. September eingegangen ist, spielt sich in Endlosschleife in so vielen Gedächtnissen ab. Enthauptete Säuglinge, von Maschinengewehren durchlöcherte Kinderzimmer, die herumliegenden Leichen vergewaltigter Frauen. Die Opfer wurden sehr methodisch und nicht zuletzt sehr medienbewusst massakriert. Und die Bilder erreichten ihre Ziele, ob in Nablus oder Neukölln, wo jubelnde Mobs die höllische Metzelei wie Manna vom Himmel empfingen.
Wenn die Terrororganisation Hamas irgendetwas während ihrer 17 Jahre an der Macht in Gaza geübt, gelernt und nahezu gemeistert hat, natürlich neben dem mit Schönheitsfehlern behafteten Raketenbau und der erfolgreicheren Unterdrückung der eigenen Schutzbefohlenen, dann ist es der Umgang mit den „sozialen“ Medien. Ein gewisser Elon Musk erleichtert es ihnen sogar, ihre Zerstörungswut gleichsam x-mal quer durch den Äther zu zwitschern. Antisemitische Hetze gibt es leider seit der Antike, nun aber erfolgt sie in Echtzeit. Von Schriftrollen zum Scrollen. Und was würde heutzutage einer vom Schlage eines Mannes wie Johannes Gutenberg dazu sagen? Darüber denke ich nach, während ich mich knapp fünf Gehminuten entfernt von dem Brunnen am Roßmarkt befinde, wo der Erfinder des Buchdruckes mit einem Denkmal verewigt wird.
Worte finden, für das, was sprachlos macht
Meinen Stuhl orte ich an einem noch schattigen Baum. Ja, ich bin hier richtig. Das bestätigt auch der QR-Code, der auf meinem Handy-Bildschirm flackert. Ich rücke den Stuhl ein bisschen in die Sonne und nehme Platz. Neben mir sitzen, gleichfalls zur Ehrung mit eigenen Stühlen, die ikonische Frankfurter Buchhändlerin Maria Lucia Klöcker und Ellen Harrington, Direktorin des Deutschen Filminstitutes und Filmmuseums.
Jürgen Boos, seit 2005 Direktor der Frankfurter Buchmesse, ergreift das Wort und bekundet sogleich die unerschütterliche Solidarität mit Israel. Und zwar ohne Wenn und Aber. Vielmehr ohne „Ja, aber.“ Das war Balsam für die Seele. Ein Aufatmen geht durch die Ansammlung von etwa fünf Dutzend Menschen auf dem Paulsplatz. Nicht, dass irgendjemand unter den Anwesenden ernsthaft daran gezweifelt hätte, wie Boos und die Buchmesse zu Israel stünden. Doch es ist in der Tat beschwichtigend, dass einer den Mut an den Tag legt, eine unmissverständlich klare Stellungnahme zu den Ereignissen zu beziehen.
Zur offiziellen Eröffnung der Buchmesse sorgt Slavoij Žižek dann für einen Eklat. Der Starphilosoph, der für seine Heimat, das Gastland Slowenien, am Rednerpult steht, erweckt bei vielen den Eindruck, den Terrorangriff der Hamas auf Israel relativieren zu wollen. In seinen Ausführungen, die weder Struktur noch sonderlich viel Stil aufweisen, lamentiert Žižek: „Sobald man anfängt, den komplexen Hintergrund der Situation zu analysieren, wird man verdächtigt, den Terrorismus der Hamas zu unterstützen oder zu rechtfertigen. Ist uns klar, wie merkwürdig dieses Analyseverbot ist? In welche Gesellschaft gehört so ein Verbot?“
Es herrscht sogleich Tumult. Einerseits gibt es Beifall. Aber andererseits ertönen Buhrufe. Der Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef (SPD) und die hessische Ministerin für Wirtschaft und Kunst Angela Dorn (Die Grünen) verlassen den Saal. Andere Politiker*innen folgen demonstrativ. Nicht minder entrüstet ist Hessens Antisemitismusbeauftragter Uwe Becker (CDU), der ebenfalls den Raum verlässt, aber wenig später zurückkehrt und Žižek mehrmals widerspricht. Nachher erläutert Becker, wer am 9. November Kränze niederlege, „muss auch davor und danach zum jüdischen Leben einstehen!“
Daraufhin beteuert Boos in seiner Pressemitteilung: „Es ist die Freiheit des Wortes. Und die müssen wir hier stehen lassen, das ist mir wichtig.“ Man möge meinen, wie ein Pressesprecher des Auswärtigen Amtes. Aber dann zum Schluss der PM kommt das wirklich Wesentliche, das leider oft überhört bzw. übersehen wird: „Ich bin froh, dass wir die Rede zu Ende gehört haben, auch wenn sie uns nicht gefallen mag. Auch wenn wir sie sogar verurteilen, es ist wichtig, dass wir uns zuhören.“
Darauf kommt es an. Denn Indizien, welche die Existenz einer Debattenkultur belegen, müssen nicht gleich als Beweise eines Debakels bewertet werden. Die Buchmesse in der Rhein-Main-Metropole kenne ich persönlich seit vier Dekaden, ob als Buchautorin, Berichterstatterin oder Besucherin. Immer wieder ist es, gelinde gesagt, zu Disputen gekommen, ob es um die Weltpolitik oder um bundesrepublikanische Diskurse ging.
