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Schwerpunkt Rechtsterrorismus Neuköllner Anschlagsserie – Täter bleiben frei, Strukturen aktiv

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Das Familienhaus von Ferat Kocak: Im Februar 2018 verübten Neonazis hier einen Brandanschlag, während Kocak und seine Eltern schliefen.
Das Familienhaus von Ferat Kocak: Im Februar 2018 verübten Neonazis hier einen Brandanschlag, während Kocak und seine Eltern schliefen. (Quelle: Ferat Kocak)

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Kurz nach einem Sicherheitsgespräch beim Berliner Landeskriminalamt Ende Januar 2021 vibriert das Handy von Ferat Kocak. Er liest die SMS und hat Angst. Eine Drohung, nicht die erste, doch eine ernstzunehmende: Er werde beobachtet, solle „nichts Undeutsches“ machen, ansonsten wisse man ja nie, was so alles geschehen könne. Kocaks Angst ist berechtigt, denn der Neuköllner Lokalpolitiker der Linken und antifaschistische Aktivist weiß sehr gut, „was so alles geschehen kann“: In der Nacht zum 1. Februar 2018 verübten Neonazis einen Brandanschlag auf Kocak. Um drei Uhr morgens wurde sein Auto angezündet, die Flammen gingen über auf das Haus, erreichte fast die Gasleitung nebenan. Wäre Kocak nicht aufgewacht, wären er und seine Familie womöglich ums Leben gekommen.

Ein Jahr lang hatten die mutmaßlichen Täter Kocak zuvor ausgespäht. Zwei Wochen vor dem Anschlag sollen Sebastian T., bis Ende 2016 NPD-Kreisvorsitzender in Neukölln, und Tilo P., ein damaliges Vorstandsmitglied der Neuköllner AfD, ihn auf einem Parteitreffen in einem Café beobachtet und nach Hause verfolgt haben. So kamen sie an seine Wohnadresse in Südneukölln. Das geht aus Ermittlungsakten hervor, denn die beiden Neonazis wurden zu diesem Zeitpunkt vom Verfassungsschutz observiert. Gewarnt wurde Kocak nicht. Die behördliche Floskel kennt man schon vom NSU-Komplex: „Quellenschutz vor Opferschutz“.

Seitdem ist seitens der Behörden erstaunlich wenig passiert: Die Ermittlungen laufen schleppend, sind eher von Skandalen und Pannen als von Erfolgen geprägt, der große Durchbruch bleibt aus. Selbst eine 30-Beamt*innen starke Sonderkommission, die „Soko Fokus“, brachte keine Ergebnisse. Deutlich aktiver sind hingegen die mutmaßlichen Täter selber: Seit Mai 2016 wurden 73 rechtsextreme Taten im Bezirk registriert, darunter mindestens 23 Brandanschläge. Fenster werden eingeschlagen, Hakenkreuze gesprüht, Autos angezündet: Das antifaschistische Dokumentationsprojekt „acoabo“ hat rechte Gewalt im Bezirk seit 2016 auf einer interaktiven Karte dargestellt – ein Stadtplan des Terrors.

Die Betroffenen, beinahe ausschließlich Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, reden von einer regelrechten Terrorserie. Eine von ihnen ist die Sozialarbeiterin Christiane Schott. Bereits im November 2011 flog ein Pflasterstein durch das Schlafzimmerfenster ihrer Tochter, sechs Monate später explodierte ihr Briefkasten, später noch wurden Autoreifen zerstochen. Schott ist von den Ergebnissen der Ermittlungen enttäuscht. Dem rbb sagte sie: „Sie danken uns für unser Engagement, ja. Aber die Indizien reichen nicht aus, um diese Menschen zu verhaften.“ Oder es gibt Heinz Ostermann, Betreiber der Neuköllner Buchhandlung Leporello, dessen Ladenscheiben 2016 eingeworfen und dessen Auto angezündet wurde. Dank Crowdfunding konnte Ostermann sich ein neues Auto kaufen, das allerdings ebenfalls angezündet wurde – in der Nacht zum 1. Februar 2018, die gleiche Nacht, in der Ferat Kocak auch zum Opfer der rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln wurde. Der 34-jährige Sebastian T. und der 37-jährige Tilo P. sowie der vorbestrafte Neonazi Julian B. gelten zwar als Hauptverdächtige für die Anschlagsserie, die Erkenntnisse der Behörden reichen aber für eine Verhaftung nicht aus.

