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Nach dem Attentat von Halle Die Boards der rechtsterroristischen Attentäter als internationale Kaderschmiede

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Screenshot des "Meguca"-Boards, auf dem der Attentäter von Halle seinen Livestream postete
User kommentieren auf dem Board "meguca.org" den Livestream des Attentäters von Halle.

Contentwarnung: Explizite Ideologie –

Das Interview führte Simone Rafael.

Belltower.News: Wie ist der aktuelle Erkenntnisstand zu den Online-Aktivitäten von Halle-Attentäter Stephan B.?

Miro Dittrich: Stephan B. war auf einem Forum namens Meguca.org aktiv. Das ist ein Board, im Prinzip ähnlich wie 4chan oder 8chan, nur mit einer Ausrichtung hauptsächlich auf Anime, also ein anonymes Board für Fans von Anime und Anime-Kultur. Der Eigentürmer des „Meguca“-Boards lebt nach Recherchen des TV-Magazins „Frontal 21“ in Lettland, der Server der Website stand in einem Datenzentrum in Paris. Stephan B. hat dort seine Anleitungen zum Bau von Waffen geteilt mit dem Kommentar, dass er „Live-Testing“ bevorzuge, dazu seine schriftliche Erläuterung zur Tat, die für ein Manifest eigentlich viel zu wenig Inhalt hat, und er hat dort um 11.57 Uhr den Livestream seiner Tat gepostet. Im Video ist, während B. im Auto sitzt, eine Uhr zu sehen, die 11.59 Uhr zeigt. Er hat also den Stream wirklich direkt vor der Tat dort gepostet.

Wie waren die Reaktionen auf B.s Livestream im Meguca-Board?

Im „Meguca“-Board waren die Reaktionen auf das Posting gemischt. Nicht, dass es auf Ablehnung gestoßen wäre – die Meguca-Mitglieder*innen hatten vor allem Sorge um ihr Board, Angst davor, das es abgeschaltet werden könnte. So wurde etwa diskutiert, ob jemand das Board als Quelle des Livestream-Videos bereits ausgemacht hätte, und das Board wurde mit einem schrillen Regenbogen-Farben-Hintergrund hinterlegt, um es möglichst unleserlich zu machen. Diskussionen drehten sich darum, dass man doch eigentlich keine Deutschen im Board hätte, Zwischen Diskussionen zu den Waffen-Anleitungen – einige fanden die Waffen ungeeignet, gaben an, selbst bessere zu haben – wurden weiter Anime-Sex-Talks geführt, die dort normalerweise gepostet werden. Es illustriert die Kultur des Boards, dass die Tat praktisch nicht auf Widerspruch oder Ablehnung stieß. Stattdessen wurde eher diskutiert, wie sich die Strategien und die verwendeten Waffen verbessern ließen, oder der Täter wurde als Trottel dargestellt, da er zu wenig Leute getötet hätte. Andere hielten ihm zugute, er habe wenigstens geschafft, das Haus zu verlassen, und argumentierten, aus Fehlern ließe sich ja für kommende Anschläge lernen. Man werde etwa erfolgreicher sein, wenn man mit Feuer arbeite, also eine Synagoge anzünde.

Die grundsätzliche Kultur auf dem „Meguca“-Board ist damit ähnlich wie auf dem von Rechtsextremen dominierten /pol-Board von 8chan, das jetzt offline ist und das „Berühmtheit“ für Rechtsterrorismus erlangt hatte, weil dort vorherige Attentäter ihre „Manifeste“ gepostet hatten. Hass gegen Juden und gegen Muslime, die hier entmenschlichend „Kebab“ genannt werden, ist allgegenwärtig. Werden Menschen aus Antisemitismus oder Islamfeindlichkeit ermordet, ist das Grund zur Freude. Während das „Meguca“-Board den Livesteam von Stephan B. diskutierte, wurde gleichzeitig erfreut diskutiert, wie die Türkei in Kurdistan einfiel, und beides in Verbindung gesetzt, etwa: Erdogan habe mehr „Kebabs“ umgebracht als der Attentäter von Halle.

Was sind das für Boards, die so voller Menschenverachtung sind?

