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Michaela Dudley „Für Nachrichtenkompetenz gibt es keine Reifeprüfung“  

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Michaela Dudley eine Berliner Queerfeministin mit afroamerikanischen Wurzeln (Quelle: Michaela Dudley)

„Jedweder Mensch hat eine Meinung, manch einer hat sogar eine eigene Meinung“, erkläre ich.

Das ist meine Begrüßung zu Beginn des Workshops. Die Kernaussage beinhaltet im Grunde genommen eine Klage. Eine ziemlich zynische Klage, ich weiß. Diversity für Digital Natives, darum geht es immerhin. Und die Reaktion? Verlegenes Schmunzeln, nachdenkliches Kopfnicken.

„Ist es falsch, noch keine Meinung über etwas zu haben?“, fragt ein Zwölftklässler.

„Überhaupt nicht“, beteuere ich. „Aber dann ist es leicht, einer Falschmeldung auf den Leim zu gehen. Es geschieht leicht, aber es hat schwerwiegende Folgen. Aber wir müssen auch aufpassen, es uns nicht in der eigenen Filterblase bequem einzurichten. Ihr versteht das, oder? Es geht um die Echokammern, in denen wir Zuflucht und Zustimmung suchen.“

„Also ich höre mir gerne beide Seiten an, dann bilde ich mir eine Meinung“, wirft eine Achtzehnjährige ein, die kurz vor dem Abitur steht. „Denn ich kann vorher nicht alles wissen.“

Besuch in der Schulaula mitten in Brandenburg. Dort halte ich einen Workshop für rund 80 Oberstufen-Schüler*innen. Thema: Diversity für Digital Natives. Alle nach eigener Auffassung internetaffin, alle nach eigener Aussage an der Vielfalt interessiert. In ihren Social-Media-Profilen begehen sie seit der Ermordung von George Floyd immer wieder den Online-Protest des Black-Out-Tuesday. Seit den Terroranschlägen in Halle und Hanau setzen sie eifrig Hashtags gegen den Hass. Bei Bedarf können sie Flashmobs for Future in Echtzeit aus dem Boden stampfen. So weit, so gut. Aber inwieweit sind sie dazu imstande, Propaganda und Pseudowissenschaft zum einen zu erkennen und zum anderen zu entlarven?

Die essenziellen Grundlagen für diese Skills können Menschen schon während ihrer Jugend erwerben – aber nicht alle bekommen die Chance dazu. Medienkompetenz ist kein Schulfach, medienkompetente Lehrer*innen oder Eltern also Glückssache. Nicht ausreichende Medienkompetenz betrifft aber nicht nur für Gymnasiast*innen der Gen Z. Nein, sie betrifft auch Millennials, die sogar in den Medien arbeiten, sowie jene bisweilen „Boomer“ genannten Zeitungsleser*innen-Generation, für die das Internet für immer „Neuland“ bleiben wird und aus der sich die besorgte Bürgerschaft zusammensetzt. Für  Nachrichtenkompetenz gibt es keine endgültige Reifeprüfung. Laufend müssen wir alle unsere diesbezüglichen Fähigkeiten verfeinern, verstärken, immer neu erlernen. Denn die Gefahren lauern wie Minen überall.

Rau(h)nächte, Rassismus und religiöse Anfeindungen

Der Rutsch ins Jahr 2023 war hierzulande in der Bundesrepublik nicht gut, sondern wortwörtlich gewaltig. Ausschreitungen ereigneten sich in Essen, Hannover, Berlin. Es geht um Böllerangriffe, Schreckschusswaffengebrauch und andere verabscheuungswürdige Tätlichkeiten gegenüber der Polizei und Rettungskräften.  Es ist nicht das erste Mal, dass sich Rowdies in den Rauhnächten austoben

Doch nun schwelt in den Erinnerungen an die Silvesternacht ein ausgebrannter Reisebus in der „High-Deck-Siedlung“. Dieser Ort liegt im Berliner Brennpunkt Neukölln, auch als „Kiez der Krawalle“ beschrieben. Ebenda beträgt laut Bezirksamt Neukölln der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund 153.151 Personen aus insgesamt 327.073 Bewohner*innen – also nahezu 47 Prozent.

An und für sich schon eine Steilvorlage für erzkonservative Stimmungsmache. Und siehe da: Man stürzte sich mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit auf die Statistik der Berliner Polizei, wobei diese Statistik laufend nach unten korrigiert wurde. Anfangs hieß es, es habe 159 Festgenommene in der Spree-Metropole gegeben, dann 145. Medien berichteten von nur 38 Festgenommenen, auch das eine falsche Zahl. Schlussendlich bestätigte die Polizei 44 erfasste Tatverdächtige, nur eine Frau dabei, und insgesamt 126 Strafanzeigen. Neukölln war übrigens nicht der einzige Schwerpunkt der Gewalt in der Silvesternacht – und die gesetzeswidrigen „Sieg-Heil-Rufe“, die in derselben Nacht in Sachsen bierselig ertönten, wurden irgendwie nicht aufgegriffen.