Diesmal bei der 75. Auflage gab es sogar schon vor dem Zoff um Žižek eine Meinungsverschiedenheit auf der Messe: Die palästinensische Autorin Adania Shibli sollte auf der Messe den „Liberaturpreis“ des Vereins Litprom am 20. Oktober erhalten. Der Termin für die Auszeichnung für Schriftsteller*innen aus dem Globalen Süden wurde jedoch verschoben. Denn Shiblis Roman Eine Nebensache enthalte auch antijüdische Stereotype. Darin werde, so die taz, Israel als „Mordmaschine“ dargestellt. Das Hinaufschieben ist, sollten die Vorwürfe stimmen, eine nachvollziehbare Entscheidung, bei der die Rücksichtnahme subjektiv gespürt und sachlich begründet ist.
Fazit: Gratwanderung gemeistert
Meines Erachtens ist es der Frankfurter Buchmesse mitsamt Awareness-Team im 75. Jubiläumsjahr gelungen, die Gratwanderung zwischen Sensibilisierung und Zensur zu bewältigen. Eine Errungenschaft, zumal der Angriffskrieg der Hamas gegen die einzige Demokratie des Nahe Osten Vieles in den Schatten gestellt hat. Zum Vergleich: In den letzten Jahren ging es bereits ab Spätseptember vorwiegend um die Fragen: Kommen Braune wieder in die Nähe des Blauen Sofas? Und was sagt das Schwarze Herz dazu?
Fakt ist, in den beruflichen Boykottierungsbrigaden unterschätzen viele den juristischen Aufwand, der damit verbunden ist, nicht indizierte Bücher aus den Regalen und deren Verlage aus den Hallen zu verbannen. Man darf diese Aussage meine Wenigkeit nicht als eine persönliche Toleranz der verfassungskonformen Hetze missdeuten. Verbote haben ihren Platz, auch und gerade in einer Demokratie, und zwar zum Schutz der Demokratie. Aber als pauschaler Ersatz für Debatten über etliche existenziellen Themen sind Verbote fehl am Platze.
Als der Weltliterat Salman Rushdie, Träger des diesjährigen Friedenspreises des deutschen Buchhandels, passioniert und doch ohne jegliches Pathos offenbart, wen man ihn fragt, ob der Koran verbrannt werden solle: „Sie werden nicht überrascht davon sei, dass ich gegen Bücherverbrennungen bin.“ In demselben Atemzug ruft er Heinrich Heines bekannte Zitat ins Gedächtnis. Dort, wo man Bücher verbrenne, verbrenne man am Ende auch Menschen. Trotz Fatwa ohne Fatalismus. Beim 2022 verübten Attentat gegen ihn hat der charismatische Kosmopolit sein rechtes Auge verloren, aber ohne am Weitblick einzubüßen.
Aus meiner Sicht zeugen die jüngsten Ereignisse in und um Israel herum von der Bedeutung der Literatur. Die Buchmesse, einer Begegnungsstätte der Weltkultur, spielt eine wichtige Rolle dabei. Sie ist die erlebte Vielfalt. Bücher befreien. Bücher regen an – und auf. Runter vom Elfenbeinturm. Raus aus dem virtuellen Versteck, rein in das geistige Gemenge nahe der Galluswarte. Unser Leben ist ein Buch, das durch Terror oder Hass auch abrupt beendet werden kann. Es obliegt uns, unsere Seiten zu zeigen, unsere Geschichten zu erzählen und unsere Stimmen zu erheben.