Am 12. Mai fand in Wurzen ein Fußballspiel zwischen „ATSV Frisch auf Wurzen“ und dem Verein „Roter Stern Leipzig“ (RSL) statt. Trotz siebter Liga war es ein „Sicherheitsspiel“. In Wurzen etabliert sich seit geraumer Zeit eine gewaltbereite Neonazi-Szene, der gegnerische Verein, RSL, begreift sich hingegen als dezidiert antifaschistisch – genügend Grund für die Polizei das Spiel von Samstag auf Sonntag zu verschieben, um mit genügend Einsatzkräften für Sicherheit zu sorgen. Viele Fans, die an diesem Sonntag im Gästgeberblock standen, kämen nur einmal im Jahr zu einem Wurzen-Spiel, eben zu jenem gegen den „Roten Stern“, so Daniel Weist, Präsident von „Frisch auf Wurzen“, gegenüber der LVZ . Dass sie lediglich zu diesem Spiel kommen, liegt wohl daran, dass die Neonazis die sportlichen und gleichzeitig politischen Gegner*innen einschüchtern und ihren Machtanspruch im Ort demonstrieren wollen. Nachdem der Polizeieinsatz während des Spiels auch aus Sicht des RSL überwiegend als positiv zu bewerten ist, da der Schutz der Leipziger Fans gewährleistet werden konnte, entlud sich die Gewalt am frühen Abend auf das Vereinsgebäude des „Netzwerk für demokratische Kultur e.V.“.
Rund 40 der anwesenden Neonazis im Stadion waren einheitlich in schwarz gekleidet. Unter den Schwarzgekleideten sollen sich auch viele Neonazis aus den Fanreihen des 1.FC Lok Leipzig befunden haben, so der Journalist Sören Kohlhuber. Die Neonazis grölten bedrohliche Parolen wie „Ohne Bullen wärt ihr alle tot!“. Unter ihnen soll laut Kohlhuber auch Toni Kurt Bierstedt gewesen sein. Bierstedt, ehemals Schiedsrichter und Spieler bei „Frisch auf Wurzen“, ist mittlerweile Listenkandidat der Bürgerinitiative „Neues Forum Wurzen“ (NFW), die am 26. Mai zur Kommunalwahl antritt. Auf Listenplatz fünf findet sich hier auch der umtriebige Wurzener Benjamin Brinsa wieder. Brinsa gilt als zentrale Person der Neonaziszene zwischen Wurzen und Leipzig. Der bekennende Hooligan vom 1. FC Lokomotive Leipzig ist als MMA-Kampfsportler aktiv. Er war Mitglied der rechten Ultragruppe „Scenario Lok“, von denen einige Mitglieder am Überfall auf den Leipziger Stadtteil Connewitz 2016 beteiligt waren. Brinsa gilt als äußerst gewaltbereit und gut vernetzt.
Wahlkampf des „Neuen Forum Wurzen“ richtet sich gegen das NDK
Als Hauptgegner macht die Bürgerinitiative „Neue Forum Wurzen“ das NDK aus, das sich vor Ort für eine demokratische Kultur einsetzt und immer wieder auf rechtsextreme Strukturen in der Region aufmerksam macht. Daher wird es wohl kaum Zufall gewesen sein, dass die Neonazis am Sonntagnachmittag gerade dieses Demokratiezentrum angriffen.
Nach Spielende gegen 16:45 Uhr zogen die Neonazis offenbar gemeinsam zum Wurzener Bahnhof, wo sie sich unter Beobachtung der Polizei versammeln konnten, um von dort gemeinsam unter „A.C.A.B.“ (all cops are bastards)-Rufen in die Innenstadt und zum Domplatz 5 zu ziehen, dem Vereinssitz des NDK. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie etwa 10 bis 15 Neonazis das Gebäude mit Flaschen attackieren und Kameras zerstören. Zur Tatzeit befand sich glücklicherweise niemand im Gebäude.
