Gewalttätiger Rechtsextremismus ist nur eine Überraschung für Menschen, die sich nicht mit dem Thema auseinandersetzen (müssen). Er hat eine langjährige Tradition in Deutschland (vgl. 1945-heute und detailliert 2015-2019), ebenso wie gruppenbezogene Diskriminierung, Ausgrenzung und Angriffe – nicht nur durch Rechtsextreme, sondern auch aus der so genannten Mitte der Gesellschaft. Wer es anschaulich möchte: Wir haben vor einer Woche einen Zeitstrahl zu einer Auswahl der rechtsextremen, rassistischen, islamfeindlichen und antisemitischen Ereignisse der letzten 10 Jahre veröffentlicht, die zu dem gesellschaftlichen Zustand geführt haben, den wir heute erleben.
Seit 1990 wurden 208 Menschen ermordet – zumindest ist das die Zahl der Fälle, die uns bekannt ist.
Die rassistischen, islamfeindlichen, antisemitischen, antiziganistischen, homo- und transfeindlichen Übergriffe und Bedrohungen im deutschen Alltag sind so zahlreich, dass sie nicht einmal irgendwo zentral erfasst werden. Wir versuchen uns an einer monatlichen Übersicht der pressebekannten Fälle.
https://www.belltower.news/lexikon/chronik/
Es gibt nur wenige Tage pro Monat, in denen es keine entsprechenden Meldungen gibt – auch wenn viele Vorfälle gar nicht mehr von der Polizei an die Presse gegeben werden. Für 2018 zählt das Innenministerium zum Beispiel fast 2.000 Fälle nur für flüchtlingsfeindliche Gewalt, also mehr als fünf Übergriffe am Tag. Nur über die wenigsten wurde berichtet.
Und jetzt?
Aktuell ist eine weitere Verschärfung der Situation zu spüren. Drei Attentate mit Todesopfern in weniger als 12 Monaten in Deutschland gab es seit den 1990er Jahren nicht.
Eine Ursache könnte sein, dass sich Rechtsextreme durch die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland, dem Internet und den sozialen Netzwerken bestärkt fühlen, ihrem rassistischen, islamfeindlichen, antisemitischen, antiziganistischen Hass auch Taten folgen zu lassen. Bestärkend wirkt hier die oft fehlende Strafverfolgung, die den Tätern das Gefühl gibt, frei agieren zu können oder gar auf die Zustimmung einer angeblichen „schweigenden Mehrheit“ setzen zu können.
Eine Ursache könnte auch sein, dass Menschen, die im Internet vor allem die Inhalte rechtsradikaler sogenannter „Medien“, Gruppen, Parteien konsumieren, durch die permanente Bespielung mit (angeblichen) Gewaltvorfällen, (angeblich) unfähigen Politiker*innen und (angeblichem) Traditionsverfall nicht nur empört werden, sondern unter Handlungsdruck geraten. Sie haben vielleicht schon rechtsradikale Parteien gewählt, es hat sich aber scheinbar nichts geändert – dann scheint ihnen nur Gewalt zu bleiben.
Wenn Sie dann schon in rechtsextremen Zusammenhängen vernetzt sind, verstehen sie ihre Taten als Akzelerationismus, der den Untergang der Demokratie in Deutschland einläuten und beschleunigen soll. Jede Tat ist eine Botschaftstat, die weitere Attentäter ermutigen soll, in ihren lokalen Kontexten aktiv zu werden – und die auch auf Radikalisierung in anderen Milieus, etwa in muslimischen Communitys zielt. Käme es dann zu islamistisch motivierten Anschlägen, so hoffen die Rechtsextremen, könnten rechtsextreme und rassistische Ansichten mehr Zuspruch in der Bevölkerung erhalten und schließlich zum Zusammenbruch der Demokratie führen.
Was folgt daraus?
Der Repressionsdruck der Strafverfolgung muss steigen
Jahrzehntelang haben Verfassungsschutz und Strafverfolgungsbehörden die Gefahr durch Rechtsextremismus massiv unterschätzt. 482 Haftbefehle gegen Rechtsextreme sind aktuell nicht vollstreckt. Dazu kommen diverse rechtsextreme Gewalttaten etwa gegen Geflüchteten-Unterkünfte, bei denen keine Täter ermittelt werden, ohne dass die Öffentlichkeit dies auch nur erfährt. Bei der rechtsextremen Anschlagsserie in Berlin-Neukölln laufen von 55 Strafanzeigen noch 3, alle anderen wurden wegen Geringfügigkeit eingestellt. Digitale Hasskriminalität wird aktuell kaum verfolgt und abgeurteilt: Es fehlt an Personal mit Spezialisierung und Kenntnissen in Polizeien und Staatsanwaltschaften. Oft kommt es gar nicht zu Verurteilungen oder Strafen, weil auch hier wegen Geringfügigkeit eingestellt wird. Der Neuentwurf zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz wird daran kaum etwas besser machen, wenn er nicht angemessen personell unterfüttert wird.
