Aktuell erlebt Europa, wie sich der psychische Druck der Coronavirus-Pandemie mit Verschwörungsideologien und Menschenfeindlichkeit mischt und die Gewaltbereitschaft in verschiedensten demokratiefeindlichen Gruppen steigt. Bei den ideologisierten, gefestigten Gruppen hat die Strategie stetiger, erschütternder Attentate einen Namen: Akzelerationismus (vgl. Belltower.News). Gewalt und Anschläge sollen den Untergang der Welt, die wir kennen, und der Demokratie als System beschleunigen und vorantreiben. Aus den Trümmern soll dann, je nach Ideologie, ein islamistisches oder faschistisches Regime entstehen.
Akzelerationismus: Beliebt bei Islamisten und Rechstextremen
Tatsächlich inspirieren sich terroristisch planende Täter des Islamismus und Rechtsextremismus gegenseitig, teilen Anleitungen und Strategien auch der anderen Gruppen (vgl. Belltower.News, ISD/Julia Ebner). Beide Ideologien setzen nicht auf die Organisation der Gewalt, sondern auf fanatisierte Anhänger*innen, die selbstständig aktiv werden, wenn sie den Handlungszwang verspüren, den ihnen ideologische „Vordenker“ und „alternative“ Desinformations-„Medien“ beständig suggerieren. Die einzelnen Taten sind dabei nicht immer spektakulär – aber sie geben die tödliche Ideologie weiter.
Praktisch heißt das: Zur Bedrohung durch den tödlichen Virus, der sich die Welt gerade entgegenstellt, kommen terroristische Aktionen, die demokratische Systeme und Werte erschüttern sollen.
Vorfälle in Deutschland: Dresden, Berlin
In Deutschland wurden am 04. Oktober 2020 bei einem mutmaßlich homofeindlichen Angriff durch einen Islamisten in Dresden ein Mann getötet und sein Partner schwer verletzt (vgl. Belltower.News).
Am 25. Oktober 2020 gab es einen Brandanschlag auf ein Gebäude in Berlin-Mitte, nach Polizeiangaben mit einem Bekennerschreiben aus dem verschwörungsideologischen Coronaleugner-Umfeld. Das Ziel der Attacke ist noch unklar, könnte aber mit wissenschaftlicher Forschung zu tun haben (vgl. rbb). Am selben Tag hatten Coronaleugner bereits eine Außenstelle des Robert-Koch-Instituts mit einem Sprengsatz attackiert (vgl. Belltower.News).
Vorfälle in Frankreich: Paris, Nizza, Avignon
Frankreich wurde am 16. Oktober 2020 vom islamistisch motivierten Attentat auf den Lehrer Samuel Paty erschüttert, der von einem 18-Jährigen geköpft wurde, weil er im Unterricht über Meinungsfreiheit Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte (vgl. Spiegel). Während sich Frankreichs Ministerpräsident Emmanuel Macron bei der Trauerfeier für Meinungsfreiheit stark macht, kritisiert dies etwa der türkische Ministerpräsident Recep Erdogan – was wie eine Rechtfertigung der Gewalt wirkt.
Keine zwei Wochen später ereignen sich weitere terroristische Gewalttaten in Frankreich. In Nizza greift am 29. Oktober 2020 ein 21-jähriger Tunesier in der katholischen Basilika Notre-Dame Menschen mit einem Messer an. Zwei Frauen und der Küster der Kirche sterben, mindestens sechs weitere Menschen wurden verletzt. Eine 70-jährige Frau und der Küster sterben in der Kathedrale, eine 40-jährige Frau kann sich noch aus dem Gebäude retten, erliegt dann aber auch ihren Verletzungen (vgl. Spiegel). Auch hier hat der Täter offenbar versucht, alle Personen zu köpfen. Er trug u.a. einen Koran bei sich und rief während der Tat „Allahu akbar“ (vgl. RTL).
Als wenig später im Ort Montfavet bei Avignon eine weitere Gewalttat von der Polizei verhindert wird, berichten Medien in Frankreich zunächst von einem zweiten islamistischen Attentäter, der Passanten mit einer Pistole bedroht habe und von der Polizei erschossen worden sei. Im Laufe des Tages stellt sich allerdings heraus: Dieser zweite Täter war kein Islamist, sondern ein Anhänger der rechtsextremen „Identitären Bewegung“, die als „Génération Identitaire“ 2011 in Frankreich ihren Anfang nahm (vgl. Belltower.News) und dort weiterhin viele Anhänger*innen hat.
