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NS-Gedenkstätte „Da ist eine Grenze überschritten worden.“

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Im Haus der Wannseekonferenz, einer NS-Gedenkstätte, wurde Ende April eine Ausstellung beschädigt. (Quelle: picture alliance / imageBROKER | Schoening)

Im Haus der Wannseekonferenz, einer Gedenkstätte am Ort der Planung der industriellen Massenvernichtung der Jüdinnen*Juden durch die Nationalsozialisten, wurde Ende April eine Ausstellung beschädigt. Es ist nicht der erste Vorfall seit dem Angriff der Hamas gegen Israel am 7. Oktober, erklärt Eike Stegen, Pressesprecher der Gedenkstätte. Ein Gespräch.

Belltower.News: Vor einem Monat wurden Teile der Ausstellung in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz zerstört. Was ist passiert?
Eike Stegen: Wir haben im ersten Stock eine Sonderausstellung zu antisemitischen Ereignissen nach 1945: „Skandal oder Normalität?“. Anlass war der 90. Jahrestag der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 2023. Dort wurden vor einigen Tagen Plakate zerstört. Einerseits Plakate, die sich gegen israelbezogenen Antisemitismus nach dem 7. Oktober positionieren. Auf denen wurde der abgebildete Davidstern und das Wort Israel vermutlich mit einem Schlüssel zerkratzt. Bei beiden Plakaten war es derselbe beigefügte Riss. Andererseits wurde ein Plakat komplett von der Wand gerissen, das an den Terroranschlag auf das jüdische Altenheim in München 1970 erinnerte.

Was macht das mit Ihnen?
Ich bin wütend, dass ausgerechnet dieses Plakat, mit einem Zitat der Shoah-Überlebende und heutigen Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, von der Wand gerissen wurde. Beim Anschlag im Altenheim verbrannten und erstickten sieben Shoah-Überlebende. Das Plakat war eine Art und Weise, diese Tragödie sichtbar zu machen.

Kommt so etwas öfter vor?
Wir erleben verhältnismäßig wenig Vandalismus, im Vergleich etwa zu anderen Gedenkstätten, aber regelmäßig wird zum Beispiel die Schrift in unserer Dauerausstellung entfernt, sodass Buchstaben oder Zahlen fehlen.

Die Gedenkstätte Sachsenhausen hat kürzlich bekannt geben, dass sie das Gästebuch wegen antisemitischer Kommentare nicht mehr auslegt. Geht es Ihnen auch schon so?
Auch in unserem Gästebuch kam es nach dem 7. Oktober zu kritischen Eintragungen. Am 16. Oktober, keine anderthalb Wochen nach dem Überfall der Hamas, wurde drei Mal „Free Palestine“ geschrieben. In einem Eintrag wurde auch die Karte „Palästinas“ gemalt, das dann vom Fluss bis zum Meer reichte. Israel existierte auf dieser Karte nicht. Teils antworten Besucher*innen auf Hebräisch mit „Am Israel Chai“, schreiben „Bring Them Home“ oder ergänzen „from Hamas“ unter „Free Palestine“. Es findet hier also eine richtige Auseinandersetzung statt. Die Eintragungen reagieren, denke ich, auf die genannte Sonderausstellung, die zum Beispiel auch das Schicksal eines Kollegen von Yad Vashem thematisiert, der seit dem 7. Oktober in Gaza als Geisel sitzt. Bis Ende des Jahres blieben das eine Handvoll Einträge. Seit ein paar Wochen häuft sich das stark.

Wie gehen Sie damit um?
Unterschiedlich. Solange es eine lebendige Form der Auseinandersetzung ist, lassen wir das stehen. Am 16. Oktober haben wir selbst darunter kommentiert. Wir beobachten das täglich, im Moment liegt das Buch noch aus. Aber: die genannte Karte haben wir entfernt. Da ist eine Grenze überschritten worden.

Erleben Sie vermehrt Anfeindungen seit dem 7. Oktober? Wird die Stimmung rauer?
Positionen stehen sich zunehmend unversöhnlicher gegenüber. Die Flut an Ereignissen und Übergriffen ist schon neu. Aber: Die Entwicklungen vor dem 7. Oktober haben das möglich gemacht. Ich denke etwa an den Umgang mit der Documenta oder Einlassungen während des sogenannten Historikerstreits 2.0. Hier wurde etwas normalisiert, was jetzt Alltag geworden ist.

Wie bekämpft man in einem Ort, der eine Gedenk- und Bildungsstätte für die Erinnerung an die Shoah ist, auch gegenwärtigen Antisemitismus?
Die Sonderausstellung ist so ein Versuch. Wir nehmen uns Zeit, auf Social Media wie vor Ort, um mit Expert*innen zusammen antisemitische Vorfälle ins Bewusstsein zu rücken, die oft übersehen werden. Im Mai 2023 haben wir auch eine große Konferenz zum Antisemitismus in Kunst und Kultur zusammen mit der Amadeu Antonio Stiftung, dem Zentralrat der Juden in Deutschland und dem American Jewish Committee ausgerichtet, „Alles von der Kunstfreiheit gedeckt?“. Zudem haben wir eine sehr große Bibliothek mit aktueller Literatur zu Antisemitismus. Die kann jede*r für Recherchen nutzen! Das zeigt: Wir sind als Gedenk- und Bildungsstätte klar positioniert, wir engagieren uns politisch, und bekämpfen damit auch gegenwärtigen Antisemitismus.

Eine kürzere Version dieses Interviews erschien zunächst in der Zeitung Jungle World.

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