Diese Argumentationen sind kein insulares Phänomen auf einem oder mehreren Boards. Das Phänomen ist größer und auf allen Boards zu finden, die zur Anon-Culture gehören. Das heißt, die User schreiben ohne Benutzernamen oder Profile, sie können sich keinen persönlichen Status oder Ruhm aufbauen. Verbundenheit entsteht in diesem Communities durch Insiderwitze, Memes, Bezüge und Wortwahlen. Hier treffen sich vor allem junge Männer auf der Suche nach Grenzüberschreitungen und schwarzem, „edgy“ Humor. Als solche Boards erstmals aufkamen, waren sie als „Jokes“, als Witze gemeint, als Trolling und Provokation. Die meisten wurden sehr schnell von Usern übernommen, die NS-Verehrung oder Hass auf Juden und Muslime nicht im „Spaß“ posteten, sondern es ernst meinten. Die Ideologie, die dann verbreitet wird, ist „White Supremacy“, also die Vorherrschaft der „Weißen“. Alles Männliche und „Weiße“ wird als gut und bedroht definiert, etwa durch Verschwörungen durch Jüdinnen und Juden oder durch Verschwörungen von Frauen und vor allem Feministinnen, die die Männer unterdrücken wollen. Die „Incel“-Kultur der „unfreiwillig zölibatären“ Frauenhasser ist weit verbreitet. Insgesamt sind das depressive Orte von Männern, die sich abgehängt und nutzlos fühlen. Sie diskutieren, dass sie die Sklaven von heute seien, unterdrückt und entrechtet, und leiten daraus ab, dass Genozide, die sie planen, eigentlich Selbstverteidigung und Notwehr seien. Sie fühlen sich als Loser und Versager, haben oft keine Freundin, keinen Job, keine Anerkennung außerhalb des Internets. Der Attentäter von Halle nimmt zu dieser internationalen Hass-Kultur direkte Bezüge.  Er bezeichnet sich nicht nur selbst des Öfteren als Loser, er versucht in seinen „Schriften“ auch Nachahmer zu motivieren, indem er ihnen ein „Catgirl“ verspricht (Anime-Fantasie) oder ein „Waifu in Walhalla“ – das ist eine fiktionale Traumfrau, der der Mann dann als Fan ergeben ist, meist aus dem Anime- oder Manga-Kosmos.

Der Attentäter von Halle kommt damit aus einer internationalen Community?

Ja, wir haben es hier ganz klar mit internationalem Terrorismus zu tun. Dieser rechtsextreme Terrorismus hat keine klar verfolgbaren Strukturen und Organisation, aber es ist eine weltweite Szene, die sich online in den Boards trifft und die daran arbeitet, dass weitere Taten passieren, das Jüdinnen und Juden ermordet werden, Muslim*innen, „Linke“, Frauen, LGBTIQ. Es werden Pläne geschmiedet, Konzepte optimiert, Waffen besprochen und verbreitet. Es gibt Brainstormings zu Zielen und Vorbereitungen: Wie kann der nächste Täter es „besser“ machen? Immer wieder gibt es auch Gespräche über Finanziers von Aktionen, ohne dass man bisher Geldflüsse belegen kann. Der Attentäter von Halle gibt in einer seiner „Schriften“ an, er habe eine Unterstützung von 0,1 Bitcoin – etwa 750 Euro –  von einem Bekannten von 8chan erhalten. Dem habe er versprochen, er würde nur Muslime töten, weil der selbst jüdischen Glaubens sei. Belegbar ist das bisher nicht. Denkbar ist eine Finanzierung aus der Szene selbst aber natürlich.

Was wollen die Rechtsterroristen, die sich da vernetzen?

