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Migrationspolitik in Sachsen So schaffen wir das nicht

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Sächsische Idylle im "Dorf der Jugend" in Grimma.
Sächsische Idylle im "Dorf der Jugend" in Grimma. (Quelle: Hannah Franke)

In der „Infostelle Asyl & Bildung“ in Grimma schmeckt der Kaffee besonders stark. Das ist verständlich: Denn mit sehr begrenzten Mitteln hat der Verein im ländlichen Sachsen eine Menge zu tun. Heute findet eine offene Beratungsstunde statt. Dazu kommen meist junge geflüchtete Menschen zwischen 14 und 27 Jahren. Anliegen sind hauptsächlich Asylrecht, Aufenthaltsperspektiven, Bildungschancen, (psychische) Gesundheit oder der Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt. Die Infostelle ist ein Kooperationsprojekt mit der „Refugee Law Clinic Leipzig“ (RLCL), einer ehrenamtlichen Initiative, die Menschen berät, die in Deutschland Asyl ersuchen und sich noch im Asylverfahren befinden sowie Personen mit Duldung. Die Infostelle wird gefördert durch die Antonio Amadeu Stiftung. Das Büro befindet sich  im „Dorf der Jugend“, einem seit 2014 bestehenden Jugendprojekt in Grimma (vgl. eine Reportage von Belltower.News)

In Grimma und allgemein im Landkreis Leipzig gehören Nazis leider zum Alltag. Sie sind präsent auf Festen, Konzerten oder in den Sportvereinen. Die AfD erreichte hier 2019 bei den Landtagswahlen 31,4 Prozent und damit die meisten Stimmen (4535). Das „Dorf der Jugend“ will dem etwas entgegensetzten und positive Anreize und Projekte für junge Menschen in einem diskriminierungssensiblen Raum schaffen. Vom Skatepark, einem Gemüsegarten, einer Fahrradwerkstatt bis hin zu einem Festival verwirklichen junge Menschen dort ihre eigenen Ideen. Viele der jungen Leute, die in dem „Dorf der Jugend“ engagiert sind, leben nicht mehr in Grimma, sondern in Leipzig. Die Kleinstadt bietet leider nicht viele Anreize für junge Menschen, was das Jugendprojekt umso wichtiger macht.

Auch für die jungen Geflüchteten, die unter anderem in den naheliegenden Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, bietet Grimma nicht viel. Dennoch müssen sie bleiben, solange sie keine feste Arbeit oder Ausbildung haben, die einen Umzug nötig machen würde. Bis es dazu kommt, ist es ein langer Weg, der viele bürokratische Schritte mit sich bringt.

Einer, dem noch viele dieser Schritte bevorstehen, ist der 18-jährige Aliou. Vor zwei Jahren ist Aliou aus Guinea geflohen und wohnt jetzt in einer Unterkunft für Geflüchtete in der Nähe von Grimma. Aktuell macht er einen berufsqualifizierenden Hauptschulabschluss, um im kommenden Jahr eine Ausbildung als Klempner zu beginnen kann. Dadurch wird er die Möglichkeit haben, zu arbeiten, nach Leipzig zu ziehen und ein sicheres Bleiberecht zu erhalten. Alious langfristiges Ziel ist es, über den zweiten Bildungsweg Abitur zu machen und Medizin zu studieren. Aliou wirkt für sein Alter sehr abgeklärt und sicher in dem, was er will. Seinen Bildungsplan hat er sich zusammen mit der Infostelle erarbeitet, die ihn über seine Rechte und Möglichkeiten aufgeklärt haben. Ob er seine Ziele erreicht, hängt auch von der Ausländerbehörde ab, die am Ende über seinen Wohnort und seinen Aufenthaltstitel entscheidet. 

