Es begann mit einem Raunen. Am 7. Oktober, also vor genau einem Monat, wussten deutsche Antidemokrat*innen auf Telegram noch nicht so recht, wie sie den Hamas-Angriff in ihre online Kommunikationsstrategie auffangen können. Die Suche nach Verantwortlichen für den Konflikt erscheint besonders schwierig, zumal es sich häufig auf Telegram um ein Potpourri antidemokratischer Milieus handelt, die weder in Empathie noch in Menschenliebe brillieren. Gleichzeitig ist die Erzählung zum Nahostkonflikt besonders interessant für ein Milieu, das von Agitation und Krisenerzählungen lebt. Rechtsextremist*innen und Konsorten benötigen gesellschaftliche Polarisierungen, Krisenherde, egal ob künstlich oder real, um massenwirksam zu mobilisieren und ihre eigene menschenfeindliche Agenda durchzusetzen.
Konkret kann in den ersten Tagen nach dem Angriff verfolgt werden, wie beispielsweise Kreml-Propagandist*innen ihre Desinformationen in Echtzeit anpassen. Während sie an einem Tag hinter dem Hamas-Angriff eine Kollaboration mit der Ukraine vermuten, wird ein Tag später dann doch lieber die Echtheit des Angriffes komplett angezweifelt. Einen Monat später lässt sich feststellen, dass bei den üblichen Telegram-Verdächtigen mittlerweile mehr Klarheit im Diskurs herrscht.
Schuldkult-Erzählungen
„120 Minuten schonungslose und tiefschürfende Debatte über Judentum, Islam, Schuldkult und Schuldstolz“ gibt es auf Martin Sellners Seite zu sehen, vorausgesetzt man zahlt den monatlichen „MSLive“-Mitgliedsbeitrag. Parallel dazu zwirbelt der neurechte Schreiberling Phillip Huemer erneut seinen Schnurrbart und verhöhnt ausgerechnet den rechtspopulistischen Journalisten Julian Reichelt, als „Schuldkultprediger“. Der ideologische Dissens zwischen Neurechten wie Huemer und Rechtspopulisten wie Reichelt wäre unter anderen Umständen sogar ganz witzig zu beobachten, wenn es den Neurechten nicht konkret um das Anzweifeln des nationalsozialistischen Erbes ginge. Wenn Neurechte, und AfDler*innen übrigens auch, über „Schuldkulte“ oder „Schuldstolz“ sprechen, ist es nichts anderes als eine Dogwhistle für die Aushöhlung deutscher Erinnerungskultur und Verantwortung.
Parallel feiert Sellner aktuell alle pro-Palästina Kundgebungen als „ein sog. „formatives Ereignis„, das das Overton-Fenster weiter nach rechts verschiebt“, also das gesellschaftliche Meinungsfenster ins Reaktionäre rückt. Wenn Neurechte und Teile der AfD jedoch darüber reden, dass „dies nicht unser Krieg sei“, entspringt diese Affirmation nicht einem pazifistischen Gedanken, sondern speit sich aus der kalten Vorstellung harter europäischer Außengrenzen, die Menschen im Mittelmeer gleichgültig umkommen lassen. Ihre Überzeugung fußt auf einem „ethnopluralistischen“ Kulturverständnis, welches eine kulturelle Homogenität der Staaten anstrebt. Äußerungen wie „es ist nicht unser Krieg“ sind gleichzeitig als Appelle zum Nachplappern für den deutschen Michel gedacht, der sich nichts weiter dabei denkt.