Für den Boulevard und die besorgte Bürgerschaft lautete die entscheidende Frage: „Wie viele Ausländer waren es in Neukölln?“ Gemäß der Polizei sei fast die Hälfte der Festgenommenen minderjährig. 26 der Beschuldigten besäßen einen deutschen Pass, davon zehn die doppelte Staatsbürgerschaft und 16 nur einen deutschen Pass. Die restlichen 18 hätten eine rein ausländische Staatsangehörigkeit, viele von ihnen kamen aus Afghanistan und Syrien. Ein gefundenes Fressen für Propaganda des rechten Randes, ein besorgniserregender Anlass für Rechteeinschränkungen und religiöse Antipathien.

Kaum lichtete sich der Rauch der Rauhnächte, da machte sich die Vernebelung der Gehirne breit. In Berlin war schon wieder Wahlkampf, die heiße Phase fiel in die Mitte der Winterkälte. Es wurde parteiübergreifend von „Integrationsverweigerern“ gesprochen. Im Namen der CDU-Fraktion forderte Kai Wegner den Senat auf, die Vornamen der Festgenommenen zu veröffentlichen. Ins selbe Horn tutete die AfD, die auch noch Angaben über die „Glaubensrichtung“ dieser Personen haben wollte. Angesichts der deutschen Geschichte wäre das ein No-Go, jedoch kein Novum. Zu allem Überfluss brachte Friedrich Merz das P-Wort über die Lippen. Und ich dachte, ein Pascha wäre derjenige, der als christdemokratischer Bundestagsabgeordneter 1997 gegen die Bestrafung der Vergewaltigung in der Ehe stimmte.

 Lügen, aber Hauptsache viral

Die politische Panikmache ist Programm und hat System. Dazu gehört der Missbrauch brisanter sozialer Konflikte, um eine Agenda voranzutreiben. Ein Gewaltvideo kursiert, in dem aufgebrachte Randalierende lauter Steine durch die offene Tür eines Rettungswagens werfen. Ein NPD-Politiker greift den Clip auf, teilt ihn unter der Überschrift „Berlin Neukölln in der Silvesternacht“ und schreibt dazu: „Diese Leute gehören in einen Sonderzug – aber nicht nach Pankow, sondern schnellstens zurück in ihre Heimatländer.“ Es sollte den wahren Angriff auf einen Rettungswagen in der Neuköllner Silbersteinstraße belegen, doch dieses Video stammt aus den Straßen von Hongkong aus dem Jahre 2019. Das wurde festgestellt, als das Video schon viral gegangen war und die Gemüter längst erhitzt hatte.

„BITTE ANSEHEN UND TEILEN!!“, so schrieb in Großbuchstaben eine Facebook-Userin, die nach den nicht zu bagatellisierenden sexuellen Übergriffe der „Alt-Kölner“ Silvesternacht anno 2015 ebenfalls ein kontroverses Video hochgeladen hatte. Dieses beweise „wie ein Mob aus Asylschmarozern hilflose Mädchen bedrängt und begrapscht“, so fügte sie ohne Autokorrektur hinzu. Allerdings war dieses in kurzer Zeit millionenfach abgerufene Video ein Fake, durch das Öl ins Feuer gegossen wurde. Eine gewisse feministische Ex-Ikone aus dem Tante-Emma-Laden thematisierte die vermeintliche Herkunft und Religion der Tatverdächtigen, die als meist nordafrikanischen Ursprungs beschrieben wurden – was dahingegen nicht etwa bei sexueller Gewalt im Karneval oder beim Oktoberfest üblicherweise nicht geschieht. Die rassistische Aufladung von Diskursen zu Gewalt funktioniert für Rassist*innen nach dem Motto: Bestenfalls bleibt die rassistische Zuschreibung im Gedächtnis der Menschen – und die Aufklärung, wie erlogen oder unbelegbar die Zusammenhänge sind, bekommen sie gar nicht mit.

Vorsicht vor rassistischen Chiffren – kennen Sie „13/52“ und „13/90“?

In den USA dienen die banal wirkenden Ziffernfolgen „13/52“ und „13/90“ zur rassistischen Hetze gegen Schwarze Menschen. Die Anti-Defamation League (ADL), jene renommierte amerikanische Organisation, die gegen die Diskriminierung und die Diffamierung von Jüdinnen*Juden eintritt, erklärt in einem solidarischen Schulterschluss mit der Schwarzen Community: „Die Zifferfolgen 13/52 und 13/90 sind rassistische Zahlencodes, die von weißen Rassisten verwendet werden, um Afroamerikaner als wild und kriminell darzustellen.“

