In Echtzeit quillt gerade eine schreckliche Nachricht nach der anderen aus Gaza, vor allem, was den Zustand der Zivilbevölkerung vor Ort betrifft. Rund zwei Millionen Palästinenser*innen leben in dem knapp 365 Quadratkilometer großen Landstreifen auf engem Raum, während ganze Straßenzüge in Schutt und Asche gelegt werden. In den fast vier Wochen, seitdem Israel den Terrorangriff der Hamas erwidert, sind laut Angaben des von der Hamas kontrollierten 10.000 Menschen in Gaza ums Leben gekommen. Durch die Luftbombardements, Granaten und Mörser der IDF und durch Fehlschläger der Hamas.
Ein besonderer demografischer Aspekt macht die Zustände umso bedenklicher: Etwa die Hälfte der Population Gazas hat das Alter von 18 Jahren noch nicht erreicht. Jugendliche im Krieg sind sowieso kaum davor gefeit, in die Schusslinie zu geraten. Christine Kahmann, Berliner Pressesprecherin des Kinderhilfswerkes UNICEF, bestätigt eindringlich ermahnend: „Die humanitäre Situation [in Gaza] hat einen tödlichen Tiefpunkt erreicht. Charles Elder, Kommunikationschef der UNICEF in Genf, spricht von Gaza als „Friedhof für Kinder“ und von bisher 3.450 minderjährigen Todesopfern. Das sind schreckliche Fakten, die nationalitäts- und konfessionsübergreifend niemanden kalt lassen können.
Während sich das Elend abspielt, werden zudem Falschmeldungen wie Fragmente aus den Einschlagkratern aufgelesen und gierig zusammengestückelt. Schuldzuweisungen über die Zerstörung von Krankenhäusern und Flüchtlingslagern schießen wie Qassam-Raketen und Delilah-Marschflugkörper hin und zurück. Gerade deshalb ist es aber wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass die Wahrheit dem Kriege nicht zum Opfer fällt. Und ein Lügengespenst, das inzwischen herumgeistert, ist die brandgefährliche Behauptung, Israel begehe in Gaza Völkermord.
Rechtliche Lage
Das Wort „Genozid“ wurde 1944 vom polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin geprägt. Federführend für Lemkin war seine Auseinandersetzung mit der Verfolgung und der Vernichtung der Armenier*innen im Osmanischen Reich. Das Verbrechen, auch Armenozid oder Aghet („Katastrophe“) genannt, wurde primär von 1915 bis 1916 begangen. Durch Massaker und Todesmärsche, die vom jungtürkischen Komitee für Einheit und Fortschritt abgesegnet wurden, kamen von 300.000 bis zu anderthalb Millionen Menschen ums Leben. Dass Lemkins Bemühungen, das Verbrechen des Völkermordes als anerkannte Straftat zu etablieren, von der zur gleichen Zeit stattfindenden Shoa überschattet wurden, bei der sechs Millionen jüdische Opfer vergast, erschossen, erhängt und durch Zwangsarbeit zum Tode gequält wurden, zeugt von der Dringlichkeit seiner Bemühungen.
Genozid hat ganz spezifische Tatbestandsmerkmale, die trotz aller Emotionalität nicht immer erfüllt werden. Gemäß Artikel II der 1948 in Kraft getretene Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, worauf sich in der Bundesrepublik § 6 VStGB direkt bezieht, wird Genozid als
„eine der folgenden Handlungen definiert, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
a) das Töten eines Angehörigen der Gruppe;
b) das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe;
c) die absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen;
d) die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung; oder
e) die zwangsweise Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“
Einerseits bedarf es nicht vieler (Todes)opfer, um die Täter*innen des Völkermordes zu überführen, solange die Absicht zur Vernichtung erwiesen werden kann. Andererseits ist es selbst dann kein Völkermord, wenn sämtliche oben erwähnten Tatbestandsmerkmale von a bis e erwiesen werden können, ohne dass die Tatabsicht festgestellt wird.