Beispiele für die „Schuldkult“-Debatte in der neurechten Szene:
Der Great Reset bei AUF1
Stefan Magnets Sender „AUF1“ ist inzwischen groß. So groß, dass Magnet mittlerweile einige Moderator*innen und Korrespondent*innen für seinen rechtsoffenen und verschwörungsideologischen TV-Sender eingestellt hat. Die vermeintlich „soften“ Themen überlässt der österreichische Rechtsextremist nun seinem Moderationsteam. Der Chef konzentriert sich auf die wirklich wichtigen Stücke. Wenn Stefan Magnet in seinem Studio vor blauem Hintergrund steht, dann nur für die Agenda-setzenden Themen. So auch der Nahostkonflikt, den er als verschwörungsideologisches „Great Reset“-Moment deutet. Ernst blickt Magnet in die Kamera und fragt: „Welche Auswirkungen hat der Israel Krieg auf Europa? Wie gehört das alles zum Great Reset und welche sehr bedeutende Verkündung hat der Erfinder des Transhumanismus, Noah Yuval Harrari dieser Tage an die Welt gesendet? (…) Yuval-Noah Harrari sagte anlässlich des Israel Krieges: Die Phase des Friedens ist vorbei. Ein Menschenleben lang haben die Globalisten an ihrem Plan [des Great Reset] gearbeitet.“
Nach dieser bombastischen Eröffnung geht es ähnlich reißerisch weiter. Der „AUF1“-Besitzer zeichnet in kürzester Zeit diverse Dystopien, wenn er vom Dritten Weltkrieg und Armageddon schwadroniert. Allein in den ersten zwei Minuten des Videos lassen dreizehn verschwörungsideologische und antisemitische Dogwhistles zählen und das bei einem Journal mit einer Gesamtlänge von über einer Stunde. Er spricht vom vermeintlichen israelischen Landraub, warnt vor islamistischem Terror und beweint ein ausgeliefertes Europa. Sein Feindbild, das sind die Anderen. Die Globalisten (Dogwhistle für Juden*Jüdinnen), die Muslime und selbstverständlich auch die westlichen Eliten. Und die Spitze allen Übels? Der Great Reset. Ein Plan, der so böse und komplex ist, dass sich selbst Great Reset-Propheten wie Magnet sich nicht sicher sind, wo er seinen Anfang nimmt.
Meta-Erzählungen mit Endzeitfeeling
Seit rund zwei Jahren heißt es dann bei AUF1, der Great Reset habe begonnen. COVID, Flüchtlingswelle, Sanktionen gegen Russland, Krieg in der Ukraine, Kältewinter – mit jeder Krise, ein neuer Schritt zum Great Reset. Eklatant ist jedoch die Schlagkraft und Dichte des verschwörungsideologischen Antisemitismus. Da wo früher, immer mal wieder einzelne antisemitische Chiffren gestreut wurden, verdichten sie sich heutzutage, in größeren Meta-Erzählungen mit Endzeitfeeling. Seit dem Hamas-Terror am 07. Oktober publiziert der Internet-Sender auf Telegram über 50 Postings zum Nahostkonflikt. Von Buchtipps (siehe Screenshot), interaktiven Karten, „Expert*innen“-Interviews, Umfragen, Mitschnitte von anderen Agitator*innen (wie zum Beispiel Tim Kellner), Sendungen und Nachrichten-Updates findet sich im AUF1-Telegram Kanal, alles, was das verschwörungsideologische Herz höher schlagen lässt.
Beispiele für die „Argumentationen“ von AUF1: Great Reset, Hetze gegen den „Werte-Westen“ (sic) und Tim Kellner-Kommentar-Videos:
III. Weg: Völkische Unmissverständlichkeiten
Der III. Weg macht seine Position zum Nahostkonflikt unmissverständlich klar: „Israel ist ein Terrorstaat“. Soweit so plump. Im Statement der neonazistischen Organisation heißt es weiter: „Beim Konflikt im Nahen Osten stellen wir uns weder auf die Seite der imperialistischen Landräuber Zions, die ihre Gebietsansprüche aus biblischen Verheißungen und chauvinistischen Überlegenheitsallüren rechtfertigen, noch auf die Seite islamistischer Mordbrenner, die nicht allein nur einen berechtigten Anspruch auf einen souveränen palästinensischen Nationalstaat verfolgen, sondern eine dschihadistische Agenda, die im Verborgenen schon längst bei ihren ‚friedlich‘ erobernden Glaubensbrüdern in Deutschland und Europa läuft.“ Einzige Sorge gelte, wie zu erwarten, dem „völkischen Leben aller Deutschen“, diese Konflikte seien nur Trugspiele, die der deutschen „Artgemeinschaft“ schaden würden. Verblüffende Ähnlichkeiten zeigt diese Auslegung mit der „dies ist nicht unser Krieg“ Chiffre der Neurechten. Gleiche Ideologie, nur anders verpackt. Forscher, unmissverständlicher.