Neonaziangriff trotz Polizeipräsenz?
Nun fragt man sich, wie die Gruppe das NDK-Gebäude angreifen konnten, wo doch massive Polizeipräsenz vor Ort war. Uwe Voigt, zuständiger Pressesprecher der Polizei, erklärte gegenüber Belltower.News, dass die über 50 Einsatzkräfte zur Sicherung des Spiels und nicht zum Objektschutz vor Ort gewesen seien. Zur Tatzeit sei der Polizeieinsatz bereits beendet gewesen. NDK-Geschäftsführerin Martina Glass zeigt dennoch Unverständnis darüber, wie kurz nach einem Risikospiel Neonazis das Gebäude offenbar unbehelligt angreifen konnten.
„808-Crew“: Etablierung einer freien Kameradschaft in Wurzen?
Erkenntnisse darüber, wer die Angreifer*innen waren, hat die Polizei bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mitarbeiter*innen des NDK und weitere Szene-Beobachter*innen vermuten hinter der Attacke jedoch auch Personen aus einer neuen freie Kameradschaft aus der Region. Sie nennt sich „808-Crew“ und besteht größtenteils aus Jugendlichen und jungen Männern aus Wurzen und den umliegenden Dörfern. Ingo Stange vom NDK schätzt diese Gruppe auf etwa 50 Personen, größtenteils im Teenageralter, „von denen die meisten zwar noch kein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben, sich aber offenbar von örtlichen Szenegrößen angesprochen fühlen.“ Der Gruppe kann neben verbalen und körperlichen Attacken mutmaßlich auch Sachbeschädigungen und antisemitische Graffitischmierereien in Wurzen zugerechnet werden, meint das NDK. Dieser Gruppe geht es um ein dominantes Männlichkeitsbild. Bei ihnen steht ein Ideal von männlicher Stärke im Vordergrund und dazu gehöre ein gestählter Körper. Da passt es, dass der Gruppe die Nähe zur professionellen, rechten Kampfsportgruppe „Imperium Leipzig“ nachgesagt wird.
LGBTQ-Veranstaltung am Freitag in Wurzen
Am kommenden Freitag, den 17. Mai veranstaltet unter anderem das NDK auf dem Marktplatz in Wurzen einen Rainbowflash. Im Rahmen des Internationalen Tags gegen Homo-, Bi-, Trans*- und Inter*feindlichkeit (IDAHIT*) soll in dieser Woche Sichtbarkeit von Geschlechtervielfalt geschaffen werden. Ab 17 Uhr beginnt der Rainbowflash inklusive Redebeiträgen in Wurzen.
Zeitgleich hat nun jedoch auch das „Neue Forum Wurzen“ zum „politischen Dämmerschoppen“ auf den Markt geladen. Mitarbeiter*innen des NDK nehmen mit Besorgnis wahr, dass regional in rechtsextremen Kreisen für diese Veranstaltung geworben wird, auch mit Verweis darauf, dort ein „paar Schwule zu boxen“.
Auch in Wurzen: Kein ruhiges Hinterland für Neonazis
In Wurzen etabliert sich seit geraumer Zeit eine äußerst aktionsbereite junge Neonazi-Szene. Im Dezember 2018 sollen sie einen migrantischen Mitschüler zusammengeschlagen haben und in der Silvesternacht drei Menschen angegriffen haben. In einem Ort wie Wurzen mit rund 16.000 Einwohner*innen ist eine Einrichtung wie das „Netzwerk für Demokratische Kultur e.V.“ umso wichtiger. Daher der Aufruf an Menschen aus der Region: Wenn ihr könnt, fahrt am Freitag nach Wurzen, unterstützt die Aktion zum internationalen Tag gegen Homofeindlichkeit und zeigt den Neonazis dort, dass es auch für sie auch kein ruhiges Hinterland gibt.