Ihr Thema ist: Acceleration, das heißt Beschleunigung. Sie glauben, dass das demokratische System sowieso kollabiert, und diesen Zusammenbruch wollen sie beschleunigen. Der Attentäter von Pittsburgh 2018, der in eine Synagoge stürmte und 11 Menschen tötete und 6 verletzte, schrieb vorher im rechtsextremen Netzwerk „Gab“: „Egal wie es aussieht, ich geh jetzt rein“ („Screw your optics, I’m going in“) – also, auch wenn es vielleicht kein gutes Licht auf die „White Supremacy“-Bewegung wirft, will er Menschen töten, weil er sich in einem Bedrohungskampf wähnt. Solche Gewaltakte sollen aber nicht nur konkret Menschen töten – sie sollen auch Gleichgesinnte oder Nachahmungstäter „zu den Waffen“ rufen, sie sollen zeigen, man könne sich „wehren“. Sie sollen die „Weißen“ wachrütteln, die als schlafend und unwissend gesehen werden. Und wir können sehen, dass das Konzept für diese Szene funktioniert, dass die Täter voneinander inspiriert werden und sich aufeinander beziehen. Der Attentäter von Poway (April 2019) etwa beschreibt selbst, dass er am Tag des Christchurch-Attentats (März 2019) begann, sein eigenes Attentat zu planen, das er einen Monat später auch durchführte: Er lief am letzten Tag des Pessachfestes mit einem Sturmgewehr in die Synagoge von Poway, tötete eine Person und verletzte 3 weitere. Der Attentäter von El Paso (August 2019), der einen Supermarkt an der mexikanischen Grenze stürmte und 22 Menschen tötete und weitere 24 Menschen verletzte, beschrieb sich als „stolz, an der Spitze des Kampfes zu sein“. Auch der Attentäter von Oslo, der in eine Moschee stürmte, aber überwältigt wurde, bevor er Menschen verletzten konnte, gab Christchurch als Motivation an. Er hat zwar beim Attentat versagt, aber hinterher noch ein für seine Szene ikonographisch gefeiertes Bild hinbekommen, indem er im Prozess mehrfach den Hitlergruß zeigte und so auch in der Presse zu sehen war. Deshalb tut die Presse den Terroristen auch einen Gefallen, wenn sie diese Bilder abdruckt.

Die Rechtsterroristen haben ja insgesamt quasi eine eigene Kommunikationsstrategie für Taten entwickelt, oder?

Ja, das begann praktisch mit den Attentaten 2011 in Oslo und Utøya, bei denen insgesamt 77 Menschen getötet und zur Tat ein politisches Manifest veröffentlicht wurde. Seit dem Attentat von Christchurch im März 2019, als ein Attentäter in zwei Moscheen in Christchurch (Neuseeland) insgesamt 51 Menschen tötete und weitere 50 verletzte, gehört neben dem „Manifest“ ein Livestream der Tat mit dazu, unterlegt mit inhaltlich aufgeladener Musik, die ein weiteres Stilmittel ist. Man kann beobachten, dass von Tat zu Tat die Qualität der Ideologie abnimmt, also der „Manifeste“, die zunehmend nur als holzschnittartigem Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus besteht, und dafür immer mehr Augenmerk auf Strategie und Technik gelegt wird. So drehen sich größere Teile der Papiere des Attentäters von Halle vor allem um Waffen, ihre Anschaffung oder ihren Bau.

Bringt der Attentäter von Halle mit seinem an Computerspiele angelehnte „Achievments“ eine neue Komponente ein?

Nein, das ist doch ein Witz von ihm, dass er in seinem Papier angebliche „Ziele“ wie Computerspiel-Punktescores beschreibt. Es ist ein Witz, der von besonderer Verrohung zeugt, weil damit die Opfer vollständig entmenschlicht werden. Sie werden nicht einmal mehr aus Hass umgebracht, sondern als „Joke“ auf dem Weg zum Zusammenbruch. Ein verabscheuungswürdiger Dreh von Mord für LOLs. Terror wird mit Gamification, also Elementen aus Videospielen übernimmt, zu einem Spiel stilisiert.

Welche Anknüpfungspunkte gibt es noch zwischen Gaming und Rechtsextremismus?

