In der Nacht zum 9. September 2020 brach ein Brand im drastisch überfüllten Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos aus. Das Camp wurde ursprünglich für 2.800 Menschen gebaut, doch zuletzt wohnten über 13.000 Geflüchtete dort unter erbärmlichen Zuständen. Diese müssen jetzt auf der Straße ausharren – teilweise ohne Versorgung und medizinische Behandlung. Vor Ort sind Paul Hanewinkel und Arian Henning vom Berliner Menschenrechts-Verein „Mare Liberum“. Mit einem Schiff dokumentiert die Organisation seit 2018 Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis. Momentan dürfen sie nicht ausfahren und beobachten die Situation auf dem Festland – und sind alarmiert. Ein Gespräch über das Schicksal der Geflüchteten, die rechtsextreme Szene auf Lesbos und die Komplizenschaft der örtlichen Polizei.
Belltower.News: Am 8. September ging das Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos in Flammen auf. Wie ist die Situation jetzt vor Ort?
Paul Hanewinkel und Arian Henning: Die Situation auf Lesbos hat sich noch einmal deutlich intensiviert. Nach dem Feuer in Moria merkt man, dass die Polizeipräsenz deutlich gestiegen ist und es natürlich auch eine größere Anspannung auf der Insel gibt – von allen Seiten. Die Versorgungslage ist momentan wirklich sehr schlecht. Die Menschen harren in den Straßen vor Moria aus, sie schlafen in Zelten zwischen dem abgebrannten Lager und dem Dorf Moria. Manche haben seit drei Tagen nichts gegessen. Viele NGOs und solidarische Strukturen vor Ort werden am Zugang behindert – meistens durch die Polizei, aber auch durch Straßenblockaden, die von Faschisten organisiert werden. Momentan können nicht einmal medizinische Organisationen wie zum Beispiel „Ärzte ohne Grenzen“ in diese Straßen hinein gehen. Die Polizei und das Militär versuchen, die Menschen, die nun auf der Straße leben, in das neue Camp zu zwingen.
Welche Rolle spielt dabei das Coronavirus?
Die Covid-19-Pandemie ist natürlich auch ein großes Problem: Sowohl das alte als auch das neue Camp erfüllen in keiner Weise die Voraussetzungen für eine effektive Eindämmung der Pandemie. Es ist ehrlich gesagt ein Wunder, dass bislang so wenige Fälle festgestellt wurden. Covid-19 wird als politisches Instrument sehr ambivalent eingesetzt. Wenn es um Repression geht, ist das Coronavirus eigentlich immer das erste Argument, Menschen im Camp einzusperren. So werden NGOs beim Zugang zum Camp oder jetzt auch zu der Gegend um Moria herum behindert. Geht es um gesundheitliche Schutzmaßnahmen für Geflüchtete, spielt es plötzlich keine Rolle.
Wie ist die Stimmung der Anwohner*innen?
Mein Eindruck ist, dass die Inselbewohner*innen mit der Situation zunehmend unzufrieden sind, weil es im Moment kein geschlossenes Camp mehr gibt und die Polizeipräsenz aufgestockt wurde. Am ersten Morgen nach dem Brand sind Flugzeuge mit Bereitschaftspolizist*innen aus Athen angekommen, die hier große Präsenz zeigen. Auf der Insel wurde ein Ausnahmezustand für vier Monate ausgerufen. Das heißt, auch die rechtlichen Eingriffsbefugnisse wurden extrem erweitert. Die Spannung ist nach dem Feuer in Moria deutlich stärker spürbarer als sie vorher war.
Gibt es inzwischen eine bestätigte Brandursache?
Sechs Personen aus dem Camp wurden mittlerweile wegen der Brandstiftung verhaftet. Die Vorstellungen davon, wie es zu diesem Brand kam, divergieren allerdings sehr. Natürlich gibt es viele Leute, die der Meinung sind, Geflüchtete hätten ihr eigenes Lager angezündet, was aus mehreren Perspektiven aber vor allem als politisches Statement auch nachvollziehbar wäre. Gleichzeitig wäre es auch nicht unvorstellbar, dass es ein Unfall war. 13.000 Menschen haben in einem Lager gelebt, das ursprünglich für 2.800 Menschen ausgelegt war. Brandschutz hatte keine hohe Priorität dort: Es gab zum Beispiel offene Feuerstellen, Menschen, die mit Flammen gekocht haben und überall Gasflaschen. Es hätte auch eine dritte Partei sein können. Für uns als NGO macht allerdings die Brandursache keinen großen Unterschied, weil sie nichts an der Tatsache ändert, dass momentan 13.000 Menschen auf der Straße leben und jetzt in ein neues Camp gezwungen werden.
Erleben Sie auch Solidarität von den Insulaner*innen?
Es gibt große Soli-Strukturen hier und Leute, die vor Ort organisieren, kochen und Essen verteilen. Es wäre auf jeden Fall der falsche Eindruck, wenn man nur die abweisenden und teilweise rechtsgesinnten Anwohner*innen nennen würde.
Die gibt es aber auch.