Ein anderes Beispiel ist der 26-jährige Hamed* aus dem Iran, der seit 2016 in Deutschland ist und die Infostelle als Übersetzer in Farsi und Dari unterstützt. Auch Hamed möchte schon seit geraumer Zeit nach Leipzig ziehen. Die Infostelle unterstützte ihn bei einer Klage für einen Wohnortwechsel vor dem Verwaltungsgericht, leider ohne Erfolg. Sein Ziel ist es, sein im Iran begonnenes Informatikstudium fortzusetzen. Dafür durchläuft er jetzt Deutschkurse, um das benötigte C1-Niveau zu erreichen. Plätze in den Kursen zu bekommen, ist gerade in Kleinstädten und Dörfern eine Herausforderung. Hamed sagt, dass viele Migrantin*innen einfach nicht wissen, was sie für Rechte haben und wie sie Bildungsmöglichkeiten wahrnehmen. Die Behörden sind wenig hilfreich, da sie vermutlich auch aufgrund von Kapazitäten keine Beratung, sondern nur strikt Gesetzte und Regeln anwenden, ohne auf Alternativen und Möglichkeiten aufmerksam zu machen.

Hamed* und Hannah. Beide engagieren sich für die „Infostelle Asyl & Bildung“ (Quelle: Juri Mertens)

Die prekäre Situation hat System

Die Beispiele zeigen, dass viele geflüchtete Menschen Bildungsambitionen haben und diese mit vorhandener und kompetenter Beratung auch umsetzen können. Allerdings steht die reale Umsetzung auch ständig auf der Kippe, da in vielen Fällen die Abschiebung droht. Angebote von Wohlfahrtsverbände, welche Beratungen für geflüchtete Menschen unter fachlich mindestens fraglichen Standards anbieten müssen (wie z.B. hinsichtlich des Betreuungsschlüssels), werden immer weniger. So ist ab 2021 die sogenannte „Flüchtlingssozialarbeit“ im kompletten Landkreis Leipzig unter Trägerschaft der Ausländerbehörde. Eine unabhängige Beratung ist dort nicht gewährleistet, wie die Mitarbeiter*innen der Infostelle Asyl & Bildung” befürchten. 

Vereine und Institutionen, die im ländlichen Raum langfristig und unabhängig Geflüchtete unterstützen, gibt es wenige. Ein herausragendes Beispiel ist hier der Verein „Bon Courage“ im benachbarten Borna. Dieser unterstützt geflüchtete Menschen seit 2009 und bietet neben vielfältigen Unterstützungsangeboten für Menschen mit Fluchtbiografie heute hauptsächlich asyl- und aufenthaltsspezifische Beratung an. Die Kapazitäten für den gesamten Landkreis hat der ebenfalls stark ausgelastete Verein in Borna allerdings nicht. 

Der Vorteil der nicht-staatlichen Beratung ist, dass sie sich meistens mit den Menschen solidarisieren. Das bedeutet, dass es im Sinne der Beratenden ist, den Klient*innen eine Bleibeperspektive mit gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen und die Menschen zu empowern. Dass die jungen Menschen gekommen sind, um zu bleiben und sich hier eine Zukunft aufzubauen, wird von den Behörden meist nicht unterstützt. Stattdessen bilden sogenannten „Aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ (Abschiebungen) oder Sanktionen einen Tätigkeitsschwerpunkt der Ausländerbehörden.

Salomon ist einer von drei Mitarbeiter*innen bei der „Infostelle Asyl & Bildung“. Seiner Meinung nach wird die prekäre Situation der Geflüchteten zumindest billigend in Kauf genommen: „Geflüchtete haben besonders im ländlichen Raum kaum eine Lobby. Themen wie Lebensbedingungen in Sammelunterkünften, Rassismuserfahrungen oder beispielsweise der zu Beginn des Jahres neu eingeführten Duldungstyp nach § 60b des Aufenthaltsgesetzes, der ohnehin prekäre Lebensbedingungen weiter verschlechtert hat, bekommen kaum Öffentlichkeit. Davon betroffene Menschen dürfen in der Regel den Landkreis, in dem sie untergebracht sind, nicht ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde verlassen. Hinzu kommt Arbeitsverbot, gekürzt Leistungen und Umzugsverbot. Das Leben soll so schlimm sein, dass sie „freiwillig“ Deutschland verlassen oder isoliert auf ihre Abschiebungen warten.“ Manche Klient*innen von Salomon erhielten monatlich lediglich 160 Euro Sozialhilfe, so Salomon weiter. „Davon muss der gesamte Bedarf außer der Unterkunft bezahlt werden. Genannt wurde dies in einer Fortbildung, die ich besuchte, sehr treffend: ‚Bett, Brot, Seife‘. Es reicht definitiv nicht für anwaltliche Vertretung, öffentliche Verkehrsmittel oder Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben.“