Auch der Repressionsdruck innerhalb der Strafverfolgungsbehörden muss steigen. Die rechtsextremen Mitarbeiter*innen in Polizeien häufen sich ebenso wie Richter*innen, die für rechtsradikale Parteien kandidieren. Trotzdem werden noch keine sichtbaren Konsequenzen daraus gezogen, dass in diesen Berufssparten die Tendenz zu einer rassistischen Radikalisierung oder einem vorurteilsgeleiteten Handeln besonders groß scheint. Es gibt nur in wenigen Bundesländern unabhängige Polizeibeauftragte, an die sich etwas Polizist*innen wenden können, wenn sie eine demokratiefeindliche Orientierung oder auch Praxis bei Kolleg*innen bemerken. Sie einzurichten könnte ein erster Schritt sein, Rechtsextremismus in der Polizei zu bekämpfen.
Motiv klar benennen
Es ist wirklich nicht zu viel verlangt, dass Politiker*innen und Medien das Wort „Fremdenfeindlichkeit“ aus ihrem Vokabular streichen. Es geht nicht um „Fremde“, die angegriffen werden. Das Attentat erfolgte aufgrund einer abwertenden Gruppenzuschreibung aufgrund von äußerlichen Merkmalen. Das ist Rassismus. Er trifft, wie im Attentat geschehen, deutsche und nicht-deutsche Menschen, weil das den Täter gar nicht interessiert. Aufgrund seiner rassistischen Weltsicht reicht ihm ein seiner Ideologie nach „nicht-deutsches“ Aussehen, um seine Opfer zu wählen. Dabei schreibt er ihnen aufgrund der äußerlichen Merkmale weitere Eigenschaften zu, etwa eine religiöse Einstellung. So kommt auch Islamfeindlichkeit hinzu – aber grundlegend ist die Motivation rassistisch. Wenn wir dies nicht klar aussprechen, können wir den Rassismus in der gesamten Gesellschaft auch nicht bearbeiten.
Keine Einzeltäter – Netzwerke aufklären
Dazu gehört auch: Rechtsextreme Attentäter sind in Zeiten der Internetvernetzung niemals mehr Einzeltäter, aber auch vorher waren sie es sehr selten. Sie haben zumindest virtuelle Kontakte zu Gruppen und Ideologien, denen sie sich intensiv verbunden fühlen, für die sie diese Tat ausführen, von denen sie angespornt werden. Wir müssen diese Netzwerke erkennen, benennen und ihnen entgegentreten – denn sie wirken weiter, auch wenn der Täter verhaftet wird oder stirbt. Diese Netzwerke nicht zu betrachten, führt zu einer Kontinuität des rechtsextremen Aktivismus trotz Partei- oder Organisationsverboten, Verhaftungen, Prozessen. Bestes Beispiel ist der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU), der auf ein weitaus größeres Unterstützer*innen-Netzwerk zurückgreifen konnte als die fünf Personen, die im Prozess vor Gericht standen. Es ist bis heute verbunden und kann nicht einmal aufgeklärt werden, weil zentrale Geheimdienstakten etwa gerade in Hessen für 120 Jahre gesperrt wurden.
Solche mangelnde Aufklärung über Netzwerke können wir uns gesellschaftlich nicht mehr leisten. Zumal, wenn der Verdacht besteht, dass auch Mitarbeiter*innen von Polizei und Verfassungsschutz die Rechtsextermen unterstützen oder sogar federführend sind.
Die Ächtung des Rechtsextremismus und Rassismus in der Gesellschaft muss steigen
Wenn wir nicht wollen, dass Rassist*innen in Deutschland Menschen ermorden, müssen wir als Gesellschaft uns deutlich gegen Rechtsextremismus und Rassismus aussprechen, statt selbst mit Ressentiments Politik zu gestalten, Medienschlagzeilen zu machen, Produkte zu verkaufen oder Klicks zu generieren.
Demokratische Politiker*innen müssen aufhören, „rechte Ränder“ einfangen zu wollen, indem sie selbst Rassismus und gesellschaftliche Spaltung praktizieren („Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ u.ä.). Sie müssen aufhören, mit rechtsradikalen Parteien wie der AfD paktieren zu wollen.
Wähler*innen müssen aufhören, rassistische, islamfeindliche, völkisch-nationalistische Parteien zu wählen – wenn sie sie wählen, bekommen sie genau diese Politik, die auch den Legitimationsboden schafft für Gewalt und Attentate.