Feindeslisten und viele Fragen

Doch Beweise gibt es schon, zahlreiche sogar: Beide Neonazis wurden auch 2017 auf frischer Tat ertappt, nachdem sie Parolen wie „Mord an Heß“ (mit SS-Runen geschrieben) und mit einer Schablone das Konterfei des Hitler-Stellvertreters gesprüht haben. Sie müssen sich wegen Sachbeschädigung und der Verwendung von verfassungsfeindlichen Kennzeichen vor Gericht verantworten, die Verhandlungen dauern noch an. Im Februar 2018 kam es zu einer Hausdurchsuchung bei Sebastian T. Ein Rechner wurde beschlagnahmt, auf dem Ermittler*innen zunächst eine mutmaßliche Feindesliste mit 30 Namen und Adressen, darunter Antifa-Aktivist*innen, Politiker*innen, Journalist*innen und Polizeibeamt*innen, fanden. Personen, die zum Teil schon Opfer von Anschlägen und Schmierereien wurden. Erst anderthalb Jahre später, im November 2019, stießen Ermittler*innen auf einen weiteren Datensatz auf dem Computer mit Informationen zu rund 500 Personen. Die Datei war im Papierkorb.

Betroffene haben viele Fragen: Wie kamen die Neonazis an die Adressen ihrer Opfer? Wurden die Daten von Polizeicomputern abgefragt? Gibt es rechtsextreme Netzwerke in der Berliner Polizei? Welche Informationen zu den Ermittlungen haben Polizist*innen an Neonazi-Kreise in Neukölln weitergegeben? Welche Strukturen begünstigen rechte Straftaten und verhindern deren Aufklärung? Hat der Verfassungsschutz hier eine besondere Rolle gespielt, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen darf? Hat der Verfassungsschutz sogar aktive V-Personen im Umfeld der mutmaßlichen Täter? Antworten auf diese Fragen gibt es bislang wenige.

Es herrscht Stillstand in der Aufarbeitung des Neukölln-Komplexes, bis im August 2020 eine brisante Pressemitteilung der Generalstaatsanwaltschaft Berlin für bundesweite Schlagzeilen sorgt: Die Ermittlungen zur rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln werden von der Generalstaatsanwältin Margarete Koppers persönlich übernommen, die Ermittlungen neu aufgerollt. Der Grund für diesen ungewöhnlichen Schritt könnte eventuell erklären, warum Ermittler*innen bislang so wenig Erfolg verzeichnen konnten: Umstände seien zu Tage getreten, „die die Befangenheit eines Staatsanwalts als möglich erscheinen lassen“, so heißt es in der Pressemitteilung. Ein regelrechter, fast beispielloser Skandal in der Exekutive. Zwei Staatsanwälte werden mit sofortiger Wirkung aus den Ermittlungen zur Neuköllner Brandanschlagsserie abgezogen und in andere Abteilungen versetzt.

Bei einem der zwei Staatsanwälte geht es Medienberichten zufolge um den Leiter der Staatsschutzabteilung, Herr F., der für politisch motivierte Straftaten in Berlin zuständig ist. Staatsanwalt F. ist bekannt dafür, besonders hart gegen antifaschistischen Protest vorzugehen. Ihm wird nun eine Nähe zum Neonazi Tilo P. vorgeworfen. Auch Staatsanwalt S. soll davon gewusst haben und sei nicht eingeschritten. Konkret geht es um das Protokoll eines abgehörten Telefonats zwischen Tilo P. und Sebastian T., in dem P. behauptet, der Staatsanwalt F. habe ihm bei einer Vernehmung gesagt, er brauche sich keine Sorgen machen, da F. selbst AfD-Wähler oder AfD-nah sei. Ob es hier um eine wahre Tatsache oder eine wilde Behauptung geht, bleibt noch unklar. Klar ist allerdings: Die brisante Information wurde an Vorgesetzte nicht weitergegeben, sondern ist offenbar in den Aktenhaufen der Ermittlungen „verschwunden“. Dass diese Information nun endlich berücksichtigt wird, egal ob sie standhält oder nicht, und die Ermittlungen neu aufgerollt werden, gibt den Betroffenen Mut. Ferat Kocak sagt: „Ich habe ein Stück weit mehr Hoffnung. Es bewegt sich da endlich was.“