Michael Brück: Der ehemlige Betreiber von antisem.it bleibt sich treu
Unmissverständlichkeiten finden sich auch bei einem anderen bekannten Gesicht der rechtsextremen Szene. Michael Brück, Ex-RECHTE Dortmund und mittlerweile Freier Sachse, stößt mit seiner pro-palästinensischen Berichterstattung als Tarnmantel für den eigenen Antisemitismus besonders hervor. Seit dem 07. Oktober hat sich Brücks Telegram-Kanal in so etwas wie einen Liveticker verwandelt. So veröffentlicht Brück, zahlreiche Analysen und Kommentare zu dem Kriegsgeschehen und streut dabei Desinformation. Er streute beispielsweise intensiv die bereits als Falschmeldung markierte Nachricht von der angeblichen Bombardierung des Gazaer Krankenhaus. Dabei spricht der Freie Sachse von über 1000 Opfern. Brück sucht Verbindungen zu neuen Milieus. Eine Welt-Recherche aus 2014 zeigt den damals noch jungen Rechten-Dortmund Kader bei einer pro-palästina Demonstration in Dortmund. Auch bekannt ist, dass Brück stolzer Besitzer einer antisemitischen Webseite war (antisem.it) und dass zu seinen Kaderzeiten immer wieder Transparente erschienen mit der Aufschrift „Israel ist unser Unglück“ (nationalsozialistische Dogwhistle: „Juden sind unser Unglück“). Ebenfalls interessant sind Brücks aktuelle Kontakte, zumal ausgerechnet er vom iranischen Staatfernsehen eingeladen wird, um über die Lage in Westafrika zu berichten. Die Motivation dahinter? Brück(en) zu schlagen mit Antisemitismus.
Eu ZION, IS-RA-HELL und alles was dazwischen liegt
“Neu Israel”, “Heavenly Jerusalem” oder “ZION-Groß IS-RA-HELL” sind allesamt Chiffren für eine neuere Form des verschwörungsideologischen Antisemitismus, der geopolitische Punkte von der Ukraine bis nach Israel zu verbinden versucht. Verschwörungsideologische Telegram-Akteur*innen versuchen, die EU, die Ukraine und Israel gleichzeitig zu delegitimieren. Geopolitische Verschwörungserzählungen wie “Israel 2.0”, gefälschte Landkarten und paranoide NWO-Dokus trachten allesamt danach, eine alternative Wirklichkeit durchzusetzen, in der Israel der Dreh- und Angelpunkt allen Übels ist. In diesen Milieus glauben Menschen, dass die Europäische Union insgeheim von Zionist*innen gelenkt wird, dass Israel ein “ZION” der imaginierten “Neuen Weltordnung” ist oder dass in Israel die Waffen und Technologien dieser “Neuen Weltordnung” gelagert werden.
Dass ausgerechnet auch die Ukraine eine inhaltliche Rolle spielt, ist selbstverständlich kein Zufall. Prorussisch agierende Akteur*innen versuchen seit Beginn des russischen Angriffskrieges, die Ukraine mit allen Mitteln zu diskreditieren. Gleichzeitig versuchen sie, ihren immer gleichen Positionen durch skurrile Verschwörungserzählungen wie “Heavenly Jerusalem” einen Hauch von Aktualität zu verleihen. Dabei wird auf Telegram immer wieder eine Karte der Ukraine gepostet, auf der verschiedene Städte wie Dnipro, Mykolaiv oder Zaporizhzhya unter den Namen „New Jerusalem”, „Solomons’k” oder „Moses City” eingezeichnet sind. Auffallend sind dabei nicht nur die stereotypischen Städtenamen, sondern auch das Wappen der Fantasieregion: ein Davidstern mit ukrainischem Wappen. Der Plan soll von einem ukrainischen Politiker namens Igor Vitalievich Berkut, manchmal auch als Harry Berkut zu finden, in Auftrag gegeben worden sein. Entsprechend wäre Russlands Einmarsch in der Ukraine der perfekte Vorwand, um ethnische Ukrainer*innen durch jüdische Siedler*innen auszutauschen. Was wie ein wirrer Fiebertraum klingt, ist für viele Verschwörungsideolog*innen im Netz leider längst gesetzte Realität (ausführlich hier).