Dabei bezieht sich die Zahl 13 auf den angeblichen Prozentsatz der US-Bevölkerung, der afroamerikanisch ist. Die Zahl 52 bezieht sich auf den vermeintlichen Prozentsatz aller in den USA geschehenen Morde, die von Afroamerikanern begangen worden seien. Also soll die Zahl darauf hinweisen: 13 Prozent der Amerikaner, nämlich Afroamerikaner, begeht 52 Prozent der Morde in den USA (manche Anhänger*innen der “weißen Vorherrschaft (white supremacy) sprechen auch von 50 Prozent). Die Zahl 90 bezieht sich auf den Prozentsatz der angeblich von Afroamerikanern begangenen Gewaltverbrechen gegen weiße Amerikaner*innen. Die Zahlen stellen Behauptungen auf, die im Alltag kaum zu verifizieren oder zu falsifizieren sind. Als Quelle genannt werden Untersuchunge von 1994 (!), die die Aussagen nicht einmal enthalten. Dazu wird ein antisemitischer Verschwörungmythos erzählt, der kein bisschen Wahrheit enthält: Jüdinnen*Juden seien dafür verantwortlich, dass Schwarze nach Amerika gekommen seien, also auch verantwortlich für deren Gewalt.

Ähnlich ist es mit der Behauptung rechtsalternativer Medien online, dass 81 Prozent der weißen Mordopfer in den USA von Schwarzen getötet würden. Diese Behauptung ist schlicht und ergreifend falsch. Der Faktencheck: Daten des US-Justizministeriums – auch jene, die während der Zeit der erzkonservativen Trump-Regierung erfasst und analysiert wurden – zeigen im Gegenteil, dass mehr als 80 Prozent der weißen Mordopfer von Weißen selbst getötet werden! Eine weitere empfehlenswerte Quelle ist dieser Artikel der Nachrichtenagentur Reuters. Doch damit nicht genug: Ein weiterer Bericht des US-Justizministeriums, der zwischen 1980 und 2008 in den USA Mordfälle analysiert, demonstriert, dass währenddessen „die meisten Morde intraracial waren“, wobei 84 Prozent der weißen Opfer von Weißen und 93 Prozent der Schwarzen Opfer von Schwarzen getötet wurden.

Hier zeigt sich also: Faktenchecks sind wichtig, wenn wir urteilen wollen, ob Inhalte Propaganda verbreiten oder in der Realität begründet sind. Menschen verbreiten aus politischer Ideologie Falscherzählungen. Gerade deswegen obliegt es uns, mehr Medienkompetenz an den Tag legen, um dies erkennen zu können.

Wenn Menschen rassistische Desinformationen teilen, sind sie meist in erster Linie nicht darauf bedacht, Menschen aus dem gesellschaftlichen “Mainstream” oder sogar aus dem linken Spektrum zu bekehren. Nein, das primäre Ziel besteht darin, Gegner*innen sowie Unentschiedene abzulenken, zu beschäftigen, zu demoralisieren und zu verunsichern. So soll Politikverdrossenheit verbreitet werden, um das Voranschreiten progressiver Ansätze zu entschleunigen.

Bei Verdacht auf Falschinformationen müssen wir stets die Authentizität und die Autorität der Quellen unter die Lupen nehmen. Emotional zu argumentieren ist an und für sich nicht verwerflich – das tun wir alle, wenn wir erregt sind. Aber was steckt hinter den Emotionen an Empirie? An Empathie? Ist der Zorn des Wutbürgers begründet? Ist er daran interessiert, die Kohäsion, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken? Oder geht es ums Zerstören? Geht es darum, Schuldige nach alten Reflexen ausfindig zu machen? Oder geht es darum, strukturelle Änderungen reflektiert herbeizuführen, die Inklusion und Gleichberechtigung fördern?

Als ich mich von den Schüler*innen verabschiede, ist es mir gelungen, viele von ihnen zum Staunen und Nachdenken zu bringen – und einige ihrer Lehrkräfte auch.

„Die Nazis hätten das Internet nicht erzürnt verboten, sondern enthusiastisch verbreitet“, erkläre ich. „Das Internet hätte den Film und den Volksempfänger, die sogenannte Goebbels-Schnauze, in den Schatten gestellt. Hetze ist davon abhängig, massenhaft ausgestrahlt zu werden.“

Die Basis für eine robuste, rechtsstaatliche Demokratie ist eine sachlich informierte, sozial engagierte Bevölkerung. Allerdings reicht ein Internetzugang alleine nicht aus, um uns als Gesellschaft zu schützen.

Dieser Text entstand in Kooperation mit dem Projekt „Get The Trolls Out“

Michaela Dudley (Jg. 1961), eine Berliner Queerfeministin mit afroamerikanischen Wurzeln, ist Journalistin, Juristin (Juris Dr. US), Kabarettistin und „Blacktivistin“. Sie ist zudem Autorin des 2022 erschienenen Buches „Race Relations: Essays über Rassismus“. Ihr Leitansatz lautet: „Die Entmenschlichung fängt mit dem Wort an, die Emanzipierung aber auch.“

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