Avignon: Angreifer war „Idenititären“-Fan
Einer von ihnen war offenbar der 33-jährige, der mit einer Pistolen auf Passanten losstürmte, nach Zeugenaussagen darunter ein Schwarzer Taxifahrer. Weil er auf Polizeiansprache seine Waffe nicht fallen lassen wollte, schossen Polizisten schließlich, um eine Gewalttat zu verhindern. Der 33-Jährige Angreifer wurde tödlich getroffen und starb. Zur Tatausübung hatte er sich eine Jacke der „Identitären Bewegung“ angezogen (vgl. Independent, Ouest-France). Die Jacke gehörte zu einer rassistischen „Grenzschutz“-Aktion im Rahmen der Kampagne „Defend Europe“ 2018 von „Identitären“ vor allem aus Frankreich, Deutschland und Österreich in den Alpen (vgl. Belltower.News).
Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen bestätigt, dass es sich um die „Identitären“-Jacke handelt. Nach Berichten französischer Rechercheure und Journalist*innen soll der Täter sich auch in Sozialen Netzwerken zur „Identitären Bewegung“ bekannt haben. Die „Identitären Bewegung“ in Frankreich distanzierte sich – erwartbar – von dem Täter: Die Jacke sei im „freien Verkauf“ gewesen – ob das stimmt, ist noch unklar –, der Angreifer sei ihnen nicht bekannt.
vgl. IB Doku/Twitter: https://twitter.com/IbDoku/status/1321847527998693376
Die Verharmlosung der Ideologie zur „psychischen Krankheit“
Nachdem die Staatsanwaltschaft berichtet hatte, der Angreifer sei zuvor in psychiatrischer Behandlung gewesen, war dies das Narrativ, was etwa auch der Kopf der „Identitären“, Martin Sellner, übernahm: Der Angreifer sei kein „Identitären“-Fan, sondern psychisch krank. Interessanterweise war dies eine Argumentation, die auch in der medialen Berichterstattung übernommen wurde: Solange eine islamistische Motivation angenommen wurde, war von einer zweiten Terrorattacke die Rede. Als die rechtsextreme Motivation des Täters klar wurde, stand plötzlich die „psychische Erkrankung“ im Vordergrund. Die Staatsanwaltschaft stellte sogar explizit fest, dass hier kein terroristisches Motiv vorläge – obwohl die politische Motivation des Täters, der sich die Jacke einer rechtsextremen Gruppierung zu Tat anzieht, zumindest Grund für Ermittlungen geben sollte. In Deutschland wurde zuletzt angesichts der Attentate in Hanau ausführlich diskutiert, dass es sehr wohl gleichzeitig möglich ist, rechtsextrem ideologisiert zu sein und psychische Probleme zu haben: Tatsächlich gibt die politische Ideologie dem Wahn ein konkretes Ziel (vgl. Belltower.News).
„Identitäre“ und Terror
Für die „Identitären“ ist es nicht die erste Terrortat, die auf sie Bezug nimmt: Obwohl die Rechtsextremen immer wieder ihre „Friedfertigkeit“ betonen, haben sich auf ihre Verschwörungserzählung des „Großen Austausches“ u.a. der Attentäter von Christchurch (2019) und der Attentäter von Halle (2019) bezogen, der Attentäter von Christchurch hatte auch an die „Identitären“ gespendet.
Hassaufrufe im Internet radikalisieren bis zum Attentat
Französische Journalist*innen fanden im Telegram-Chat des französischen „Identitären“-Anführers Damien Rieu eine kurze Konversation mit einer noch unbekannten Person, in der diese ankündigte: „Denke darüber nach, eine Moschee mit einem Freund zu attackieren. Könnte so 2 bis 3 Tote bringen.“ Die knappe, aber nicht ablehnende Antwort: „Poste das nicht hier.“
In Frankreich riefen Rechtsextreme nach dem Mord an Samuel Paty wieder vermehrt zu islamfeindlicher Gewalt auf – auch in zahlreichen Postings und Videos auf Social Media. Dies kann zur Motivation und zum Gefühl des Handlungszwangs beitragen und damit Angriffe anregen.
Deutlich ist an dieser Stelle zu sehen, wie Gewalttaten von islamistischer und rechtsextremer Seite unmittelbar dazu beitragen, dass sich Diskurse verschärfen, Differenzierungen schwinden und damit der Akzelerationismus in vollem Gange ist. Wenn also Islamfeindlichkeit und rassistische Ausgrenzung nach einem islamistischen Anschlag wieder steigen, treibt dies wiederum mehr Menschen mit Diskriminierungserfahrungen den Islamisten zu. Helfen kann nur das Zusammenrücken aller demokratischen Kräfte, die entschlossen gegen Islamismus und Rechtsextremismus vorgehen, ohne dabei pauschal zu diskriminieren.
Das Titelbild wurde unter der Lizenz CC BY 2.0 veröffentlicht.