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Michaela Dudley Gefährliche Gegenwartsfälschung im Hamas-Infokrieg

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(Quelle: Unsplash)

Mit der „Operation al-Aqsa-Flut“ startete die Hamas am 7. Oktober ihren Angriffskrieg gegen Israel. Die Aktion erfolgte zum jüdischen Festtag Simchat Tora und zum 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges. Mohammed Deif, Kommandeur der primär von Gaza aus attackierenden Qassam-Brigaden, rief im Radio zum „Tag der größten Schlacht“ auf. Mehrere Tausend Raketen wurde abgefeuert, mit motorisierten Gleitschirmen landeten die ersten Angreifer. Binnen kurzem wurden rund 1.500 Menschen an mindestens 20 verschiedenen Standorten gemeuchelt.

Alleine beim Psytrance-Festival Supernova wurden mehr als 260 Besucher*innen niedergemäht. Dabei verweilten die radikalislamistischen Terroristen bis zu neun, sogar zwölf Stunden lang teils unangefochten in Israel, vergewaltigten und verschleppten Frauen und Kinder. Drohnen der Hamas warfen Sprengsätze ab und setzten israelische Kampfpanzer außer Gefecht. Es war der blutigste Mordanschlag <gegen jüdische Menschen seit der Shoa. Seit 78 Jahren.

Militärisch betrachtet – und dieser hinterlistige Terrorangriff war generalstabsmäßig durchgeplant – wurde die regionale Supermacht Israel also kalt erwischt. Allerdings hatte es im Vorfeld des Überfalles glaubwürdige Indizien einer drohenden, großangelegten Attacke gegeben, sowohl von der IDF und womöglich auch von anderen Geheimdiensten. Sollte sich herausstellen, dass Benjamin Netanjahu wirklich informiert wurde, wäre diese Faktenlage ein gefundenes Fressen für die Urheber*innen diverser antisemitischer Verschwörungserzählungen.

Der Kampf um die Deutungshoheit

Denn Israel hat einen weiteren folgenschweren Rückschlag erlitten: Es ist dem Land nicht gelungen, die Kontrolle über Narrative über den Krieg zu gewinnen. Eigentlich wird in Israel der Begriff Hasbará großgeschrieben. Damit ist die Öffentlichkeitsarbeit der israelischen Regierung gemeint, unter anderem im Ministerium für strategische Angelegenheiten, um eine möglichst positive Berichterstattung über Israel zu erreichen. In der Praxis bedeutet es, die in der Presse konstant versuchte, oft antisemitisch motivierte Delegitimierung des Staates zu widerlegen bzw. möglichst prophylaktisch zu unterbinden: Analysen gegen Agitprop.

Diesmal fand allerdings der Angriff der Hamas auch online statt. Die schwerbewaffneten Terroristen trugen Bodycams und filmten stolz ihre Bluttaten, die anderentags vom Hamas-Sender al-Aqsa TV ausgestrahlt wurden. Plötzlich wurden die sozialen Medien von der Bilderflut überschwemmt, die Israel als abgeschlagen darstellte. Die IDF dementiert zwar Gerüchte, wonach die Hamas auch einen paralysierenden Cyberangriff auf militärische Systeme verübte, aber zumindest online und im Fernsehen hat die Hamas eindeutig die Deutungshoheit für sich reklamiert. Ein böses Bravourstück.

Obwohl die islamistische Terrororganisation sich dadurch vor aller Welt schwer belastete, was das Begehen gravierender Kriegsverbrechen anbelangt, schuf sie ein romantisierendes Narrativ, in dem Enthauptungen und Leichenschändungen legitime Methoden eines „Freiheitskampfes“ werden.

Der Entzug der Empathie

Die Welt scheint ohnehin nicht dazu bereit, Mitgefühl mit Israel zu zeigen. Bis heute gelingt weder der UNO-Vollversammlung noch ihrem Sicherheitsrat eine einmütige Verurteilung des Hamas-Terrorangriffes. Stattdessen wird Israel wie einen Wiederholungstäter auf Bewährung behandelt und auf Schritt und Tritt verfolgt, falls er es sich anmaßt, sich der elektronischen Fußfessel zu entledigen.

