Am 07. Oktober 2023 rief ich kurz vor zehn Uhr morgens nichtsahnend meine Bekannte Mava, eine jüdische Künstlerin aus Wien an. Es ging um eine Vernissage, für die ich mich interessierte. Meist geht Mava gleich ans Telefon, auch morgens. Okay, es war Samstag, also Shabbat. Um die Uhrzeit finden Toralesungen und Gebete statt. Aber Mava, Mitte dreißig, pflegt einen weitgehend säkularen Lebensstil. Die in New York geborene Frau, die sich als Brooklyn Bohemian bezeichnet, ist nur sehr selten in irgendeiner Synagoge in der österreichischen Hauptstadt zu erblicken. An diesem Tage war sie sowieso gar nicht in ihrer mitteleuropäischen Wahlheimat.
Nach ein paar Textnachrichten, die aneinander vorbeischossen, erreichte ich Mava doch noch telefonisch. Atemlos schrie sie mich an: „They wanna kill us! What’s the world gonna do this time?“ Sie war heiser. Ihre Stimme zitterte vor Wut und Verzweiflung. Offenbar lief sie in einem Pulk aufgeregter Menschen. Hebräische Wortfetzen ertönten im Hintergrund. Sirenen auch.
Mava war seit anderthalb Wochen zum Verwandtenbesuch in Ashkelon, der südlichsten Stadt an der israelischen Mittelmeerküste, knapp ein Dutzend Kilometer nördlich des Gazastreifens. Für abgefeuerte Raketen aus Gaza ist das ein Katzensprung, und an diesem Samstagmorgen regneten Raketen auf Israel. Während Mava in einem Stakkato sprach, beachtete ich endlich die Breaking News über die sonst nervigen Pop-up-Fenster: „Hamas greift Israel an: Zivilisten als Geiseln genommen.“
Mittlerweile sitzt Mava auf ihrem Koffer irgendwo in Tel Aviv, ohne einen festen Rückflug zu haben. Sie sehnt sich nach der Sicherheit ihrer Altbauwohnung am Donaukanal. Aber was bedeutet Sicherheit für eine jüdische Person in einer Welt, in der Antisemitismus tief verwurzelt ist und sich, dank der sozialen Medien, weiterhin breit macht? Kurz vor dem höchsten jüdischen Feiertag, fast genau zum fünfzigsten Jahrestages des Jom-Kippur-Krieges, befindet sich Israel wieder im Fadenkreuz des Hasses. Damals im Jahre 1973 waren die Antagonisten primär Ägypten und Syrien. Diesmal ist es die Hamas. Der Tag war wohl extra deshalb gewählt, wie übrigens auch von dem Attentäter von Halle, der 2019 zwei Menschen vor einer Synagoge ermordete.
Hamas und die Heuchelei
Am Sonntag, einen Tag nach dem neuen Kriegsausbruch postete ich online meinen prägnanten, angeblich zu kryptischen Aufruf zum Frieden: „Jesus war ein palästinischer Jude“. Damit wollte ich gewissermaßen drei Kreuze machen. Oder zumindest drei Kästchen ankreuzen, die auf eine politisch korrekte Weise auf die Sinnlosigkeit des Hasses hinweisen.
Aber diese Gedanken, diese Gebetsfetzen reichten offenbar nicht, um die Neugierde einiger meiner Follower*innen zu stillen. „Wie stehst Du dazu, Michaela?“ fragen sie mich gefühlt über alle Kanäle. „Auf welcher Seite stehst Du?“ Es erinnert mich an die Universalfrage, die wie eine geladene Waffe an uns BIPoC-Menschen gerichtet wird: „Ja, aber wo kommst Du ursprünglich her?“ Ein anderes Thema, aber mit der gleichen stumpfsinnigen Penetranz.
Ausgerechnet einige jener Folger*innen, die sich gerne als politisch links beschreiben, hakten bei mir nach. Als eine Person des öffentlichen Lebens, als Schwarze, als Queerfeministin, die sich für die Gerechtigkeit einsetze, würde es mir obliegen, eine eindeutigere Stellungnahme zu beziehen. Okay, gut. So drückte ich online meine Solidarität mit Israel aus, und darauf hin, dass meines Erachtens nach auch die Palästinenser*innen unter der Hamas leiden.