Die Tatsache, dass sich Israel mit tödlicher Kraft konsequent gegen den Terror wehrt, beinhaltet noch lange keinen Völkermord. Denn die Absicht zum Auslöschen des palästinensischen Volks ist bei Weitem nicht objektiv erkennbar. Entsprechend Artikel 51 der UN-Charta besitzt Israel, wie grundsätzlich jedes andere Land, ein nicht veräußerliches Recht auf Selbstverteidigung. Dass unbeteiligte Zivilist*innen dabei – im sterilen, zynisch anmutenden Fachjargon – zum Kollateralschaden werden, ist in dem dicht besiedelten Gazastreifen unvermeidbar. Prinzipiell wäre es auch nur dann ein Kriegsverbrechen, wenn absichtlich auf sie gezielt wurde oder bei Überschreitung des einengenden Gebotes der Verhältnismäßigkeit. Selbst in dem Fall wäre das an und für sich nicht als Genozid zu ahnden.
Viele Kritiker*innen der Militäraktion der IDF, darunter die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, wollen Israels Einsatz von weißem Phosphor aktuell in Gaza und im Libanon festgestellt haben. Weißer Phosphor, alias Willy Pete, erzeugt bei Kontakt mit der Haut drittgradige Verbrennungen bis auf die Knochen. Das Kampfmittel ist jedoch nicht generell verboten. Wahrhaftig fällt es unter Protokoll III des – von Israel bislang nicht unterzeichneten – Übereinkommens über konventionelle Waffen von 1980. Siehe auch die Zusatzprotokolle von 1977 zu dem Genfer Abkommen von 1949. Diese untersagen zu Recht den gezielten Einsatz von weißem Phosphor gegen Zivilist*innen bzw. bei Luftangriffen gegen feindliche Truppen in zivilen Gebieten. Nicht verboten ist allerdings, das hochentzündliche Brandmittel zur Beleuchtung gegnerischer Stellungen oder alternativ zur Nebelerzeugung zu benutzen. In solchen Situationen fungiert es nicht als chemische Waffe, und in keinerlei Weise kann weißer Phosphor als Massenvernichtungswaffe eingestuft werden.
Täter-Opfer-Umkehr
Natürlich ist nicht jegliche Stimme, die in dem Konflikt in Gaza zum vorzeitigen Waffenstillstand ausruft, darauf bedacht, Israel zugunsten der islamistischen Terrorgruppe Hamas zu benachteiligen. Gleichwohl sind nicht alle, die einen Burgfrieden mit der Hamas ablehnen, als rachedurstige Kriegstreibende zu ächten. Nicht seit dem Holocaust wurden so viele Jüdinnen und Juden an einem Tag ermordet wie am 7. Oktober. Israel wurde böse heimgesucht und etliche Stunden bzw. Tage lang so gut wie lahmgelegt. Das Land muss sich vergewissern, dass die Hamas nie wieder imstande sein kann, solch einen systematischen Massenmord zu bewerkstelligen.
Eine unvoreingenommene Betrachtung der Situation lässt wahrhaftig erahnen, wer Völkermord gegen wen im Sinne hatte. „Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: ,Muslim, Oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn´.“ Der Auszug aus Artikel 7 der Hamas-Charta von 1988 erklärt Israel und jüdischen Menschen überhaupt den Krieg bis auf Vernichtung.
Den israelischen Militäreinsatz in Gaza als Genozid zu bezeichnen, ist nicht nur unsachlich. Es verharmlost tatsächliche Völkermordsfälle von Namibia und Ruanda bis nach Srebrenica und Armenien. Es relativiert den Holocaust und lässt den immanent bedrohliche, eliminatorischen Antisemitismus der Hamas weitgehend außer Acht. Und alldieweil hält die Terrororganisation, neben ca. 200 israelischen und internationalen Entführten als Verhandlungsmasse, zwei Millionen ihrer eigenen Landsleute als Geiseln. Und alle werden als Schutzschilder missbraucht in einem Krieg, den die Hamas jederzeit beenden könnte. Was ist das denn, wenn nicht Täter-Opfer-Umkehr?