Mother, mother,
There’s too many of you crying,
Brother, brother, brother,
There’s far too many of you dying.(Benson / Cleveland / Gaye)
Stell dir vor, dein Sohn wird nachts von mindestens fünf schwer bewaffneten Männer aus seinem Auto gerissen. Sie greifen ihn mehrmals mit Elektropistolen an, jeder Schuss entspricht 50.000 Volt. Doch damit nicht genug: Sie schlagen auf den Jungen mit Knüppeln ein und treten mit Füßen nach. Genau genommen ist der Junge schon erwachsen, bereits 29 Jahre alt und sogar zwei Meter groß. Doch er bringt knapp 65 Kilo auf die Waage. Der einst unbekümmerte Skateboarder und Hobbyfotograf ist deshalb so schmächtig, weil er an Morbus Crohn chronisch leidet. Trotz seines körperlichen Zustandes steht er bei Vollzeitbeschäftigung in Lohn und Brot. Es ist halb neun abends, nun sollte er den Feierabend genießen. Aber anstatt dessen rennt er um sein nacktes Leben, kaum dass es ihm gelungen war, kurzzeitig aus der Umklammerung der Meute herauszubrechen.
Unnachgiebig rücken die Angreifer heran. Wenige Meter vor deiner Haustür entfernt kommt dein Sohn zu Fall. Es ist der 7. Januar 2023. Und stell dir vor, er, dein Fleisch und Blut, schreit verzweifelt nach dir: „Mama! Mama!“ Allerdings ist er so erschöpft, dass sein Rufen zu einem Räuspern wird, das nur seine sich auf ihn stürzenden. Du kannst nichts machen. Denn du kannst ihn gar nicht akustisch wahrnehmen. Hättest du ihn gehört, wärest du sicherlich geneigt gewesen, die Polizei anzurufen. Aber wozu eigentlich? Seine Widersacher sind Polizisten. Allesamt uniformierte Polizisten. Du kannst ja gar nichts machen, außer seine wie eine Brezel verbogene Leiche drei Tage später im Krankenhaus zu identifizieren. So erging es RowVaughn Wells, als sie den blau schillernden Körper ihres Sohnes heulend betrachtete.
Tyre Nichols, der Sohn in dieser wahren Erzählung, segnete das Zeitliche in Memphis, Tennessee. In eben der Stadt, in der Elvis Presleys Anwesen Graceland nun in einer übrigens vorwiegend Schwarzen Umgebung liegt. Memphis, in ebenjener Stadt, in der Martin Luther King 1968 erschossen wurde.
Die Todesursachen bei Tyre? Nierenversagen, Herzstillstand, ein Genickbruch – weil er Schwarz war. Offenbar hatten die Beamten, zu der Zeit Mitglieder einer Spezialeinheit, keinen rechtlichen Anlass dafür, Tyre, den nach Hause fahrenden Vater eines kleinen Kindes, so brutal aus dem Verkehr zu ziehen. Inzwischen wurden fünf der beteiligten Polizisten gefeuert und wegen Mordes angeklagt. Gegen Kaution laufen sie vorläufig auf freiem Fuß. Hauptsächlich waren sie durch ihre eigenen Bodycams überführt worden, jene Körperkameras, die sie bei der Hetzjagd aus Hochmut nicht ausgeschaltet haben.
Dass die fünf angeklagten Ex-Cops allesamt Schwarz sind, lindert den Schmerz wohl kaum. Black-on-Black-Verbrechen, die in blauer Uniform begangen werden, dienen so oder so der White Supremacy. Denn die Art und Weise, auf die der Schwarze Körper überwacht und unterdrückt, degradiert und dämonisiert wird, hat sich seit der Ära der Sklavenpatrouillen nicht geändert.