Die prekäre Situation betrifft zudem auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen selbst. Das sieht man auch am Beispiel der „Infostelle Asyl & Bildung“: Momentan teilen sich für die direkte Beratungsarbeit zwei Personen eine halbe Stelle (insgesamt 20 Wochenstunden). Die reale Arbeitszeit beträgt meist das doppelte, wenn nicht sogar mehr (An- und Abfahrt nicht inbegriffen). Die Kapazitäten reichen bei weitem nicht aus, um alle und besonders die schwierigen Fälle, wie z.B. Ratsuchende mit Gewalterfahrungen oder Fragen zu Familiennachzug, zu bearbeiten. Hinzu kommt, dass die Mitarbeiter*innen der Infostelle sich gerade mit den jugendlichen Ratsuchenden die Zeit nehmen, über Themen zu sprechen, die nicht ausländerrechtliche Fragen betreffen: Wie läuft es in der Schule, gibt es Probleme in der Partner*innenschaft oder mit den Eltern? Hinzu kommt, dass nach erfolgreicher Vertrauensarbeit in der Beratung auch Gespräche über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Politik entstehen. 

Dass neue Klienten*innen sich wie von selbst über Mundpropaganda finden und keine Werbung gemacht werden muss, versteht sich schon von selbst. Hannah, ebenfalls Mitarbeiterin bei der Infostelle, fordert ein erhöhtes Angebot solidarischer Beratung: „Es braucht überall unabhängige, menschenrechtsbasierte und nachhaltige Beratungsstelle, damit die Menschen ihre Rechte einfordern können. Außerdem ist es uns ein Anliegen, dass Betroffene des Asylregimes Solidarität erfahren. Ich wünsche mir, dass sie bei uns merken, dass nicht jede Person damit einverstanden ist, unter welchen Bedingungen sie vielerorts in Deutschland leben müssen.“

Es wird deutlich, dass solidarische und soziale Arbeit mal wieder einer sich selbst ausbeutenden Zivilgesellschaft überlassen werden – und das seit Jahren schon mit System. Fünf Jahre nach Angela Merkels „Wir schaffen das!“-Politik ist klar, dass die 2015 für einen kurzen Moment aufglimmende „Willkommenskultur“ sich schon lange in einen qualmenden Haufen Asche verwandelt hat. Das gute an der aktuellen Covid-19-Pandemie ist, dass allen Menschen überaus deutlich gezeigt wird, wozu die Politik in der Lage sein kann, wenn sie muss – oder will. Ein bekanntes deutsches Flugunternehmen wird im Zuge der Krise mit einem milliardenschweren Rettungspaket vor dem Ruin bewahrt (vgl. tagesschau). Oder anders ausgedrückt: „Bett, Brot und Seife“ für Aktienunternehmen.

 

Weiter Informationen und die Möglichkeit zu spenden, finden Sie hier:

„Dorf der Jugend e.V.“ https://dorfderjugend.de/

„Refugee Law Clinic e.V.“ https://rlcl.de/

„Infostelle Asyl & Bildung“ https://dorfderjugend.de/arbeitsgruppen-und-teams/stay/

„Bon Courage e.V.“ https://boncourage.de/

 

*Name von der Redaktion geändert

 

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