Dann hagelte es bei mir. Die Leiterin einer Berliner Begegnungsstätte für queere Migrant*innen warf mir in einer direkten Nachricht vor, ich habe mich zu den „Zionist*innen“ gesellt. Andere forderten mich dazu auf, die „Einseitigkeit“ der Berichterstattung anzuprangern, weil es zu viele negative Reportagen über den „Befreiungskrieg gegen die israelischen Parasiten“ geben würde. Die Medien seien in den Händen von Menschen jüdischer Abstammung, so könne es keine Objektivität geben.
Dabei informiert NBC News mit detaillierten Angaben über raffinierte, massive Misinformationskampagnen seitens der Hamas in Social Media. Vor allem über Telegram. Videos von angeblich aktuellen Vergeltungsangriffen durch die israelische Luftwaffe stellten sich als nahezu zehn Monate alt heraus. Zugleich brüstet sich Hamas mit Propagandclips, die ihre Kämpfer*innen bei der Geiselnahme israelischer Bürger*innen zeigen.
Ich habe es satt. Mich entnervt, dass bestimmte Linke in Deutschland mich dazu nötigen wollen, die Täter*innen der Hamas als Freiheitskämpfer*innen oder sogar als Friedensstiftende anzusehen. Hamas ist eine internationale Terrororganisation. Der Name ist eigentlich ein Akronym HAMAS Ḥarakat al-muqāwama al-islāmiyya. Dieses bedeutet „Islamische Widerstandsbewegung“. 1987 wurde sie als Zweig der Muslimbruderschaft von Ahmad Yasin und anderen Akteuren gegründet. In der Tat setzt sich die Hamas aus den paramilitärischen Kassam-Brigaden, einer politischen Partei und einem Hilfswerk zusammen. Doch dabei handelt es sich durchgehend um eine radikalislamische bzw. eine sunnitisch-islamistische palästinensische Terrororganisation. Ihr primäres Ziel besteht darin, Israel bis zum Auslöschen zu zerschlagen.
Antisemitismus als Beweggrund
In Art. 7 der Charta der Hamas steht: „Die Stunde [der Auferstehung] wird nicht kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen. Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: Muslim, Oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn´, außer der Gharqad-Baum, denn er ist ein Baum der Juden.“
Der Antisemitismus ist ein Krebs, keine Kur. Dieser Krebs wird aber selten frühzeitig entdeckt. Allzu oft fungiert die Kritik an der Politik des Staates Israel als Deckmantel für den Hass gegen jüdische Menschen, ganz egal, ob sie Bürger*innen Israels sind. Dieser Hass wuchert nicht lediglich bei Rechtsextremen, sondern auch bei Angehörigen des linken Spektrums. Besonders eklatant finde ich die Doppelmoral: Wie kann man einerseits aus Solidarität mit den mutigen Iraner*innen „Frauen, Leben, Freiheit!“ rufen und gleichzeitig Hamas unterstützen? Hinweis: Das Mullah-Regime Irans unterstützt Hamas mit durchschnittlich 30 Millionen Euro monatlich.
Dass in Israel, besonders unter Netanjahu, Korruption, militanter Rassismus und ultraorthodoxe Angriffe auf Bürgerrechte innerhalb der eigenen Gesellschaft wüten, lässt mich nicht kalt. Meine Bekannte Mava, die der Likud-Partei bislang nie eine Stimme geschenkt hatte – „I’m not Bibi’s Baby!“ – textete heute früh in Blockschrift ihre Unterstützung des kontroversen Premierministers.
Bei aller Kritik an Likud oder auch an Ultraorthodoxen, gibt es unter den jetzt herrschenden Umständen keine Rechtfertigung dafür, sich mit Israel zu entsolidarisieren. Der Antisemitismus befeuert diesen Krieg gegen Israel. Hamas ist keine Heilbringerin, sondern der Beelzebub. Hamas muss besiegt werden, sonst kämen menschenwürdige Reformen weder in Israel noch in Palästina in Frage.