Ortswechsel Ruhrpott. Mitten im Black History Month, einen Tag nach Valentinstag. Buchstäblich unter dem Dortmunder U herrscht Unruhe der eher fröhlichen Art. Borussia hat Chelsea an diesem kalten Februarabend im Champions-League-Spiel besiegt, und Tausende BVB-Anhänger*innen ziehen bierselig durch die Innenstadt. Mit masochistischen Neigungen gehe ich wieder in den Journalistin-Modus. Es ist kurz vor Mitternacht, als ich Fans sporadisch nach einem gewissen fußballbegeisterten Jungen fragen: Stirnrunzeln, nachdenklich gekräuselte Lippen, langsames Kopfschütteln. „Ach ja, furchtbar. Krass, was dem passiert ist. Vielleicht hätte er den Bullen gehorchen sollen, ne? Traurig, echt der Hammer“, so die typische Reaktion.
Es geht um Mouhamed Lamine Dramé, den 16-jährigen unbegleiteten Flüchtling aus dem Senegal. Muttersprachen Französisch und Wolof. Im August 2022 befand er sich in einer seelischen Ausnahmesituation. Auf eigenen Wunsch hatte er eine kurze Zeit in der Psychiatrie in Dortmund-Aplerbeck verbracht, dann ging es in einer Jugendwohngruppe der St. Elisabeth Jugendhilfe an der St. Antonius Kirche in der Dortmunder Nordstadt. Ebendort hantierte er mit einem Messer und äußerte Suizidabsichten. Die herbeigeeilte Polizei, rund ein Dutzend Mann stark, kam ihm in der Hinsicht entgegen. Nach dem Scheitern flüchtiger Verständigungsversuchen wurde Mouhamed in kurzer Aufeinanderfolge mit Tränengas und Tasern angegriffen und dann mit sechs Schüssen aus einer Maschinenpistole erschossen. Ähnlich wie bei der Tötung von Tyre Nichols in Memphis sind mittlerweile fünf beteiligte Beamten in Dortmund angeklagt. Inzwischen ist Mouhamed an seinem senegalesischen Geburtsort Ndiaffate beerdigt, und seine Mutter trauert.
Nach der Ermordung von George Floyd, der in Schnappatmung unter dem Knie des Polizeisergeants Derek Chauvin vergebens nach seiner Mutter rief, hätten wir gehofft, der Spuk rassistischer Gewalt wäre vorbei. Doch das hatten viele bereits 1955 gedacht, als Mamie Till-Mobley darauf bestand, den Sarg mit dem Leichnam ihres Sohnes Emmett Till vor der Bestattung in Chicago offenzulassen. Emmett, gerade 14 Jahre alt, war in Mississippi von weiße Männern grausam gelyncht und entstellt worden, nachdem eine weiße Kassiererin ihn beschuldigt hatte, sie angepfiffen zu haben. Mamies Begründung: „Die Welt soll sehen, was sie meinem Baby angetan haben.“
„Mutter, Mutter, zu viele von euch weinen“, so Marvin Gaye, „Brüder, Brüder, viel zu viele von euch sterben“. Das Lied, das Gaye gemeinsam mit Renaldo Benson und Al Cleveland schrieb, bringt es auf den Punkt. Ich war zehn Jahre alt, als der pulsierende Protestsong 1971 veröffentlicht wurde, zwischen den Watts-Riots und dem Vietnamkrieg. Das seelenvolle Lamentieren des Sopransaxophons am Anfang erzeugt nach wie vor bei mir Gänsehaut. Soul pur. Die wehleidige Wahrheit von damals hat über die Dekaden hinweg zudem nichts an seiner Aktualität eingebüßt. Laut der NGO Mapping Police Violence werden Schwarze rund dreimal so häufig von Polizisten erschossen wie Weiße. Es sind keine Hirngespenster, es sind historische, belegte Gegebenheiten. Black lives matter? Schwarzen Leichen stapeln sich auf.
Michaela Dudley (Jg. 1961), eine Berliner Queerfeministin mit afroamerikanischen Wurzeln, ist Journalistin, Juristin (Juris Dr. US), Kabarettistin und „Blacktivistin“. Sie ist zudem Autorin des 2022 erschienenen Buches „Race Relations: Essays über Rassismus“. Ihr Leitansatz lautet: „Die Entmenschlichung fängt mit dem Wort an, die Emanzipierung aber auch.“