Dijamant Zabërgja (20), Armela Segashi (14), Sabina Sulaj (14), Giuliano Josef Kollmann (19), Sevda Dağ (45), Chousein Daitzik (17), Can Leyla (14), Janos Roberto Rafael (15) und Selçuk Kılıç (15) starben am 22. Juli 2016 in München. Der 18-järhrige David Sonboly ermordete sie am Münchner Olympia Einkauszentrum (OEZ), weil sie Muslim*innen, Sinti*zze oder Rom*nija waren. Fünf weitere Personen wurden verletzt. Anschließend tötete er sich selbst.
Sieben der neun Todesopfer waren Muslime, fast alle hatten eine Migrationsbiografie oder gehörten einer Minderheit an. Zunächst stuften Behörden, trotz diverser Hinweise auf rechtsextremistische Motive, die Tat nicht als politisch motiviert ein, sondern als Amoklauf. Eine drastische Fehleinschätzung, die erst 2019 revidiert wurde.
David Sonboly hatte seine Tat akribisch geplant. Selbst Datum und Uhrzeit waren nicht zufällig gewählt. Zur selben Tageszeit, fünf Jahre zuvor, tötete der rechtsextreme Massenmörder Anders Behring Breivik mit der gleichen Tatwaffe in Norwegen 77 Menschen.
Der einsame Wolf-Terrorist und sein rechtsextremes Netzwerk
Sonboly beging eine der größten rechten Terrorakte in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg und war vielleicht der erste Täter eines neuen rechtsextremen Tätertypus in Deutschland. In ihrem Ehrgefühl verletzte Männer, die sich soweit radikalisieren, dass sie bereit sind, Gewalt auszuüben und andere und auch sich selber zu töten. Solche Täter sind Teil einer toxischen Netz-Community mit eigener Sprache und Codes, sie tauschen sich auf rechtsextremen Internet-Foren aus, sie verehren Rechtsterroristen als „Heilige“ und sie verfassen vor ihren Taten Manifeste, die der eigenen Szene dazu dienen sollen, das Morden zu glorifizieren. Es ist die dunkle Ära der Gamification von Terror.
Wie viele nachfolgende Rechtsterroristen verfasste auch Sonboly ein Manifest. Darin schrieb er etwa, dass der Stadtteil, in dem er aufwuchs, mit einem „Virus“ infiziert sei. Migrant*innen beschreibt er als „ausländische Untermenschen“ und „Kakerlaken“, die er „exekutieren“ werde. Am Tag des Amoklaufs legte David Sonboly, der auch den Vornamen Ali trug, eine weitere Datei unter dem Namen „Ich werde jetzt jeden Deutschen Türken auslöschen egal wer.doc“ an. Inhalt waren offenbar nur zwei Sätze: „Das Mobbing wird sich heute auszahlen. Das Leid was mir zugefügt wurde, wird zurückgegeben.“
Vielleicht auch wegen dieser Zeilen wurde die Bluttat von München als Konsequenzvon Mobbing-Erfahrungen gewertet, als Amoklauf. Erst im Oktober 2019 stufte das bayerische LKA in einem Abschlussbericht die Tat als politisch motivierte Tat rechts ein. Das rechtsterroristische Netzwerk, in dem Sonboly aktiv war, verkennt der Bericht jedoch bis heute komplett.
Sonboly auf der Plattform Steam
Der Täter von München verbrachte vor seinen Morden viel Zeit auf Steam, einer Gaming-Plattfom mit 47 Millionen Nutzer*innen. David Sonboly nutzte auf Steam als Profilbild unter anderem ein Bild aus dem Film „Matrix“. In der Alt-Right ist das ein gerne benutzte Codierung. Die sogenannte „neue“ Rechte und die Alt-Right bezeichnet sich gerne als „red pilled“, in Anlehnung an die rote Pille in den Matrix-Filmen, die Hauptfigur „Neo“ dazu bringt, die Matrix zu erkennen.
Was Sonboly auf Steam so getrieben hat, wissen wir heute nur dank eines aufmerksamen Users, Florian M., der die Kommunikation des Täters auf Steam auf einen USB-Stick gesichert hatte. Zwei Tage nach der Tat in München ging Florian M. zur Polizei und gab dort einen USB-Stick ab, mit dem Hinweis, der Stick enthalte Informationen zu Mitwissern des OEZ-Attentats. M. warnte vor einem weiteren Anschlag, diesmal in Baden-Württemberg.
Wurde ein Attentat verhindert?
Es kam daraufhin zu einer Hausdurchsuchung bei dem damals 15-jährigen David F. in Baden-Württemberg. Dabei fanden Ermittler*innen Fluchtpläne eines Gymnasiums, Chemikalien für Sprengsätze und Rohrbomben sowie Munition für Schusswaffen. David F. war in unmittelbarer Vorbereitung auf ein Attentat.