Genau. Und als Organisation, die Menschenrechte beobachtet, bekommen wir das täglich zu spüren. Vor drei Tagen saßen wir in einem Café und haben miterlebt, wie ein Geflüchteter aus Afghanistan von fünf Menschen mit Motorrollern und Fahrrädern verfolgt wurde. Sie haben ihn bezichtigt, eine Tasche geklaut zu haben und haben ihn auf den Boden gedrückt. In Wirklichkeit wollte er nur zum Arzt gehen, weil sein neugeborenes Kind krank war. Dann haben sie das Café belagert und uns vorgeworfen, „einen Kriminellen“ zu schützen. Die Situation musste anschließend von der Polizei aufgelöst werden.
Diese Art von „Selbstjustiz“ sieht man oft. Neben rechtsextremen Straßenblockaden wurden auch mehrere Autos von freiwilligen Helfer*innen auf der Insel demoliert. Auch gegen unsere Organisation gibt es konkrete Bedrohungen: In einem Podcast aus Athen wurden wir explizit erwähnt. Dort wurde behauptet, die Polizei hätten Drogen auf unserem Schiff gefunden. Sie haben uns auch dafür verantwortlich gemacht, die Geflüchteten anzustacheln, also quasi die politische Motivation hinter den Bränden zu sein. Das ist nicht nur falsch, sondern spricht den Geflüchteten auch eine aktive politische Rolle in dem Konflikt ab.
Wie reagiert die Polizei auf die rechtsextreme Szene vor Ort?
Es lässt sich schon relativ klar sagen: Es gibt eine Verschränkung von griechischen Autoritäten und der faschistischen Szene auf dieser Insel. Es gibt Leute hier, die bei der Polizei arbeiten und eine politische Gesinnung haben, die man als faschistisch einstufen kann. Das haben wir selber auch schon erlebt. Unser Schiff wurde von der Kriminalpolizei durchsucht und es wurde sehr deutlich, dass es eine klare politische Motivation dahinter gab, die sich mit faschistischen Gruppierungen hier auf der Insel deckt. Die Behinderung von unserer Arbeit ist natürlich auch für die griechischen Behörden ein Politikum. Und die Regierung, die momentan in Griechenland an der Macht ist, setzt einen deutlich anderen Ton als die Syriza-Regierung davor.
Sind andere rechtsextreme Akteure aus Europa angereist?
Es reisen regelmäßig auch rechtsextreme Akteure nach Lesbos. Ob sich das seit dem Brand vermehrt hat, lässt sich für uns schwer sagen. Vor einiger Zeit war es allerdings sehr ausgeprägt, dass Leute von der „Jungen Alternativen“ und der „Identitären Bewegung“ sowie Rechtsextremen aus vielen anderen Ländern angereist sind und hier versucht haben, Anschluss zu finden – mehr oder auch mal weniger erfolgreich. Es gab beispielsweise auch den Vorfall, dass sie wiederum selbst von griechischen Nazis angegriffen worden sind. Die genaue Situation ist allerdings sehr undurchsichtig und schlecht dokumentiert.
Im März übergoss ein wütender Mob Rechtsextremer das Deck Ihres Schiffes mit Benzin und drohte, es anzuzünden, wenn Sie nicht verschwinden. Trotzdem sind Sie noch da. Haben Sie keine Angst?
Die Lage hat sich seitdem nicht unbedingt entspannt. Wir sind aus diesem Grund auch momentan nicht auf dem Schiff, sondern in der Hafenstadt Mytilini und machen unser Monitoring auf Land. Wir bekommen sehr konkrete Drohungen gegen das Schiff,, das momentan in einer Bucht steht. Wir hatten dabei auch große Probleme, nach diesem Angriff einen Hafen zu finden, der unser Beobachtungsschiff „Mare Liberum“ aufnehmen will. Das Schiff hat dennoch eine sehr große symbolische Kraft, weil sich viele NGO-Schiffe in den letzten Jahren zurückgezogen haben. Es ist sehr sichtbar. Wir lassen uns aber weder von den Behörden noch von Faschisten einschüchtern. Aber klar, es gibt auch Grenzen für uns als Organisation.
Was fordern Sie in der Zwischenzeit als Organisation von der EU?
Wir fordern eine strukturelle und solidarische Lösung, die nicht immer wieder das gleiche Problem reproduziert. Das Feuer ist natürlich ein besonders medienwirksames Ereignis gewesen. Aber wenn es nicht ein grundsätzliches Umdenken im Umgang mit Geflüchteten an der EU-Außengrenze gibt, dann wird es immer wieder zu solchen Bildern kommen. Wir erhoffen uns auch von der Europäischen Union, aber speziell in unserem Fall auch von der deutschen Bundesregierung, eine Ermöglichung unserer Arbeit. Im Moment wird unsere Arbeit vom deutschen Staat durch die Änderung der Schiffsicherheitsverordnung verhindert. Wir können im Moment weder mit unserem Boot ausfahren, noch unserer Tätigkeit als Menschenrechtsmonitoring-Organisation an der griechisch-türkischen Grenze nachgehen. Das muss sich ändern. Es geht hier um die Dokumentation fundamentalen Unrechts.
Vielen Dank für das Gespräch!