Prozentual wurden am 07. Oktober 0.02 Prozent der israelischen Bevölkerung von der Hamas hingerichtet. Auf Deutschland umgerechnet wären das 16.000 ermordete Bundesbürger*innen an einem einzelnen Tag. Unter den ermordeten Israelis waren erwiesenermaßen auch zahlreiche Menschen, die nicht nur gegen Netanjahu, seine konservativen Likudniks und die teils rechtsextremen Koalitionspartner auf die Barrikaden gegangen waren, sondern auch ausdrücklich für eine aus ihrer Sicht menschenwürdigere Behandlung der Palästinenser*innen demonstriert hatten.  Doch anstatt Schweigeminuten gibt es „Ja, aber“. Anstelle von Kerzenmahnwachen finden Fackelzüge statt, bei denen munter, geradezu schadenfroh „From the river to the sea!“ skandiert wird.

„Das Problem ist, Israel strebt an, ein globales Apartheid-Regime einzurichten“, behauptete ein junger Mann neulich in der U7. Biodeutscher Berliner, grüne Augen, dunkelblondes Haar. Dazu trägt er eine Kufiya, und ich gehe mit ihm gewissermaßen auf Tuchfühlung, so schwer erträglich es auch ist.

Jüdische Menschen würden immer eine Minderheit bilden, resümiert er, aber sie sollten „nicht ewig unter Artenschutz stehen“. Er, der selbst-identifizierte Master-Student in Geisteswissenschaften, sei „ohne Scheiß gegen die AfD und die anderen Nazis“. Aber es gebe seines Erachtens auch einen israelischen Faschismus, der Völkermord im großen Stil begehe. Amnesty International habe alles belegt. „Tausende Unschuldige in Gaza kommen jeden Abend ums Leben, und wir sollen uns tagelang wegen Israelis die Augen ausheulen? Wer weiß, ob die DNA stimmt? Die begraben ihre Leute eh blitzschnell, und jetzt muss es um die Kinder in Palästina gehen. Palästina muss befreit werden!“

„Ja, aus dem Todesgriffe der Hamas befreit“, erwidere ich. „Was die Hamas von der Unversehrtheit der palästinensischer Jugend hält, erkennt man daran, dass sie stets jüngere Selbstmordattentäter*innen rekrutiert.“

„Quatsch, das ist zionistische Propaganda“, hält er entgegen.

Amnesty International bestätigt es“, werfe ich zurück, und steige tief seufzend am Südstern aus. „Shalom!“

Fremdschämen ist anstrengend. Der junge Mann ist allerdings kein Einzelfall. Prototyp: „Antisemitifa“. Er ist vielmehr, ohne es wirklich zu begreifen, ebenfalls zum Opfer des 7. Oktobers geworden. Denn er fungiert als Rädchen im Getriebe des radikalen Islams. Genau das ist das Ziel der Hamas-Medienoffensive. Während vor einem Jahrzehnt ISIS mit mäßigem, aber immerhin besorgniserregendem Erfolg versucht hat, desillusionierte Muslim*innen in der Diaspora als Kanonenfutter zu gewinnen, weitet die Hamas ihre Zielgruppe auf privilegierte junge Menschen aus, die nicht einmal zu irgendwelchen heimlichen Trainingcamps reisen müssen, um in der jeweiligen Heimat als islamistische Informationskrieger zu agieren.

Gen Z gegen Genozid, so zwischen Klima-Demos und Pride-Protesten. Eine schwedische Öko-Aktivistin übernimmt die Doppelrolle in dem grimmigen Märchen Hamas und Greta, ohne dass ihr Personenkult an Verehrer*innen einbüßen muss. Pali-Tücher gehen wie warme Semmeln weg. Und jüdische Mitbürger*innen, knapp eine Woche vor dem 9. November, spüren den schmerzhaften Entzug der Empathie.

Der 7. Oktober, dank der Wirksamkeit des Hamas-Infokrieges, hat hier in Deutschland nachhaltig demokratiegefährdende Konsequenzen zur Folge. Nun, allerspätestens jetzt müsste es klar sein, dass man sich nicht mehr auf eine geschlossene Linke als Brandmauer gegen den Antisemitismus verlassen kann. Viele vor allem junge Menschen, die auf die Propaganda der Hamas reinfallen, teilen zwar gerne gegen die AfD aus, teilen aber gleichzeitig den Judenhass, der in der bundesrepublikanischen Gesellschaft so tief verwurzelt ist. Auch sie fühlen sich frei, ihre antisemitischen Antipathien wie eine Monstranz vor sich her zu tragen.

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