Gaming-Elemente haben wir heutzutage in unserer gesamten Lebenswelt, und von den rund 30 Millionen Gamer*innen in Deutschland haben die meisten nicht die geringsten Probleme, zwischen Spielrealität und Lebensrealität zu unterscheiden. Es gibt aber auch Spieler, oft sind es junge Männer, die sich aus Eskapismus in Games flüchten, weil sie in der Offlinewelt keine Erfolge erleben, keine erfüllten Beziehungen oder beruflichen Erfolge. Sie haben das Gefühl, dass sie als „weiße Männer“ Vorrechte haben müssten, die sich nicht erfüllen, was sie enttäuscht und mobilisierbar macht und sich in Hass auf alle entlädt, die sie als Gefahr begreifen. Nicht umsonst wurde „Gamer-Gate“, eine Hasswelle gegen Frauen im Jahr 2014, zur Geburtsstunde der amerikanischen „Alt-Right“-Bewegung. Der rechtsextreme Kommunkationsstratege Steve Bannon verdiente damals unter anderem Geld mit „World of Warcraft“-Gold-Farmen in China, sah dabei viele „wütende und potenziell agitierbare“ junge Männer, die er von Gamern zu „weißen Nationalisten“ machen wollte – und engagierte für sein Portal „Breitbart“ Milo Yiannopoulos, um dies zu tun. Etliche junge frustrierte Männer waren ansprechbar mit Grenzverletzungen, Allmachtsfantasien und einem rückwärtsgewandten Weltbild, das ihnen versprach, ihre „Vorrechte“ zurückzuerobern – unter Verbreitung von Rassismus, Antisemitismus, Misogynie, Verschwörungsideologien.

Wie hat die rechtsextreme Szene in Deutschland online auf das Attentat von Halle reagiert?

Unterschiedlich. Manche nennen ihn unerfolgreich. Andere argumentieren, sie müssten sich nicht einmal von ihm distanzieren, weil sie keine Nähe zum Täter sehen. Andere empfinden die Tat als „Hochverrat an den Deutschen“, sie würde der rechtsextremen Ideologie einen Bärendienst erweisen, der Terrorist sei kein Patriot, sondern maximal ein „Psycho“. Dies ist der Versuch, die Tat zu entpolitisieren. Manchen beschimpfen ihn, weil er „Deutsche“ erschossen hat statt „Juden“ – und stellen so eine abwertende Hierarchie der Opfer auf. Auch hier gibt es Diskussionen, wie planlos der Täter war und was er hätte „effektiver“ machen können. Andere machen sich lustig über den „Loser“, bezeichnen den Livestream als „Comedy“. Aber es gibt auch die, die ihn loben und es gut finden, was er gemacht hat, die ihn als „Saint“ bezeichnen, also als Heiligen, das höchste Lob in den rechtsterroristischen Online-Kreisen. Die Tür der Synagoge, die den Attentäter aufgehalten hat, ist jetzt schon ein Meme – für die Rechtsextremen für Versagen, aber auch als Schutzzeichen auf der demokratischen Seite.

Kann man gegen solche hyperradikalisierten Online-Communities überhaupt etwas machen?

Oh, in den USA hat sich da nach den Attentaten in El Passo viel getan. Das U.S. Departement of Homeland Security hat die Verbreitung von „White Supremacy“-Ideologie als terroristische Aktivität eingestuft. Seitdem gibt es mehrfach jede Woche Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, die Gewalt und Attentate im Internet androhen oder planen. So ein striktes Vorgehen hat Effekte: Den Tätern muss klargemacht werden, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist.

Wird das in Deutschland auch funktionieren?

In Deutschland zahlen wir jetzt den Preis dafür, dass der Verfassungsschutz unter Hans-Georg Maaßen beschlossen hatte, weder den Rechtsextremismus als terroristische Gefahr im Blick zu haben noch die Online-Welt als Agitationsraum. Jetzt fehlen die Menschen, die die Fähigkeiten hätten, in diesem hochkomplexen Feld zu arbeiten. Wir haben es hier mit Online-Räumen zu tun, die mit codierter Sprache, sehr speziellem Humor und Codes arbeitet, mit einer ganzen Internet-Kultur. Ständig werden Boards und Plattform geschlossen, dann muss recherchiert werden, wo die Menschen hingehen. Da kann sich ein Polizeibeamter nicht mal schnell reinarbeiten. Und dann versteht er noch nichts von Rechtsextremismus. Menschen mit diesen Kompetenzen hätte man schon vor Jahren aufbauen können und sollen, nun wird es dauern, bis sie ausgebildet sind. Jetzt stehen wir im Sturm und sind nicht vorbereitet. Nun können wir erst einmal vor allem daran arbeiten, die digitale Zivilgesellschaft weiter für Gefährdungen zu sensibilisieren – und ihnen Ansprechstellen zu geben, an die sie Beobachtungen weitergeben können.

 

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