Der Stick zeigt aber noch mehr: David F. und der Täter aus München standen offenbar in regem Austausch: So hatte F. Sonboly angeboten, dessen Manifest nach der Tat zu verbreiten. Fünf Monate bevor der Münchner neun Menschen und dann sich selber tötete, forderte F. auf einem der Steam-Profile von Sonboly: „Free your Hate!“ (Lass deinen Hass frei!). Zwei Tage nach dem Sonbolys Hass zehn Menschen das Leben gekostet hatte, loggte sich F. mit dem Anmeldenamen seines Freundes bei Steam ein.
Unzureichende Ermittlungen
Und trotzdem entschied die Staatsanwaltschaft, obwohl ihnen die Hinweise bekannt waren, dass der Fall David F. in keinem Zusammenhang zum OEZ-Fall steht – eine fatale Fehleinschätzung. Die OEZ-Nebenklageanwältin, Claudia Neher, hatte im Prozess gegen den Waffenverkäufer Philipp K., von dem Sonboly seine Waffe bekommen hatte, versucht, das Forum Steam und den Stick als Beweisstücke heranzuziehen. Weiter wollte sie die Zeugen Florian M. und David F. laden und die Unterlagen zu David F. für den Fall heranziehen. Nichts von alledem wurde in dem Prozess um den OEZ-Anschlag zugelassen und die Staatsanwaltschaft ermittelte trotz dieser Hinweise nicht weiter. „Ich habe die Beweisanträge sogar mehrfach gestellt, doch fatalerweise wollten sie sich damit nicht auseinandersetzten“, kritisiert die Nebenklageanwältin Neher. „Ich kann das bis heute nicht fassen. Es geht hier immerhin um Mitwisser. Außerdem ist es falsch, dass David F. nichts mit der Tat von Sonboly zu tun hat.“ Befangenheitsanträge gegen die Staatsanwaltschaft und den Richter wurden nicht zugelassen.
Der Kontakt zu David F. kam durch einen späteren US-Attentäter zustande
Interessant ist außerdem, wie beide Männer, Sonboly und David F., zueinandergefunden haben: Bevor sie voneinander wussten, chatteten sie auf Stream immer wieder mit derselben Person, mit dem späteren US-Attentäter William Atchison (21). Dieser hatte ein Steam-Forum namens „Anti-Refugee-Club“ gegründet, in dem er sich mit Gleichgesinnten, darunter Sonboly und F. über rechtsextreme, rassistische Inhalte, Waffenbeschaffung und Mordfantasien austauschte.
Eines Tages hatte David F. William Atchison gefragt, ob der Amerikaner noch mehr Personen in Deutschland kenne, die sich für Amokläufe interessieren. Atchison verwies den 15-Jährigen daraufhin an den späteren Mörder von München. Nach dem Blutbad am OEZ glorifizierte Atchison David Sonboly als Helden und verhöhnte die Mordopfer. In dem Wikipedia nachempfundenen Szenen-Wiki „Encyclopedia Dramatica“ verfasste er einen lobenden Eintrag über den Münchner. Auf der „Encyclopedia Dramatica“ haben Rechtsextreme ein Ranking veröffentlicht, auf dem die ihrer Meinung nach „erfolgreichsten“ Rechtsterroristen gekürt werden. Breivik rangiert hier auf dem ersten Platz, der Massenmörder von Christchurch, der 51 Menschen in zwei Moscheen tötete, auf Platz vier. Auf der Seite finden sich ausführliche Einträge der Terroristen, sowie Propagandamaterial und Manifeste.
Anderthalb Jahre nach dem Anschlag in München wurde der US-Amerikaner William Atchison dann auch zum Mörder. Am 7. Dezember 2017 erschoss er an einer Schule in Aztek, im Bundesstaat New Mexico zwei Mexikaner. Danach beging er Selbstmord. Wie der Münchner pflegte auch der Amerikaner Sympathien mit der heimischen Rechten: Atchison trieb sich auf Foren der Alt-Right herum und postete Beiträge, in denen er Trump und Hitler feierte.