Medien müssen aufhören, Rechtsradikalen, Islamfeinden und Demokratiefeinden wie der AfD permanent ein Podium zu bieten, sie in Talkshows einzuladen oder sie gar nach rechtsextrem motivierten Attentaten zu interviewen.
Die AfD kann sich ihre Beileidsbekundungen nach Hanau sparen. Wer seit Jahren eine Politik macht, die gegen Minderheiten, Muslim*innen, Migrant*innen, politisch Andersdenkende agitiert, ihnen Menschen- und Grundrechte abspricht, sie verbal entmenschlicht und attackiert, der muss nicht so tun, als habe er nicht geahnt, dass dies Anhänger*innen auch als Gewaltaufruf verstehen könnten.
Solidarität für die Angehörigen der rassistischen Attentate sollte mehr sein als ein Moment des Gedenkens ohne weitere Konsequenzen. Wir alle müssen im Alltag Rassismus, Islamfeindlichkeit und Antisemitismus widersprechen, wo immer wir auf solche Abwertungen stoßen. Wir müssen reagieren als Einzelpersonen, als Unternehmen, als Organisationen. Wer menschenfeindliche Aussagen für öffentlich äußerbar hält, muss auf Gegenrede stoßen, die zeigt, dass der Großteil der Gesellschaft nicht so denkt – im Verein, in der Familie, auf der Arbeit, am Stammtisch und im Internet. Wir müssen auch unsere eigenen Vorurteile hinterfragen und wo sie unser Handeln beeinflussen. Und den Gruppen, die von Hass betroffen sind zuhören und ihre Kritik an gesellschaftlicher Praxis ernst nehmen.
Und um Radikalisierung zu erkennen, brauchen wir eine aufmerksame Zivilgesellschaft – offline und online.
Vergleiche:
„Unsere Trauer ist gepaart mit unendlicher Sorge: Denn wir wissen, dass das Klima des rassistischen und antisemitischen Hasses, das durch die parlamentarischen Wegbereiter und Apologeten rechten Terrors und durch sehr viele Schreibtischtäter geschürt wird, weitere Täter und Tätergruppen ermutigen wird, die sich als Teil einer internationalen rassistischen Bewegung der White Supremacy begreifen“, betont Robert Kusche, Vorstandsmitglied des VBRG e.V. und Geschäftsführer der Opferberatung der RAA Sachsen. „Wir wissen, dass täglich drei bis vier rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Gewalttaten verübt werden. Und wir wissen, dass viele der Angegriffenen mit einer rassistischen und antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr konfrontiert sind, bei denen Polizeibeamte und Justiz den Betroffenen eine Mitschuld geben. Wir brauchen jetzt den Schutz der offenen Gesellschaft und aller Menschen, die hier leben, unabhängig von vermeintlicher Herkunft, religiöser Überzeugung, Zugehörigkeit, gesellschaftlichen Status, Beeinträchtigung und Geschlecht“, sagt Robert Kusche. „Politik und Strafverfolgungsbehörden müssen Rassismus und rechten Terror endlich ernst nehmen – dabei müssen die Perspektive der Angegriffenen und Bedrohten, ihre Forderungen und Erfahrungen im Mittelpunkt stehen! Dazu gehört auch, statt von Einzeltätern zu reden, endlich bewaffnete Neonazinetzwerke zu entwaffnen.“
Pressemitteilung des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V.
„Wenn ständig gesagt wird, der Islam gehört nicht zu Deutschland. Wenn man immer so tut, als gehört jemand, der hier lebt, arbeitet, Steuern zahlt – als gehöre der nicht wirklich dazu, dann schafft man eine Situation, in der andere den Gedanken zu Ende denken. Dann nehmen Leute die Waffe in die Hand und sagen: ‚Wenn die nicht zu Deutschland gehören, dann vollstrecke ich mal den Willen der Politik‘.“ Ständig werde das Thema Islam und Flüchtlinge aufgegriffen, „als hätten wir keine anderen Sorgen. Wenn man nicht aufpasst, wenn man nicht auf die eigene Rhetorik achtet, dann darf man sich nicht wundern.” (…) “ Die Menschen, die den Preis dafür zahlten, seien Juden, Muslime, Flüchtlinge, Obdachlose. „Weil es in der Regel nur Minderheiten betrifft, ist es einem großen Teil des Landes einfach wurscht. Wir nehmen für wenige Tage die Morde wahr – die tägliche Ausgrenzung dieser Menschen erleben wir gar nicht. (…) Das Wertefundament unserer Gesellschaft erodiert mit jeder Tat, wird jeden Tag ein bisschen brüchiger, geht kaputt.“
Anwalt Mehmet Daimagüler im Interview mit n-tv
Farhad Dilmaghani, Stephan J. Kramer und Matthias Quent: Wir brauchen einen Masterplan gegen Rechtsextremismus