Mangel an Beweis

In den folgenden Monaten kommen in den Ermittlungen tatsächlich „viele Mosaiksteine zusammen“, wie es laut Tagesspiegel in Sicherheitskreisen heißt. Und sie ergeben offenbar ein genaueres Bild der Anschlagsserie. Denn am 23. Dezember 2020 kommt eine überraschende Wendepunkt im Fall: Tilo P. und Sebastian T. werden verhaftet. Der Vorwurf: Neben Brandstiftungen soll T. auch unrechtmäßig Corona-Soforthilfen für Selbstständige beantragt haben. Tilo P. darf die Untersuchungshaft wieder verlassen, Sebastian T. verbringt allerdings Weihnachten hinter Gittern und kommt erst nach einer Beschwerde beim Landgericht am 22. Januar 2021 wieder frei. In beiden Fällen reichen die Ermittlungsergebnissen für eine Inhaftierung nicht aus, so die 25. Strafkammer des Berliner Landgerichts. Doch die Staatsanwaltschaft will weiterhin Anklage gegen die beiden Neonazis erheben.

Eine Woche später, am 28. Januar, bekommt Ferat Kocak die Droh-SMS. Ein Zufall? Kocak ist seit dem Anschlag auf ihn zu skeptisch geworden, um daran zu glauben. „Warum kommt ausgerechnet jetzt die SMS, nachdem ich beim LKA war?“ Er vermutet, dass die Entlassung von Sebastian T. aus der Untersuchungshaft wenige Tage zuvor etwas damit zu tun haben könnte. Er fragt sich, ob ein*e LKA-Beamt*in Information an die Neonazi-Szene weitergab. Ob sogar Polizist*innen selber die SMS verschickten. Belege dafür hat er nicht, nur einen tiefsitzenden Verdacht: „Irgendwas stimmt hier nicht.“ Angesichts der Verwicklungen der Polizei in die „NSU 2.0“-Drohungen ist Kocaks Angst bereichtigt. Er informiert seine Anwältin und das LKA über die neueste Drohung.

Im vergangenen Jahr hat Kocak zehn solche SMS-Nachrichten bekommen, die letzte war von vor drei Monaten. „Sie wollen mir ein Signal geben: Dass sie mich nicht vergessen haben, dass ich unter Bedrohung stehe.“ Verschickt werden die SMS-Nachrichten über die Webseite „5vor12.de“, die es Nutzer*innen ermöglicht, kostenlos und anonym Nachrichten zu schicken. Auch Drohungen des „NSU 2.0“ an Politiker*innen und Prominente wurden von der Webseite verschickt. Auf eine Anfrage der Belltower.News-Redaktion reagierte die Betreiber*innen der Webseite nicht. Hinzu kommen nächtliche Anrufe mit Drohungen, daher schaltet Kocak abends sein Handy aus, er hat inzwischen eine andere private Nummer für Freund*innen und Familie. Warum er seine Nummer nicht einfach ändert? „Wenn ich eine neue Nummer habe, muss ich die auch wieder weitergeben: an die Presse, Aktivist*innen. Das würde mich in meiner politischen Arbeit extrem einschränken, weil ich sie einfach ständig ändern würde.“

Drei Namen, keine Strukturen

In Polizeimeldungen und Presseberichten werden immer wieder die Namen der mutmaßlichen Täter, Sebastian T., Tilo P. und Julian B., erwähnt. Doch Kocak warnt davor, nur auf wenige Individuen zu fokussieren, wie es Ermittler*innen offenbar bislang getan haben. Stattdessen plädiert er dafür, rechtsextreme Strukturen im Bezirk zu enttarnen und bekämpfen. Auch in den Behörden selber. Denn immer wieder gibt es Ungereimtheiten im Neukölln-Komplex, immer wieder treten Verstrickungen der Sicherheitsbehörden zu Tage.

So stand beispielsweise der Polizist Detlef M., der zum Polizeiabschnitt 65 in Treptow-Köpenick gehört, direkt an der Grenze zu Südneukölln also, wo sich ein Großteil der Anschlagsserie ereignete, in einer Telegram-Gruppe und via Email mit Tilo P. in Kontakt, wie die taz berichtete. Beide Männer waren zu diesem Zeitpunkt Mitglieder der Neuköllner AfD (nach einem Parteiausschlussverfahren hat P. die Partei inzwischen verlassen). Thema eines Austausches im Jahr 2016: Ob Tilo P. eine Veranstaltung in der Buchhandlung Leporello besuchen soll, jener Buchhandlung von Heinz Ostermann, die zehn Tage später angegriffen wurde. Auch eine illegale Datenabfrage im System der Polizei zu den Betroffenen der Anschlagsserie bleibt bislang unaufgeklärt. Kein Wunder also, dass Betroffene immer weniger Vertrauen in die Behörden haben, Ergebnisse zu liefern.