Obwohl es all diese Hinweise auf das rechtsextreme Netzwerk gibt, in dem sich Sonboly bewegte, ist der „Abschlussbericht zum Olympia Einkaufszentrum immer noch falsch“, moniert Claudia Neher. „Darin heißt es nach wie vor, er sei nicht Mitglied einer Gruppe gewesen, dabei war er mit Atchison bei Stream unter anderem in der Gruppe ‘Anti-Refugee-Club‘. Außerdem sei das Kennverhältnis zu Atchison nur angeblich. Unser Innenminister lügt in dieser Angelegenheit.“
Die Behörden würden hier aktiv die Existenz von rechtsextremen Netzwerken leugnen, so Neher. „Die Folgen solch eines Wegschauen sehen wir auch an Halle. Weil wir diese virtuellen rechtsterroristischen Netzwerke nicht ernst nehmen. Sicherheitsbehörden hätten sich mit diesem Gefahrenkomplex spätestens seit dem OEZ-Terror beschäftigen müssen.“
David F. gab jüngst bekannt, dass er mittlerweile aus der Szene ausgestiegen sei und nun um Aufklärung bemüht ist. Das Netzwerk aus Amok-Fans und Rechtsextremen in dem sich Sonboly, Atchison und auch David F. umtrieben, ist jedoch weiterhin aktiv und brandgefährlich. Zahlreiche Rechtsextreme, die in ihrem Hass rassistische, antisemitische und frauenverachtende Morde verübten, kommen genau aus diesem Milieu. Hier werden junge gekränkte Männer soweit radikalisiert, dass sie meinen, ihre Männlichkeit erst durch ein Blutbad wieder herstellen zu können. Der Dokumentarfilm „Liken, hassen, töten – Wie Jugendliche zu Terroristen werden“ beleuchtet dieses Umfeld eindrücklich. Die Journalisten analysieren das Netzwerk auf Steam und finden weitere Personen, die in Kontakt sowohl mit Atchison und Sonboly waren. Zwei junge Männer aus den USA planten ursprünglich ein Schoolshooting, begingen dann jedoch Suizid. Die beiden Dokumentarfilmer schaffen, was den Behörden bislang nicht gelungen ist – sie zeigen das gefährliche Netzwerk rund um die terror- und amokaffine Gaming-Community auf, in der sich auch Sonboly bewegte.
Die Taten solcher junger Amok-faszinierten rechtsextremen Attentäter sollen immer auch Nachahmer auf den Plan rufen. Es geht darum, möglichst viele Menschen zu töten, damit sich die Menschheit reinigen kann, „natürliche Auslese“ nannte das der Amerikaner Atchison etwa.
Zwei mutmaßliche Nachahmer
Auch die Tat des Münchners scheint die Terror-Szene „inspiriert“ zu haben. So gibt es möglicherweise einen Bezug zum Starnberger Dreifachmord. Am 12. Januar 2020 erschoss der mutmaßliche Täter Maximilian B. (21) seinen Freund Vincent P. (21) und dessen Eltern in deren Haus. Im Prozess gab Maximilian B. an, gemeinsam mit seinem Freund Vincent P. eine Terrortat auf die Münchner Pasing Arcaden geplant zu haben. Als er die Tat doch nicht mehr durchführen wollte, sei Vincent P. nicht mehr umzustimmen gewesen. Sein einziger Ausweg sei gewesen, drei Menschen zu töten, statt eine Terrortat zu begehen und noch mehr Menschen das Leben zu nehmen. Zwei Zeugen gaben an, dass Maximilian B. mit David Sonboly in Kontakt stand. Die Anklage gegen Maximilian B. lautet hingegen, er habe den Dreifachmord begangen, um an das Waffenarsenal von Vincent P. zu gelangen.
Ein mittlerweile 21-jähriger Mann aus Augsburg steht derzeit vor Gericht, weil er laut Anklage Bomben bauen wollte und einen Anschlag nach dem Vorbild des Attentäters vom OEZ plante. Bei einer Durchsuchung seines Zimmers fanden Ermittler*innen Bilder von Hakenkreuzen, SS-Runen und stilisierten Darstellungen Adolf Hitlers. Den bisherigen Erkenntnissen zufolge habe der Angeklagte nicht in einem Netzwerk agiert, sondern allein, so ein Gerichtssprecher zum BR.
Hätten die Morde verhindert werden können?
Gerade bei Straftaten aus diesen rechtsextremen digitalen Communitys ist es wichtig, dass Behörden die Netzwerke durchleuchten, in denen sich die Terroristen bewegten – auch um mögliche weitere potenzielle Täter frühzeitig aufzuspüren. Im Vergleich zu den USA hinkt Deutschland dabei etwas hinterher, da die Gefahren aus dieser Szene erst spät anerkannt wurden.
Das FBI hatte den späteren Mörder Atchison bereits seit März 2016 auf dem Radar, also vier Monate vor der OEZ-Bluttat. Weil er sich auf „einer Spieleplattform Waffen“ besorgen wollte, wurde er von dortigen Ermittlungsbehörden als gefährlich eingeschätzt. Eine Anfrage, finanziert durch die Amadeu Antonio Stiftung, an das FBI, ob sie bereits vor der Tat von der Gefährlichkeit Sonbolys wussten, blieb bislang unbeantwortet. Die Angehörigen der Opfer aus New Mexico haben unterdessen das FBI wegen fahrlässiger Tötung verklagt.
Im gesamten Komplex sind weiterhin viele Fragen offen, die besonders für die Hinterbliebenen schmerzhaft sind. Bis heute verkennt der Abschlussbericht des bayerischen LKA das Netzwerk, in dem sich Sonboly radikalisierte. Die Diskussion, die wir heute über das digitale Umfeld und online Radikalisierungsprozesse junger hasserfüllter Männer führen, hätte schon damals geführt werden müssen.