Auch die Strukturen hinter Sebastian T. und Tilo P. blieben in den Ermittlungen bislang weitgehend unbeleuchtet. Ein Fehler, findet Ferat Kocak: „Wenn diese Nazis endlich weg sind, rücken die nächsten einfach nach und terrorisieren uns weiter.“ Ein Blick in die politische Biografien zwei der Hauptverdächtigen zeigt tatsächlich, dass beide Neonazis bestens vernetzt sind. T. war Anfang der 2010er-Jahre ein führender Kader der mittlerweile aufgelösten Gruppe „Nationaler Widerstand Berlin“, bevor er bis Mai 2016 eine Haftstrafe absitzen musste. Auch Tilo P. soll Medienberichten und antifaschistischer Recherche zufolge seit 2003 an gewalttätigen Neonazi-Übergriffen beteiligt gewesen sein. Nach der Entlassung von Sebastian T. aus dem Gefängnis wurde er bei einem Tresen der Neuköllner AfD im September 2016 mit P. gesichtet, wie Facebook-Fotos zeigen, die Belltower.News vorliegen.

Ein neues politisches Zuhause hat Sebastian T. aber nun offenbar bei der neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“ gefunden: Fotos, die Belltower.News vorliegen, zeigen T. mit einer Parteimütze, als er im Dezember 2020 Flyer und Propagandamaterial des „III. Weg“ in Briefkästen verteilt. Am 2. Februar 2021 kommt es erneut zu einer Flyeraktion der Partei in Neuköllns Schillerkiez, wie Nachbar*innen berichten. Dort wird Stimmung gegen Antifaschist*innen gemacht. Die Überschrift des Flyers könnte kaum ironischer sein: „Stoppt den linken Terror in Neukölln“. Während die Mitgliederzahlen der NPD abflauen und die Partei immer mehr politische Relevanz im rechtsextremen Spektrum verliert, unter anderem dank des Aufstiegs der AfD, wird „Der III. Weg“ für immer mehr Berliner Neonazis eine attraktive Option, wie die Teilnahme von etlichen ehemaligen NPD-Aktivist*innen an einem Aufmarsch der Partei „Der III. Weg“ am 3. Oktober in Berlin-Hohenschönhausen zeigt.

Ran an die Politik

Mittlerweile setzt sich Ferat Kocak wie viele Betroffene für eine parlamentarische Aufklärung des Neukölln-Komplexes ein. „Wir fordern einen Untersuchungsausschuss. Die Hintergründe sind uns wichtig.“ Die Parteibasis der Linken teilt diese Forderung, doch die Fraktion konnte oder wollte sie bislang nicht in einem Koalitionsvertrag mit ihren Regierungspartner*innen bei den Grünen und Sozialdemokraten festlegen. Auf eine Anfrage an Dr. Dirk Behrendt (Grüne), den Justizsenator Berlins, wollte sein Pressesprecher einen solchen parlamentarischen Ausschuss nicht bewerten. Eine Anfrage an Innensenator Andreas Geisel (SPD) blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Diesen Stillstand will Kocak ändern: Im September 2021 wird er für das Abgeordnetenhaus kandidieren, hat sogar gute Chancen, einen erfolgversprechenden Listenplatz zu bekommen. Als Direktkandidat kandidiert er in jenem Teil von Südneukölln, wo Neonazis ihn jahrelang ausspähten und attackierten. Er wirkt entschlossen, als er von seinen parlamentarischen Ambitionen erzählt: „Wenn der Innensenator diesen Untersuchungsausschuss nicht durchsetzen kann oder will, dann kommen wir Betroffene selber ans Abgeordnetenhaus und versuchen das selber durchzusetzen.“ Ob jede*r potenzielle Wähler*in seine konfrontative Art begrüßen wird? „Kann sein, dass manche sagen, er ist zu laut. Ich bin aber kein Bürokrat, sondern Aktivist. Und ich möchte diese Position als Abgeordneter nutzen, um soziale Bewegungen und antifaschistische Kämpfe zu unterstützen. Die Angriffe auf mich haben mich politisch noch aktiver gemacht.“

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